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Veröffentlicht am 18.01.2019

Ein Sommer, wie er früher einmal war

Ostende
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Weidermann gelingt es, die kurzlebige Stimmung der Exilliteraten Joseph Roth, Stefan Zweig, Irmgard Keun und der anderen, die aus Nazideutschland geflohen, aber eigentlich noch nicht im dauerhaften Exil ...

Weidermann gelingt es, die kurzlebige Stimmung der Exilliteraten Joseph Roth, Stefan Zweig, Irmgard Keun und der anderen, die aus Nazideutschland geflohen, aber eigentlich noch nicht im dauerhaften Exil nagekommen sind. Dieser Sommer 1936 im belgischen ostende ist gleichzeitig so sehr in der Zeit verfangen, wie er aus ihr herausfällt. Mit Leichtigkeit lesen wir die Seiten, schauen wir den Menschen in die Herzen und Köpfe, obschon die gewaltigen Veränderungen des Krieges schon dräuen. Weidermanns größte Leistung für mich: dass ich auf einmal etwas von Irmgard Keun lesen möchte, die mir auch Schultagen so sehr verhasst war.

Veröffentlicht am 18.01.2019

Aber Leere kann man nicht auskotzen. Man muss sie füllen. (S. 289)

Leere Herzen
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Juli Zeh entwirft einmal mehr eine Dystopie, indem sie die besorgniserregenden Entwicklungen der Gegenwart nur ein Jahrzehnt weiterdenkt: Besorgte Bürger regieren ein politisch und gesellschaftlich desinteressiertes ...

Juli Zeh entwirft einmal mehr eine Dystopie, indem sie die besorgniserregenden Entwicklungen der Gegenwart nur ein Jahrzehnt weiterdenkt: Besorgte Bürger regieren ein politisch und gesellschaftlich desinteressiertes Deutschland, gewählt von Menschen, die eigentlich nicht mehr an die Teilhabe in er Demokratie glauben, weil jene, die an die Demokratie glaubten, nicht mehr zur Wahl gingen. Was passiert mit Menschen, wenn sie alles haben? Wenn es ihnen so gut geht, dass ihre Lebenssituation es ihnen erlaubt, beständig um sich, die eigene Bedürfnisbefriedigung zu kreisen, was vor allem bedeutet: Alle materiellen Wünsche erfüllt zu haben. "Besorgte Bürger" an der Macht? Egal! Solange ich mein Sushi selbst machen, meine Gäste ausreichend Prosecco schlürfen und wir gemeinsam im Manufactum-Katalog blättern können. Die Menschen haben sich schön eingerichtet, träumen ihre kleinen Konsumträume und sind ansonsten vor allem damit beschäftigt wegzuschauen.

Der unzufriedene Bodensatz, der innerlich entleerte Teil der Menschen kann bei Psychoanalytikern Hilfe suchen, etwa bei Britta in der Praxis „Brücke“. Hier wird jenen geholfen, die sich mit Selbstmordgedanken tragen. Vor allem trennen Britta und ihr IT-Kumpel Babak die Spreu vom Weizen - die unglücklichen Großsprecher von denen, die es ernst meinen. Denn diese können nach einem im Laufe des Romans schonungslos dargelegten Auswahlprozess an Terrorgruppen vermittelt werden, um als Selbstmordattentäter ihrem leeren leben einen letzten Sinn zu gaben. Bombengürtel gegen Walfänger zum Beispiel.

Als die „Brücke“ Konkurrenz erhält, dreht Britta durch und schaltet in den Panikmodus. An Brittas Figur seziert die Psyche der Generation 2020, denn als Zwangsgestörte offenbart sie, wie viel eigene Leere in ihr herrscht, wie sie den Kompass für das Leben verloren hat. Selbst sie, die so viele Suizidwillige wieder ins Leben gebracht hat (die Spreu, die nicht vermittelbar war), kann auf die großen Fragen des Lebens keine eigene Antwort geben: Woher? Wohin? Warum?

Was Juli Zeh so nebenbei an alltäglichen Schreckensvisionen in die Szene fließen lässt, macht den Leser schaudern. Nicht erst mit "Leere Herzen" wendet sie sich bürgerrechtlichen Großthemen zu und vergisst nicht, den Einzelnen in der sich wandelnden Welt zu durchschauen.

„Leere Herzen“ ist spannend, leidet an einer zum Ende hin auffallenden Handlungsüberfrachtung, aber versteht es, den Leser auf unterhaltsame Weise und selten mit dem zwischen den Zeilen mahnenden Zeigefinger daran zu erinnern, dass die Suche nach dem Sinn des Lebens und nach dem Zusammenhalt in der Gesellschaft einfach anstrengend sind.

Lesenswert.

Veröffentlicht am 18.01.2019

Der doppelte Wallander

Vor dem Frost
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Henning Mankell deutet in „Vor dem Forst“ den Generationenwechsel an: Linda Wallander steht kurz davor, in den Polizeidienst einzutreten und ihrem Vater nachzufolgen. Doch noch ehe sie den Dienst antritt, ...

Henning Mankell deutet in „Vor dem Forst“ den Generationenwechsel an: Linda Wallander steht kurz davor, in den Polizeidienst einzutreten und ihrem Vater nachzufolgen. Doch noch ehe sie den Dienst antritt, beginnen Linda und Kurt Wallander gemeinsam, getrennt, mit- und gegeneinander am neuesten Fall zu ermitteln. Dass die grausamen Tötungen von Tieren, die Schändungen von Kirchen und das seltsame Verhalten und Verschwinden von Lindas Freundin Anna zusammenhängen, ahnt der Leser sofort. Aber wie die beiden Wallander dem leicht konstruierten Plot auf die Spur kommen, ist toll erzählt. Linda macht mit Neugier und Unerschrockenheit (fast) wett, was Kurt mit Berufserfahrung und Instinkt gelingt.

Die Folie der Handlung bildet religiöser Fanatismus. Schon im Prolog werden die Leser in den Massenmord einer extremistischen Christensekte geworfen. Und Fanatismus zieht sich durch den ganzen Roman. Menschenleben – und erst recht das Leben von Tieren – gilt diesen Verblendeten nichts im Angesicht der eingebildeten Größe ihres „gottgegebenen Auftrags“.

Mankell hat eindrückliche Einfälle: Annas Mutter komponiert aus Lachern und Seufzern Musikstücke. In Flammen gesetzte Schwäne gehen brennend über einem schwedischen See nieder. Ein so qualvolles wie kräftiges Bild.

Dass es Längen gibt, stört nicht übermäßig, und auch die Vorhersehbarkeit des Endes ist nur ein kleiner Abstrich für die Bewertung dieses gelungenen Wallanders!

Veröffentlicht am 19.10.2018

Joe Bucks Irrfahrt nach der Liebe

Midnight Cowboy
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James Leo Herlihy veröffentlichte „Midnight Cowboy“ 1965 und erzählt die Odyssee des jungen texanischen Titelhelden Joe Buck von Albuquerque nach New York, wo er hofft, mit reichen Damen gegen Geld ins ...

James Leo Herlihy veröffentlichte „Midnight Cowboy“ 1965 und erzählt die Odyssee des jungen texanischen Titelhelden Joe Buck von Albuquerque nach New York, wo er hofft, mit reichen Damen gegen Geld ins Bett steigen und sich seinen Unterhalt als Gigolo verdienen zu können. Joe Buck wuchs ziellos und inhaltsleer bei seiner Großmutter Sally auf, deren schnell wechselnde Liaisons mit unterschiedlichen Beaus ein genauso desolates Bild von menschlichen Bindungen vermittelten wie der Lebenswandel der Mutter, die wahrscheinlich mit anderen Prostituierten in einer WG wohnte, in der Joe einen anderen Teil seines Blicks auf zwischenmenschliche Beziehungen erwarb. Das „erste Mal“ erlebte Joe Buck mit einer gleichaltrigen Hobby-Hure – ebenfalls fernab zarter Romantik.

In den Fängen des manipulativen Jerry, der mit dem hübschen Cowboy offensichtlich auf die Matratze widerfährt Joe ein gewalttätiges Trauma, nach der ihm Sex gleichgültig ist. Traumatisiert, ahnungs- und bindungslos, in gewisser Hinsicht unschuldig und verletzt strandet Joe in New York und gesellt sich schließlich dem verkrüppelten Ratso Rizzo zur Seite. Beide trudeln an den Grund der Gesellschaft, einander Halt bietend im gemeinsamen Sturz. Das Segnung versprechende Florida wird beiden ein sehnlichstes Ziel.

Herlihys Roman wurde von Daniel Schreiber neu (und gut!) übersetzt und mit einem klugen Nachwort versehen, das den Kontext der nicht ausgelebten Homosexualität des Autors und der Situation Homosexueller in den 1960er Jahren nachliefert. Doch auch ohne das Randgefühl ausgegrenzter Sexualität völlig zu verstehen, ist „Midnight Cowboy“ ein eindringlicher Entwicklungsroman eines einzigartigen Titelhelden, an dem sein gesunder Optimismus zu bewundern ist, der in durch die Einsamkeit und seine Suche nach Liebe führt.

Einsamkeit und Sehnsucht nach Liebe sind anthropologische Konstanten, weshalb Herlihys Roman auch in über 50 Jahren nicht an Farbe verloren hat.

Veröffentlicht am 17.09.2018

Ein großer Schritt für die Karthago-Forschung

Die Geschichte Karthagos
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Die Geschichte Karthagos aus der Feder Hannibal Minors kann – so schreibt es der kundige Herausgeber Olde Hansen in seinem Nachwort – zurecht eine „Sensation“ genannt werden, allerdings nicht nur eine ...

Die Geschichte Karthagos aus der Feder Hannibal Minors kann – so schreibt es der kundige Herausgeber Olde Hansen in seinem Nachwort – zurecht eine „Sensation“ genannt werden, allerdings nicht nur eine „kleine“ (S. 93). Im Gegenteil: Mit diesem schmalen Band ist es gelungen, einer breiten Öffentlichkeit wie auch der Fachwelt eine authentische karthagische Stimme über Karthago – ja: aus Karthago sprechen zu lassen, wo sonst nur die Feinde der Stadt gesprochen haben. Die Geschichte wird von den Siegern gemacht, dieser Grundsatz ist Karthagos ewiges Verhängnis – gewesen. Denn mit der Darstellung Hannibals Minor ist nun die Stimme eines zeitgenössischen Historikers erklungen, die nicht eine „Verlierer-“ , sondern eine „Erfolgsgeschichte“ erzählen kann (S. 94). Wie die antike Handschrift überliefert und wiederaufgefunden wurde, ist eine dieser erstaunlichen Entdeckungsgeschichten der Kodikologie, wie sie über Parzivalhandschriften, den Codex Seraphinianus oder die Merseburger Zaubersprüche erzählt werden können. Die Übersetzer des lateinische Textes, Aake Jensen und Leif Sörensen, legen diese Geschichte in der Einleitung dar und fügen der Krone ihrer Alma Mater, der ehrwürdigen Universität Saksköbing, eine weitere Perle hinzu.

Die Geschichte Karthagos aus der Feder Hannibals Minor stellt die Entwicklung Karthagos von den sagenhaften Anfängen bis zu ihrer Zerstörung durch die Legionen Roms dar. Dabei erweist sich Hannibal Minor sowohl als guter Erzähler wie auch als kundiger Kenner der Historien sowie der zeitgenössischen Politik, Technik und Geographie.

Ausdrücklich zu loben ist der ausgezeichnete Anmerkungsapparat, den Herausgeber Hansen dem Text beifügt. Hier werden die Bezüge zu den historischen Ereignissen und zu den parallelen Überlieferungen der antiken Literatur und Geschichtswissenschaft in Kontext gesetzt und bewertet. Es zeigt sich insbesondere durch diesen gelehrten Kommentar, wie erstaunlich passgenau der kathagische Text die Lücken des bisher bekannten schließt und die bekannten Informationen auf wunderbare Weise verbindet.

Dennoch ist das vorliegende Werk sicherlich nur ein erster Schritt zu einer umfassenderen und textkritischen Ausgabe der Historia Carthaginiensis, die auch mit einigen Lässlichkeiten der Herausgeber aufräumen sollte. Zunächst ist es bedauerlich, dass der Text nur in der deutschen Übersetzung vorliegt. Eine Edition des lateinischen Textes in einer zweisprachigen Ausgabe wäre mehr als wünschenswert gewesen, um die bisweilen doch sehr lässige Jensen/Sörensen-Übersetzung umgehen zu können. Das Lektorat des Kommentarapparates ist für diesen Verlag ebenfalls ungewöhnlich nachlässig.

Insbesondere aber stellen sich weder Einleitung noch Kommentar noch Nachwort der in der Forschung aktuell vordringlich diskutierten Frage, ob Hannibal Minor tatsächlich der Autor dieses Textes ist. Die Selbstauskunft des Autors (HM I, 1) stellt für einen Teil der Antikeforschung eine Quellenfiktion dar, die die eigentliche Entstehungszeit des Textes verschleiern soll. Angesichts der Fülle an Detailinformationen aus der Zeit der vermeintlichen Abfassung des Textes erscheint es logisch abzuleiten, dass „Die Geschichte Karthagos“ später verfasst worden sein muss, da ein Autor im Jahre 106 v. Chr. Unmöglich diese Fülle an Informationen gehabt haben kann. Der Zweifel an der Entstehungszeit des Textes korrespondiert mit der Diskussion über den Namen des Autors. Hannibal „der Kleinere“ (hier haben Jensen/Sörensen aus unbekannten Gründen den Komparativ nicht übersetzt, sondern schreiben „der Kleine“) gibt sich den Namen des berühmtesten Karthagers. „Gibt sich“ ist hier die richtigere Formulierung, denn mit dem Komparativ vergleicht sich der Historiker Hannibal Minor mit dem Feldherrn Hannibal magnus – ein Vergleich, den kein Historiker dieser Zeit für sich in Anspruch genommen hätte. Auch aus der Namensgebung des fiktiven Autors ergibt sich eine vermutlich spätere Autorschaft eines Nachkommen karthagischer Flüchtlinge. Eine im Sinne der „Material Philology“ vorgenommene Analyse der Originalhandschrift offenbart ja in der Buchstabenzeichnung Verwandtschaft zum Voynich-Manuskript und legt zumindest eine in Oberitalien zu vermutende Abschrift des Textes nahe.

Abgesehen von diesen – vielleicht nur dem Experten auffallenden – Mängeln ist das von Hansen herausgegebene Bändchen für die Lektüre in Schule und Universitäten auch deshalb bestens geeignet, weil sie in frischer Übersetzung zu erschwinglichem Peis eine Rundschau über die Fachliteratur zu Karthago und vor allem eine nahezu vollständige Übersicht über die Karthago betreffenden antiken Quellen liefert.