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Veröffentlicht am 27.03.2021

Beeindruckendes, berührendes, nachwirkendes Debüt

Kronsnest
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REZENSION – Eigentlich geschieht nicht sonderlich viel in „Kronsnest“, dem atmosphärisch und stilistisch eindrucksvollen Romandebüt von Florian Knöppler (55), das der Pendragon Verlag im Februar veröffentlichte. ...

REZENSION – Eigentlich geschieht nicht sonderlich viel in „Kronsnest“, dem atmosphärisch und stilistisch eindrucksvollen Romandebüt von Florian Knöppler (55), das der Pendragon Verlag im Februar veröffentlichte. Doch selbst das Wenige weiß der gelernte Journalist in eindringlicher Erzählweise spannend wirken zu lassen. Die weltweite Agrarkrise der Jahre 1927/1928 mit ihren wirtschaftlichen Auswirkungen und die sich andeutende Radikalisierung der Weimarer Politik sind die dunklen Wolken über diesem gleichnamigen holsteinischen Dörfchen nahe Elmshorn an der Krückau, einem Zufluss der Elbe. Wirtschaftlicher Niedergang bestimmt den bedrückenden und arbeitsreichen Alltag der dort lebenden Kleinbauern und Handwerker. Wir erleben den Jahresverlauf aus Sicht einiger Jugendlicher im Wandel von Schülern zu Erwachsenen – allen voran Hannes, Sohn und Erbe eines gewalttätigen, vom Weltkriegseinsatz gezeichneten Kleinbauern.
In der Dorfschule wird der 15-Jährige oft von Mitschülern gemobbt, nachmittags schuftet er auf dem ärmlichen Hof, den er einmal vom Vater übernehmen soll. Doch wie wohl alle Alterskameraden träumen er und sein Freund Thies vom Auswandern nach Amerika – irgendwann, wenn sie erwachsen sind. Doch im Grunde weiß Hannes genau, dass sein Schicksal in Kronsnest vorbestimmt ist. Von seinem Vater, dem er es nie recht machen kann, hat er das bäuerliche Handwerk inzwischen gut gelernt und beginnt, eigenständig auf dem Hof zu arbeiten. Doch charakterlich gleicht er seiner Mutter, ist ein sensibler und intelligenter Junge, gutmütig und hilfsbereit. Einen Ausgleich zur Landwirtschaft, eine Zuflucht in eine bessere Welt findet er in Büchern und bei Mara, der Tochter des Großbauern von Heesen.
Nach seinem Hauptschulabschluss muss Hannes – der Vater ist gestorben – den Hof allein führen. Von der Politik hält er sich fern, obwohl dadurch die Freundschaft mit Thies zerbricht, der sich den Nazis anschließt, die sich in Holstein stark ausbreiten. Ein anderer Kumpel, Hobe, der als Knecht arbeitet, ist bei den Kommunisten, die sich mit den Braunhemden, obwohl einstige Schulkameraden, jetzt Straßenschlachten liefern.
Die wachsende Konfrontation zwischen Braun und Rot, die letztlich zum Untergang der Weimarer Republik führen wird, deutet Knöppler in seinem Roman nur an. Wichtiger sind ihm die psychischen Auswirkungen der sich verändernden Welt auf seine Protagonisten. Da ist der Großbauer von Heesen, der als gelernter Kaufmann nichts von Landwirtschaft versteht und jetzt bankrott geht. Er gibt nicht nur den Hof, sondern sich selbst auf, zumal er Opfer von Nazi-Angriffen wird. Seine Tochter Mara, eigentlich lebenslustig und voller Phantasie, verfällt immer öfter in Depression. Hannes zieht sich immer mehr in die innere Emigration zurück und muss nach dem Tod des Vaters jetzt um seine Mutter fürchten, die an Selbstmord denkt. Freundschaften und Liebschaften unter den jungen Leuten zerbrechen, weil sie dem Druck von außen nicht standhalten können.
In seiner atmosphärischen Dichte – tief dringen wir in die Gefühls- und Gedankenwelt der Hauptfiguren ein – gleicht „Kronsnest“ einem Psycho-Roman: Wir leben, lieben und leiden mit Hannes, Mara und anderen. Die klare, schnörkellose und unaufgeregte Erzählweise des Autors, der selbst in einem solchen holsteinischen Dorf lebt, macht alles realistischer und dadurch noch wirkungsvoller. Trotz vieler Detailbeschreibungen des von der Weltpolitik gebeutelten kleinbäuerlichen Lebens im Krisenjahr 1928 bleibt es an anderen Stellen im Roman bei Andeutungen, die uns Lesern Raum bieten, gedanklich in das Gelesene tiefer einzudringen. „Kronsnest“ ist ein beeindruckendes, berührendes, nachwirkendes Debüt und weit mehr als ein historischer Heimatroman.

Veröffentlicht am 13.03.2021

Informativ, interessant, spannend, lesenswert

Das Verschwinden der Erde
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REZENSION – Nach mehrjähriger Arbeit an ihrem Debüt überraschte die Amerikanerin Julia Phillips (32) den US-Buchmarkt mit einem erstaunlichen Roman, der 2019 verdient in die Shortlist zum National Book ...

REZENSION – Nach mehrjähriger Arbeit an ihrem Debüt überraschte die Amerikanerin Julia Phillips (32) den US-Buchmarkt mit einem erstaunlichen Roman, der 2019 verdient in die Shortlist zum National Book Award kam, von der New York Times zu einem der zehn besten Romane des Jahres gekürt wurde und jetzt als „Das Verschwinden der Erde“ in deutscher Übersetzung im dtv-Verlag erschien. In einer in Episoden aufgebauten Handlung verarbeitete die Journalistin ihre Eindrücke, die sie in ihrem Forschungsjahr 2011/2012 und während eines zweiten Aufenthalts 2015 auf der Halbinsel Kamtschatka am äußersten Rand Russlands sammelte. Das Eindrucksvollste an ihrem Romandebüt ist die authentische Darstellung alltäglichen Lebens und so unterschiedlicher Gefühle der aus indigenen Volksangehörigen Nordostasiens und europäischen Russen zusammengewürfelten Einwohnerschaft einer selbst für Westrussen weit entfernten Region zu zeichnen.
Ausgangspunkt und Rahmen des Romans ist Entführung der Schwestern Aljona (12) und Sofija (8) in Petropawlowsk, der grauen, von sowjetischer Plattenbauweise geprägten Haupt- und Hafenstadt Kamtschatkas, zugleich Sitz wissenschaftlicher Einrichtungen zur Ozeanforschung, Fischereiwirtschaft und Vulkanologie. Trotz Einsatz der Polizei und eines Großaufgebots aus Einwohnern werden die Mädchen nicht gefunden. Später erfahren wir, dass drei Jahre zuvor in Esso, einem Dorf im Landesinneren mit überwiegend indigener Bevölkerung, die Jugendliche Lilja verschwand, wobei unklar bleibt, ob sie nicht nur dem tristen Dorfleben entflohen ist.
In einem wegen ständig wechselnder Personen nur anfangs irritierenden Konstrukt aus 13 Episoden lernen wir nach und nach jene Menschen kennen, die direkt oder indirekt vom Verschwinden der Mädchen betroffen sind. Durch Schilderung der sich unterscheidenden, jeweils subjektiven Sicht der wechselnden Protagonistinnen auf den Entführungsfall und die heutige gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Situation des Landes gelingt es der Autorin eindrucksvoll, die Vielschichtigkeit Kamtschatkas drei Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu beschreiben, sondern uns zugleich einen Einblick in die Gegensätzlichkeit zwischen großstädtischem, russisch geprägtem Leben und dem Leben der Ureinwohner im Landesinneren Kamtschatkas, zwischen billigem Plattenbau und naturbelassener Wildnis im Landesinneren der Halbinsel aufzuzeigen. Wir erfahren von Konflikten zwischen den Alten, die im Zusammenbruch der Sowjetunion noch immer ein großes Unglück sehen und Angst vor Neuem haben, und den Jungen, die ihre neue Freiheit auskosten und hinaus in die weite Welt wollen. Erwähnt werden auch die vielen Schwachpunkte wie die Korruption im Beamtenapparat, die wirtschaftliche Misere oder die russische Intervention in der Ukraine. Wir lesen auch von gegenseitigem Misstrauen, sogar Rassismus zwischen der „weißen“ Bevölkerungsmehrheit der Russen und den indigenen Bevölkerungsgruppen wie den Ewenen.
Mit seinem episodenhaften Aufbau und den verschiedenen Sichtweisen wechselnder Protagonisten vermittelt uns die Autorin in einfühlsamer, aber klarer Sprache, verpackt in einer kurzweiligen Handlung, ein umfassendes und informatives Bild eines für deutsche Leser noch unbekannten russischen Landesteils, dessen größtenteils als Naturpark ausgewiesene Vulkanregion im Jahr 1996 von der Unesco zum Weltnaturerbe erklärt wurde. Genau dies macht den Roman so interessant und lesenswert.

Veröffentlicht am 06.03.2021

Über den Zirkus des Lebens

Der Zirkus von Girifalco
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REZENSION – Nach dem Überraschungserfolg des in Italien mehrfach prämierten Romandebüts „Der Postbote von Girifalco“ (2019) von Domenico Dara (50) war das Erscheinen seines zweiten Romans „Der Zirkus von ...

REZENSION – Nach dem Überraschungserfolg des in Italien mehrfach prämierten Romandebüts „Der Postbote von Girifalco“ (2019) von Domenico Dara (50) war das Erscheinen seines zweiten Romans „Der Zirkus von Girifalco“, dessen gelungene Übersetzung von Anja Mehrmann der Kiwi-Verlag jetzt veröffentlichte, wenig überraschend. Wieder tauchen wir in dieses kalabrische Provinzdorf am Südzipfel Italiens ein, „diesen gottverlassenen Punkt auf der Landkarte des Universums“, wo man nur zwei Winde aus West und Ost kennt und dessen eintöniges Alltagsleben sich zwischen der Nervenheilanstalt im Norden und dem Friedhof im Süden abspielt.
Es ist Hochsommer in Girifalco und die Vorfreude auf das Fest zu Ehren des Patronatsheiligen San Rocco ist spürbar. Doch noch geht alles seinen gewohnten Gang, den der Stoiker Archidemu mit der unabänderlichen Bahn der Planeten vergleicht, bis Ungewöhnliches geschieht: Ein Zirkus, von seiner eigentlichen Reiseroute abgekommen, hat sich nach Girifalco verirrt und schlägt sein Zelt auf dem Festplatz auf. In der nun einsetzenden Handlung erleben wir nicht nur die Artisten in der Zirkuskuppel. Durch deren unerwartetes Erscheinen wird auch das Leben der Dörfler aus der üblichen Bahn geworfen. Wir erleben einen Jahrmarkt der Eitelkeiten und Bosheiten, treffen auf Menschen mit Abnormitäten, organischen und psychischen Verletzungen. Wir lernen Charaktere kennen, deren Nöte und Ängste, Wünsche und Träume uns der Autor in fast poetischer Sprache anrührend beschreibt, einfühlsam von Anja Mehrmann ins Deutsche übertragen.
So hat Archidemu nie verwunden, dass sein jüngerer Bruder als Kind unter seiner Aufsicht verschwand. Ihn hofft er in dem Jongleur wiedergefunden zu haben, denn der Verschwundene, so glaubt er als Himmelsbeobachter, muss doch irgendwann auf der Planetenbahn des Lebens wieder an seinen Ursprungsort zurück. Die verbitterte Mararosa, der einst der Bräutigam Sarvatùra verwehrt wurde und der dann die junge Rorò heiratete, hofft nach deren frühen Unfalltod auf eine neue Chance beim Witwer. Schneider Don Venanzìu, der mit seiner strotzenden Manneskraft alle Frauen des Ortes glücklich machte, muss plötzlich feststellen, dass auch er inzwischen älter geworden ist.
Domenico Dara setzt die Kapitel der Handlung aus jeweils wechselnder, subjektiver Sicht dieser und anderer Protagonisten zusammen, zu denen auch der Schmied Caracantulu gehört, der seine einst durch Unachtsamkeit zerschmetterte Hand vor den anderen im Handschuh verbirgt, ebenso wie der Dorftrottel Lulù, der noch immer auf die Rückkehr seiner längst verstorbenen Mutter wartet, oder der nicht nur durch seinen Blondschopf auffällige Angeliaddu, als unehelicher Sohn einer Zugereisten ein Außenseiter.
Dem Autor, der selbst in Girifalco aufwuchs, gelingt es trotz einiger Textstellen, in denen er allzu sehr ins Philosophische abdriftet, in seinem Roman dieses kleine kalabrische Dorf und das Leben seiner Einwohner mit all ihren Hoffnungen und Sehnsüchten authentisch und atmosphärisch dicht zu schildern. Wir erleben Menschen einer Welt – so formuliert es der Stoiker Archidemu im Roman –, die aus dem Weltall betrachtet nur „eine Murmel [ist], die sich immer auf dieselbe Weise drehte“ und deren Bewohner „nichts und wieder nichts“ sind „wie die Mücke, die wir auf unserem Arm zerquetschen“. Und doch nimmt sich jeder Einzelne in Girifalco wichtig und sieht sich als Mittelpunkt im irdischen Zirkus des Lebens wie die Sonne, um die alle anderen Gestirne kreisen.

Veröffentlicht am 21.02.2021

Über einen ehrgeizigen und skrupellosen Schriftsteller

Die Geschichte eines Lügners
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REZENSION – Erst mit dreijähriger Verspätung erschien im Januar beim Piper Verlag mit „Maurice Swift. Die Geschichte eines Lügners“ der neue Roman des Bestseller-Autors John Boyne (49), der vor 15 Jahren ...

REZENSION – Erst mit dreijähriger Verspätung erschien im Januar beim Piper Verlag mit „Maurice Swift. Die Geschichte eines Lügners“ der neue Roman des Bestseller-Autors John Boyne (49), der vor 15 Jahren mit „Der Junge im gestreiften Pyjama“ international bekannt wurde. Diese mehrjährige Verzögerung ist bedauerlich, denn mit „Maurice Swift“ ist dem irischen Schriftsteller nach „Cyrill Avery“ (2018) erneut ein lesenswerter Roman gelungen, der nicht nur, aber vor allem Freunden des Literaturbetriebs gefallen dürfte, handelt er doch von einem gnadenlos ehrgeizigen, zeitweilig erfolgreichen, wenn auch menschlich zu verachtenden Schriftsteller und dem Wettbewerb unter Literaten.
Wir lernen den jungen Briten Maurice Swift als Aushilfskellner in einer West-Berliner Hotelbar kennen und begleiten ihn dann abschnittsweise auf seinem privaten wie beruflichen Lebensweg bis ins Alter. Swift ist seit Jugendtagen ein kaltherzig berechnender Mensch, der in grenzenlosem Ehrgeiz, ein erfolgreicher Autor zu werden, skrupellos alle Mittel bis hin zur Prostitution des eigenen Körpers einsetzt, sofern ihn dies seinem Ziel näherbringt. „Es gibt Menschen, die für den eigenen Vorteil alles und jeden opfern“, heißt es über ihn.
Swift ist zwar ein ausgezeichneter Schreiber, nur für Romane fehlen ihm die nötigen Ideen. Da es ihm an eigener Kreativität fehlt, setzt er seinen Charme sowie die Attraktivität und Wirkung seines Körpers auf Männer wie auf Frauen ein: „Ich begriff, welche Macht mir das gab. Eine Macht, aus der sich immer leicht Kapital schlagen ließ.“ Diese homoerotischen Abhängigkeiten berühmterer Autoren zu ihm nutzt Swift schamlos für seinen beruflichen Fortgang aus. Er stiehlt skrupellos die Handlungsideen anderer für eigene Romane, selbst wenn er deren Karriere oder gar Leben vernichtet. Daran hält er auch später als Herausgeber eines Literatur-Magazins und Lektor angehender Autoren fest: „Zu Hause warten 20 Erzählungen auf mich, die ich lesen muss. ... Ich will schließlich wissen, wovon mein nächster Roman handelt.“
Kaum jemand durchschaut das betrügerische und verlogene Vorgehen des einst mit einem Literaturpreis ausgezeichneten, inzwischen von einer nächsten Autoren-Generation verdrängten Autors. Nur der Literaturstudent Theo Field, der eine Biografie über Swift schreiben will, scheint etwas zu ahnen: „Die Bandbreite Ihres Schreibens ist … so außergewöhnlich, und es ist kaum zu glauben, dass all das aus der Feder eines einzigen Menschen stammt.“
Nach genau diesem Konzept seines Protagonisten Maurice Swift fügt auch Autor John Boyne die Abschnitte seines Romans wie die Sammlung gestohlener Ideen anderer Autoren - sogar mit wechselnden Erzählern - zu einer schlüssigen Handlung zusammen. Der Piper Verlag verstärkt dieses dramaturgische Konzept noch optisch, indem er - eine großartige Idee! - in seiner deutschsprachigen Ausgabe den Autorennamen John Boynes sogar durchstreicht und durch Maurice Swift ersetzt, als habe er auch diese Roman-Idee gestohlen.
Kritisch anzumerken ist, dass Maurice Swift von Beginn an als rücksichtsloser Ehrgeizling zwar nicht uninteressant, aber doch zu einseitig angelegt ist, weshalb der Ausgang der einzelnen Episoden schon bald zu durchschauen ist und kaum noch überrascht. Interessanter sind dagegen die anderen Protagonisten des Romans wie die Schriftsteller Erich Ackermann und Dash Hardy in ihrer bemitleidenswerten homoerotischen Abhängigkeit, die beide später nutzlos geworden von Swift fallengelassen werden, der bereits legendäre (reale) Schriftsteller Gore Vidal (1925-2012), der vom Leben abgeklärt als einziger den egozentrischen Schriftsteller durchschaut, oder Swifts junge Ehefrau Edith, die als literarische Debütantin wesentlich talentierter als ihr Ehemann ist. Diese Figuren sind es vor allem, die „Maurice Swift. Die Geschichte eines Lügners“ zu einem empfehlenswerten Roman machen.

Veröffentlicht am 23.01.2021

Das ideale Geschenk für jeden Bücherfreund

Der Buchspazierer
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REZENSION – „Der Buchspazierer“, der neue Roman von Autor Carsten Henn (47), im November erschienen im Pendo Verlag, liest sich wie ein modernes Märchen und ist eine Hommage an die Welt der Bücher. Doch ...

REZENSION – „Der Buchspazierer“, der neue Roman von Autor Carsten Henn (47), im November erschienen im Pendo Verlag, liest sich wie ein modernes Märchen und ist eine Hommage an die Welt der Bücher. Doch ist das Buch nicht nur eine Liebeserklärung an die bunte Vielfalt der Literatur, denn deutlich wird in der Geschichte auch die Kritik an der Kommerzialisierung des Buchhandels und dem gelegentlich zu vermissenden Fachwissen dortiger Mitarbeiter.
Im Zentrum der Handlung steht die alte Buchhandlung am Stadttor in einer kleinen Altstadt, Hauptperson ist deren langjähriger, inzwischen im Ruhestand lebender Fachhändler Kollhoff – ein Buchhändler aus vergangener Zeit. Er kannte nicht nur den Inhalt der Bücher, die zum Verkauf standen, sondern auch die literarischen Vorlieben seiner Stammkunden. „Ist Herr Kollhoff vielleicht da? Er weiß immer, was mir gefällt. Er weiß immer, was allen gefällt.“ Doch diese Zeiten sind längst vorbei. Kohlhoffs einstiger Chef und Freund lebt im Seniorenheim, die Tochter – sicher eine gute Kauffrau, aber offensichtlich keine Fachfrau – führt jetzt die Buchhandlung, deren Sortiment nicht nur um DVDs und CDs, sondern zum Entsetzen Kohlhoffs auch um Gesellschaftsspiele, Tee und Schokolade erweitert wurde. Der altgediente Buchhändler genießt bei der jungen Inhaberin nur noch sein „Gnadenbrot“: Er darf langjährigen Stammkunden die bestellten Bücher ins Haus bringen. „Auf dem Rücken trug er einen abgescheuerten alten Lederrucksack, prall gefüllt mit Büchern, jedes davon in Packpapier und Kordel gehüllt, damit es keinen Schaden nahm, als wäre es ein Geschenk. Alle nannten ihn nur den Buchspazierer.“
Im weiteren Verlauf der Handlung lernen wir die neunjährige, sehr aufgeweckte Charlotte kennen, die in den kommenden Tagen den Buchspazierer zu seinen Kunden begleiten und ihm später nach Verlust dieser letzten Aufgabe aus seiner Not heraushelfen wird. Es waren „Menschen, die …. ihre Augen gerne über die Buchrücken streifen ließen, weil in den Büchern Menschen lebten, denen sie sich verbunden fühlen, weil sich dort Schicksale ereigneten, die sie teilten.“ Beiläufig charakterisiert der Autor auch uns Leser. Er kennt die Hasen, die Bücher mit Rekordgeschwindigkeit lesen, dass sie zwar Wörter, nicht aber den Gehalt eines Buches aufnehmen. Da ist der Kiebitz, der immer erst das Ende eines Romans kennen muss, bevor er vorn zu lesen beginnt, oder auch der Schildkröten-Typ, der allabendlich vor Müdigkeit nicht über ein Kapitel hinauskommt und dieses am nächsten Abend nochmals liest, weil er das Gelesene schon wieder vergessen hat.
„Der Buchspazierer“ ist nicht nur eine warmherzige, fast poetische Geschichte über den Zauber der Literatur. Henn beschreibt seine Figuren voller Zuneigung. Es geht in seinem Roman nicht nur um Bücher und ihre Leser, sondern auch um Freundschaft und Achtsamkeit und um die kleinen Dinge des Lebens. Mag sich unsere Gesellschaft auch ständig wandeln, tröstet der Autor uns Bücherfreunde: „Das geschriebene Wort wird immer bleiben, weil es Dinge gibt, die auf keine Art besser ausgedrückt werden können.Und der Buchdruck ist die beste Konservierungsmethode für Gedanken und Geschichten.“
Der zauberhafte Roman „Der Buchspazierer“ mag vielleicht nicht höchsten literarischen Ansprüchen genügen. Die kleine Geschichte ist dafür doch zu märchenhaft und die Figuren sind zu seicht gezeichnet. Eher scheint es, als hätte sich der Autor hier etwas von der Seele geschrieben: seine sehr persönliche Meinung über den Wandel des deutschen Buchmarktes und Buchhandels. Dennoch – oder gerade deshalb! – ist „Der Buchspazierer“ ein charmanter, empathischer Wohlfühlroman für Buchliebhaber und ein ideales Geschenk für jeden Bücherfreund.