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Veröffentlicht am 06.03.2021

Über den Zirkus des Lebens

Der Zirkus von Girifalco
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REZENSION – Nach dem Überraschungserfolg des in Italien mehrfach prämierten Romandebüts „Der Postbote von Girifalco“ (2019) von Domenico Dara (50) war das Erscheinen seines zweiten Romans „Der Zirkus von ...

REZENSION – Nach dem Überraschungserfolg des in Italien mehrfach prämierten Romandebüts „Der Postbote von Girifalco“ (2019) von Domenico Dara (50) war das Erscheinen seines zweiten Romans „Der Zirkus von Girifalco“, dessen gelungene Übersetzung von Anja Mehrmann der Kiwi-Verlag jetzt veröffentlichte, wenig überraschend. Wieder tauchen wir in dieses kalabrische Provinzdorf am Südzipfel Italiens ein, „diesen gottverlassenen Punkt auf der Landkarte des Universums“, wo man nur zwei Winde aus West und Ost kennt und dessen eintöniges Alltagsleben sich zwischen der Nervenheilanstalt im Norden und dem Friedhof im Süden abspielt.
Es ist Hochsommer in Girifalco und die Vorfreude auf das Fest zu Ehren des Patronatsheiligen San Rocco ist spürbar. Doch noch geht alles seinen gewohnten Gang, den der Stoiker Archidemu mit der unabänderlichen Bahn der Planeten vergleicht, bis Ungewöhnliches geschieht: Ein Zirkus, von seiner eigentlichen Reiseroute abgekommen, hat sich nach Girifalco verirrt und schlägt sein Zelt auf dem Festplatz auf. In der nun einsetzenden Handlung erleben wir nicht nur die Artisten in der Zirkuskuppel. Durch deren unerwartetes Erscheinen wird auch das Leben der Dörfler aus der üblichen Bahn geworfen. Wir erleben einen Jahrmarkt der Eitelkeiten und Bosheiten, treffen auf Menschen mit Abnormitäten, organischen und psychischen Verletzungen. Wir lernen Charaktere kennen, deren Nöte und Ängste, Wünsche und Träume uns der Autor in fast poetischer Sprache anrührend beschreibt, einfühlsam von Anja Mehrmann ins Deutsche übertragen.
So hat Archidemu nie verwunden, dass sein jüngerer Bruder als Kind unter seiner Aufsicht verschwand. Ihn hofft er in dem Jongleur wiedergefunden zu haben, denn der Verschwundene, so glaubt er als Himmelsbeobachter, muss doch irgendwann auf der Planetenbahn des Lebens wieder an seinen Ursprungsort zurück. Die verbitterte Mararosa, der einst der Bräutigam Sarvatùra verwehrt wurde und der dann die junge Rorò heiratete, hofft nach deren frühen Unfalltod auf eine neue Chance beim Witwer. Schneider Don Venanzìu, der mit seiner strotzenden Manneskraft alle Frauen des Ortes glücklich machte, muss plötzlich feststellen, dass auch er inzwischen älter geworden ist.
Domenico Dara setzt die Kapitel der Handlung aus jeweils wechselnder, subjektiver Sicht dieser und anderer Protagonisten zusammen, zu denen auch der Schmied Caracantulu gehört, der seine einst durch Unachtsamkeit zerschmetterte Hand vor den anderen im Handschuh verbirgt, ebenso wie der Dorftrottel Lulù, der noch immer auf die Rückkehr seiner längst verstorbenen Mutter wartet, oder der nicht nur durch seinen Blondschopf auffällige Angeliaddu, als unehelicher Sohn einer Zugereisten ein Außenseiter.
Dem Autor, der selbst in Girifalco aufwuchs, gelingt es trotz einiger Textstellen, in denen er allzu sehr ins Philosophische abdriftet, in seinem Roman dieses kleine kalabrische Dorf und das Leben seiner Einwohner mit all ihren Hoffnungen und Sehnsüchten authentisch und atmosphärisch dicht zu schildern. Wir erleben Menschen einer Welt – so formuliert es der Stoiker Archidemu im Roman –, die aus dem Weltall betrachtet nur „eine Murmel [ist], die sich immer auf dieselbe Weise drehte“ und deren Bewohner „nichts und wieder nichts“ sind „wie die Mücke, die wir auf unserem Arm zerquetschen“. Und doch nimmt sich jeder Einzelne in Girifalco wichtig und sieht sich als Mittelpunkt im irdischen Zirkus des Lebens wie die Sonne, um die alle anderen Gestirne kreisen.

Veröffentlicht am 21.02.2021

Über einen ehrgeizigen und skrupellosen Schriftsteller

Die Geschichte eines Lügners
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REZENSION – Erst mit dreijähriger Verspätung erschien im Januar beim Piper Verlag mit „Maurice Swift. Die Geschichte eines Lügners“ der neue Roman des Bestseller-Autors John Boyne (49), der vor 15 Jahren ...

REZENSION – Erst mit dreijähriger Verspätung erschien im Januar beim Piper Verlag mit „Maurice Swift. Die Geschichte eines Lügners“ der neue Roman des Bestseller-Autors John Boyne (49), der vor 15 Jahren mit „Der Junge im gestreiften Pyjama“ international bekannt wurde. Diese mehrjährige Verzögerung ist bedauerlich, denn mit „Maurice Swift“ ist dem irischen Schriftsteller nach „Cyrill Avery“ (2018) erneut ein lesenswerter Roman gelungen, der nicht nur, aber vor allem Freunden des Literaturbetriebs gefallen dürfte, handelt er doch von einem gnadenlos ehrgeizigen, zeitweilig erfolgreichen, wenn auch menschlich zu verachtenden Schriftsteller und dem Wettbewerb unter Literaten.
Wir lernen den jungen Briten Maurice Swift als Aushilfskellner in einer West-Berliner Hotelbar kennen und begleiten ihn dann abschnittsweise auf seinem privaten wie beruflichen Lebensweg bis ins Alter. Swift ist seit Jugendtagen ein kaltherzig berechnender Mensch, der in grenzenlosem Ehrgeiz, ein erfolgreicher Autor zu werden, skrupellos alle Mittel bis hin zur Prostitution des eigenen Körpers einsetzt, sofern ihn dies seinem Ziel näherbringt. „Es gibt Menschen, die für den eigenen Vorteil alles und jeden opfern“, heißt es über ihn.
Swift ist zwar ein ausgezeichneter Schreiber, nur für Romane fehlen ihm die nötigen Ideen. Da es ihm an eigener Kreativität fehlt, setzt er seinen Charme sowie die Attraktivität und Wirkung seines Körpers auf Männer wie auf Frauen ein: „Ich begriff, welche Macht mir das gab. Eine Macht, aus der sich immer leicht Kapital schlagen ließ.“ Diese homoerotischen Abhängigkeiten berühmterer Autoren zu ihm nutzt Swift schamlos für seinen beruflichen Fortgang aus. Er stiehlt skrupellos die Handlungsideen anderer für eigene Romane, selbst wenn er deren Karriere oder gar Leben vernichtet. Daran hält er auch später als Herausgeber eines Literatur-Magazins und Lektor angehender Autoren fest: „Zu Hause warten 20 Erzählungen auf mich, die ich lesen muss. ... Ich will schließlich wissen, wovon mein nächster Roman handelt.“
Kaum jemand durchschaut das betrügerische und verlogene Vorgehen des einst mit einem Literaturpreis ausgezeichneten, inzwischen von einer nächsten Autoren-Generation verdrängten Autors. Nur der Literaturstudent Theo Field, der eine Biografie über Swift schreiben will, scheint etwas zu ahnen: „Die Bandbreite Ihres Schreibens ist … so außergewöhnlich, und es ist kaum zu glauben, dass all das aus der Feder eines einzigen Menschen stammt.“
Nach genau diesem Konzept seines Protagonisten Maurice Swift fügt auch Autor John Boyne die Abschnitte seines Romans wie die Sammlung gestohlener Ideen anderer Autoren - sogar mit wechselnden Erzählern - zu einer schlüssigen Handlung zusammen. Der Piper Verlag verstärkt dieses dramaturgische Konzept noch optisch, indem er - eine großartige Idee! - in seiner deutschsprachigen Ausgabe den Autorennamen John Boynes sogar durchstreicht und durch Maurice Swift ersetzt, als habe er auch diese Roman-Idee gestohlen.
Kritisch anzumerken ist, dass Maurice Swift von Beginn an als rücksichtsloser Ehrgeizling zwar nicht uninteressant, aber doch zu einseitig angelegt ist, weshalb der Ausgang der einzelnen Episoden schon bald zu durchschauen ist und kaum noch überrascht. Interessanter sind dagegen die anderen Protagonisten des Romans wie die Schriftsteller Erich Ackermann und Dash Hardy in ihrer bemitleidenswerten homoerotischen Abhängigkeit, die beide später nutzlos geworden von Swift fallengelassen werden, der bereits legendäre (reale) Schriftsteller Gore Vidal (1925-2012), der vom Leben abgeklärt als einziger den egozentrischen Schriftsteller durchschaut, oder Swifts junge Ehefrau Edith, die als literarische Debütantin wesentlich talentierter als ihr Ehemann ist. Diese Figuren sind es vor allem, die „Maurice Swift. Die Geschichte eines Lügners“ zu einem empfehlenswerten Roman machen.

Veröffentlicht am 23.01.2021

Das ideale Geschenk für jeden Bücherfreund

Der Buchspazierer
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REZENSION – „Der Buchspazierer“, der neue Roman von Autor Carsten Henn (47), im November erschienen im Pendo Verlag, liest sich wie ein modernes Märchen und ist eine Hommage an die Welt der Bücher. Doch ...

REZENSION – „Der Buchspazierer“, der neue Roman von Autor Carsten Henn (47), im November erschienen im Pendo Verlag, liest sich wie ein modernes Märchen und ist eine Hommage an die Welt der Bücher. Doch ist das Buch nicht nur eine Liebeserklärung an die bunte Vielfalt der Literatur, denn deutlich wird in der Geschichte auch die Kritik an der Kommerzialisierung des Buchhandels und dem gelegentlich zu vermissenden Fachwissen dortiger Mitarbeiter.
Im Zentrum der Handlung steht die alte Buchhandlung am Stadttor in einer kleinen Altstadt, Hauptperson ist deren langjähriger, inzwischen im Ruhestand lebender Fachhändler Kollhoff – ein Buchhändler aus vergangener Zeit. Er kannte nicht nur den Inhalt der Bücher, die zum Verkauf standen, sondern auch die literarischen Vorlieben seiner Stammkunden. „Ist Herr Kollhoff vielleicht da? Er weiß immer, was mir gefällt. Er weiß immer, was allen gefällt.“ Doch diese Zeiten sind längst vorbei. Kohlhoffs einstiger Chef und Freund lebt im Seniorenheim, die Tochter – sicher eine gute Kauffrau, aber offensichtlich keine Fachfrau – führt jetzt die Buchhandlung, deren Sortiment nicht nur um DVDs und CDs, sondern zum Entsetzen Kohlhoffs auch um Gesellschaftsspiele, Tee und Schokolade erweitert wurde. Der altgediente Buchhändler genießt bei der jungen Inhaberin nur noch sein „Gnadenbrot“: Er darf langjährigen Stammkunden die bestellten Bücher ins Haus bringen. „Auf dem Rücken trug er einen abgescheuerten alten Lederrucksack, prall gefüllt mit Büchern, jedes davon in Packpapier und Kordel gehüllt, damit es keinen Schaden nahm, als wäre es ein Geschenk. Alle nannten ihn nur den Buchspazierer.“
Im weiteren Verlauf der Handlung lernen wir die neunjährige, sehr aufgeweckte Charlotte kennen, die in den kommenden Tagen den Buchspazierer zu seinen Kunden begleiten und ihm später nach Verlust dieser letzten Aufgabe aus seiner Not heraushelfen wird. Es waren „Menschen, die …. ihre Augen gerne über die Buchrücken streifen ließen, weil in den Büchern Menschen lebten, denen sie sich verbunden fühlen, weil sich dort Schicksale ereigneten, die sie teilten.“ Beiläufig charakterisiert der Autor auch uns Leser. Er kennt die Hasen, die Bücher mit Rekordgeschwindigkeit lesen, dass sie zwar Wörter, nicht aber den Gehalt eines Buches aufnehmen. Da ist der Kiebitz, der immer erst das Ende eines Romans kennen muss, bevor er vorn zu lesen beginnt, oder auch der Schildkröten-Typ, der allabendlich vor Müdigkeit nicht über ein Kapitel hinauskommt und dieses am nächsten Abend nochmals liest, weil er das Gelesene schon wieder vergessen hat.
„Der Buchspazierer“ ist nicht nur eine warmherzige, fast poetische Geschichte über den Zauber der Literatur. Henn beschreibt seine Figuren voller Zuneigung. Es geht in seinem Roman nicht nur um Bücher und ihre Leser, sondern auch um Freundschaft und Achtsamkeit und um die kleinen Dinge des Lebens. Mag sich unsere Gesellschaft auch ständig wandeln, tröstet der Autor uns Bücherfreunde: „Das geschriebene Wort wird immer bleiben, weil es Dinge gibt, die auf keine Art besser ausgedrückt werden können.Und der Buchdruck ist die beste Konservierungsmethode für Gedanken und Geschichten.“
Der zauberhafte Roman „Der Buchspazierer“ mag vielleicht nicht höchsten literarischen Ansprüchen genügen. Die kleine Geschichte ist dafür doch zu märchenhaft und die Figuren sind zu seicht gezeichnet. Eher scheint es, als hätte sich der Autor hier etwas von der Seele geschrieben: seine sehr persönliche Meinung über den Wandel des deutschen Buchmarktes und Buchhandels. Dennoch – oder gerade deshalb! – ist „Der Buchspazierer“ ein charmanter, empathischer Wohlfühlroman für Buchliebhaber und ein ideales Geschenk für jeden Bücherfreund.

Veröffentlicht am 10.01.2021

Weniger Krimi, aber historisch faszinierend

Im schwarzen Wasser
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REZENSION – Vor einem Jahrzehnt hatte Petra Oelker (73) ihre um das Jahr 1770 in Hamburg spielende Kriminalreihe mit dem zehnten Band „Die Nacht des Schierlings“ abgeschlossen. Nun folgte doch noch mit ...

REZENSION – Vor einem Jahrzehnt hatte Petra Oelker (73) ihre um das Jahr 1770 in Hamburg spielende Kriminalreihe mit dem zehnten Band „Die Nacht des Schierlings“ abgeschlossen. Nun folgte doch noch mit „Im schwarzen Wasser“ ein elfter Band, der trotz zehnjähriger Schreibpause chronologisch an den Vorgängerband anschließt und wieder mit einem Mord beginnt.
Im Mai 1774 wird in der Gerberei an der Kleinen Alster – damals ein See südlich der Binnenalster, heute nur noch ein schmaler Fleet am Rathausmarkt – der Leichnam eines jungen Mannes in der Lohebrühe gefunden. Niemand kennt den Fremden, der sich erst seit wenigen Tagen in der Stadt aufhielt und sich als Erfinder ausgab. Wem mag dieser Unbekannte nach nur wenigen Tagen schon im Weg gewesen sein? Weddemeister Wagner kommt bei der Aufklärung dieses geheimnisvollen Falles nicht voran.
Wer nun in Oelkers Roman einen echten Krimi erwartet, dürfte bald enttäuscht sein. Denn spannend ist „Im schwarzen Wasser“ nicht unbedingt. Der Weddemeister, den man als Vorgänger heutiger Kriminalkommissare sehen kann, geht seiner Arbeit eher lustlos nach, und die Ermittlung tritt in der nachfolgenden Handlung fast völlig in den Hintergrund. Erst im letzten Fünftel dieses 400-Seiten-Romans nimmt der Kriminalfall wieder Fahrt auf, endet dann aber unerwartet. Die eigentlichen Hintergründe, die letztlich zur Lösung des Falles geführt haben, erfahren wir von der Autorin, fast als seien sie Nebensache, in einem kurzen, abschließenden Rückblick. Dieser Roman ist also keineswegs, wie vom Verlag irreführend angegeben, ein Krimi, stattdessen aber eine lebensechte Alltagsschilderung des Lebens und Arbeitens im aufstrebenden Hamburg zur Zeit des Wandels von der mittelalterlichen Hansestadt in die neuzeitliche vorindustrielle Handels- und Hafenstadt.
So gesehen, ist der Autorin eine faszinierende historische Abhandlung gelungen, die vor allem jenen Lesern gefallen dürfte, die der Stadt Hamburg eng verbunden sind. Aber auch alle anderen geschichtlich interessierte Leser kommen auf ihre Kosten. Oelker beschreibt die Arbeit eines Gerbers und der Stadtleichenfrau ebenso wie die eines Stadtphysikus. Wir erfahren viel über das noch kleine Hamburg mit seinen engen und schmutzigen Gassen, bemerkenswerten Gebäuden und Institutionen, das außerhalb seiner kreisförmigen Stadtmauer im Osten noch von riesigen Gärten und Äcker (heute St. Georg) umgeben ist, im Westen von innerstädtisch störendem Gewerbe wie Tran-Brennereien und Bordellen (heute St. Pauli). Neben fiktiven Figuren begegnen uns, geschickt in die Handlung eingebunden, reale Persönlichkeiten jener Zeit.
Reine Krimi-Leser werden bei „Im schwarzen Wasser“ kaum auf ihre Kosten kommen, dient der Mordfall doch nur als Auftakt zu einer interessanten Alltagsschilderung Hamburgs im Jahr 1774. Manche Seite überliest man vielleicht auch etwas schneller, wenn die Autorin in ihrer Beschreibung allzu kleinteilig wird. Doch überwiegend beschreibt Petra Oelkers dieses alltägliche, eigentlich unspektakuläre Leben der Hamburger Arbeiter und Bürger sowie die Atmosphäre und Stimmung jener Zeit so wirklichkeitsnah sowie ihre so verschiedenen Figuren und deren Hausgemeinschaften so bezaubernd, dass man bei der Lektüre dieses leicht lesbaren und gut unterhaltenden Romans fast glauben könnte, selbst durch die nächtliche Mattentwiete zu laufen, dem Stadtphysikus beim Sezieren im Anatomischen Theater zuzuschauen oder inmitten der Arbeiter beim Bier im Eschenkrug oder der Kaufleute beim Mocca in Jensens Kaffeehaus zu sitzen.

Veröffentlicht am 02.01.2021

Packende Familiensaga zum Thema Umweltschutz

Das Flüstern der Bäume
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REZENSION – Nach seinem gleich für den kanadischen Giller Prize nominierten Romandebüt „If I fall, if I die“ (2015) wurde nun mit „Das Flüstern der Bäume“ der zweite, ebenfalls für den höchstdotierten ...

REZENSION – Nach seinem gleich für den kanadischen Giller Prize nominierten Romandebüt „If I fall, if I die“ (2015) wurde nun mit „Das Flüstern der Bäume“ der zweite, ebenfalls für den höchstdotierten Literaturpreis Kanadas nominierte Roman von Michael Christie verdient auf Deutsch übersetzt. Es ist die über vier Generationen überaus spannend erzählte Familiengeschichte der Greenwoods, die im Zukunftsjahr 2038 beginnend bis ins Jahr 1908 zurückreicht. Doch im Kern dieser ungewöhnlichen Familiensaga mit ihren problematischen Schicksalen geht es eigentlich um Umweltschutz, um die Ausbeutung der Natur durch den Menschen, den Klimawandel und das aktuelle Baumsterben.
Christie vergleicht die Familie mit einem Wald. Ähnlich solcher Ansammlung von Bäumen, die durch Wurzelwerk miteinander verbunden sind, ist für den Autor auch die Familie ein Verbund von Einzelwesen wie „im Wind hilflos kreiselnde Samen“ - hilflos kreiselnd wie jeder Greenwood zu seiner Zeit, doch alle schicksalshaft verbunden mit den Wäldern Kanadas. Christies Geschichte beginnt in nicht allzu ferner Zukunft des Jahres 2038. Papier ist schon Mangelware und Bücher sind wertvolle Raritäten. Die junge Botanikerin Jacinda Greenwood arbeitet als Naturführerin auf Greenwood Island, einer wegen ihrer jahrhundertealten Bäume geschützten Insel, „der höchsten Konzentration von Biomasse auf dem gesamten Planeten“. Reiche Festlandbewohner pilgern zur Erholung in diese Oase, denn auf dem Festland sind „so viele der großen Bäume nun verschwunden, ersetzt durch vollklimatisierte Türme aus Glas und Stahl“. Der Sandstaub über dem dürren, ausgetrockneten Festlandboden macht das Leben im Freien fast unmöglich, viele Bewohner leiden an Asthma. Doch selbst diese sauerstoffreiche Insel dient unter dem täuschenden Etikett des Umweltschutzes mit dem Angebot des „Waldbadens“ als Pilgerstätte der „Baumunterhaltungsbranche“ längst der kommerziellen Nutzung durch die Großindustrie.
Jacinda Greenwood ist vaterlos aufgewachsen, weiß nichts von ihren Vorfahren. Erst das kürzlich aufgefundene Tagebuch ihrer Urgroßmutter ist für sie Auslöser, sich intensiver mit der Familiengeschichte zu befassen. Wie an den Jahresringen einer Baumscheibe von außen zum innersten Kern führt uns der Autor aus dem Jahr 2038 generationsweise zurück in die schicksalshaften Zeiten des umweltzerstörenden „großen Welkens“ (2008), weiter durch die Hippie-Ära und Zeit der Protestbewegung (1974) sowie die Jahre der Weltwirtschaftskrise (1934) bis ins Jahr 1908. Damals wurden zwei Waisenjungen kurzerhand zu Brüdern erklärt, denen man den Namen Greenwood gab. Über die Jahresringe geht es dann wieder von innen nach außen zurück ins Jahr 2038. Wir lernen die Vertreter der Greenwood-Generationen – die junge Jacinda, ihren Vater Liam, Großmutter Willow bis zu Harris und Everett kennen – und für jeden ist der Wald auf Greenwood Island bedeutsam als Ort des Überlebens, als Versteck, für das persönliche Glück oder Unglück. Autor Michael Christie, der selbst mit seiner Familie auf einer kanadischen Insel in einem selbst gezimmerten Holzhaus lebt, schildert anhand der teilweise ergreifenden Schicksale seiner Protagonisten den noch vor Jahrzehnten als selbstverständlich hingenommenen Raubbau an der Natur und das viel zu spät einsetzende Umdenken bis auch die letzten Oasen gesunder Natur zu schwinden scheinen.
„Das Flüstern der Bäume“ ist eine empfehlenswerte, packend geschriebene Familiensaga mit äußerlich stark erscheinenden, doch in ihren verborgenen Schwächen berührenden Charakteren. Michael Christie weiß trotz seiner ängstigenden Botschaft mit seinem Roman durchaus auch zu unterhalten. Nur am Ende bleibt ein mulmiges Gefühl zurück: Kann das Baumsterben noch aufgehalten und die Natur gerettet werden? Der Autor bleibt uns die Antwort schuldig.