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Veröffentlicht am 04.07.2020

Man bleibt als Leser nachdenklich zurück

Jenseits der Erwartungen
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REZENSION – Ein angenehmes, sogar fröhliches Wiedersehen alter Jugendfreunde könnte es im Spätsommer 2015 werden, zu dem der inzwischen 66-jährige Immobilienmakler Lincoln seine beiden Studienkollegen, ...

REZENSION – Ein angenehmes, sogar fröhliches Wiedersehen alter Jugendfreunde könnte es im Spätsommer 2015 werden, zu dem der inzwischen 66-jährige Immobilienmakler Lincoln seine beiden Studienkollegen, den Verleger Teddy und den Musiker Mickey, „um der alten Zeiten willen“ in sein altes Sommerhaus auf der kleinen Ferieninsel Martha’s Vineyard vor der Südküste von Cape Cod im Bundesstaat Massachusetts einlädt. So beginnt auch der im Mai auf Deutsch erschienene Roman „Jenseits der Erwartungen“ des amerikanischen Pulitzer-Preisträgers Richard Russo (70) noch recht beschaulich, nimmt aber immer mehr Tempo auf, um schließlich dramatisch zu enden. Nichts ist mehr so, wie anfangs erwartet.
Auf dem College waren die drei jungen Männer, alle aus kleinbürgerlichem Elternhaus, zu Freunden geworden. Die Studiengebühren mussten sie sich in einem Restaurant hart erarbeiten. Sie fühlten sich wie die drei Musketiere und waren alle gleichermaßen in die Elite-Studentin Jacy Calloway verliebt. Nach dem Abschluss im Jahr 1971 trafen sie sich zu viert ein letztes Mal im Sommerhaus, das damals noch Lincolns Mutter gehörte, bevor Mickey als Soldat nach Vietnam gehen und die anderen ins Berufsleben einsteigen sollten. Doch kurz vor dem gemeinsamen Abschied verschwand Jacy spurlos und blieb verschollen. Bis zum jetzigen Wiedersehen, 44 Jahre später, hat keiner der drei Männer die Freundin vergessen, und die Frage, ob und wen von ihnen Jacy geliebt haben mochte, blieb unbeantwortet. Jacys rätselhaftes Verschwinden beherrscht die Gespräche der alt gewordenen Männer. In Rückblenden erfahren wir vom damaligen Wochenende, von der familiären Herkunft und dem weiteren Leben der drei Freunde, zunächst erzählt jeweils aus Lincolns und Teddys persönlicher Sicht. Erst zum Schluss erzählt Mickey seine eigene Geschichte und löst das Rätsel um diesen ungelösten Kriminalfall.
"Chances are", so der Titel der amerikanischen Romanausgabe, heißt auch ein alter Hit von Popsänger Johnny Mathis (84), den die jungen College-Absolventen an ihrem Abschiedsabend vor über vier Jahrzehnten auf der Insel gemeinsam und voller Erwartungen gesungen hatten. Und so handelt auch Russos Roman von den Chancen, die sich die vier vom künftigen Leben erhoffen. Doch die Träume zerplatzen und auch von der Freundschaft der drei Musketiere bleibt nur noch der Schein. Man ist sich nach jahrzehntelanger Trennung fremd geworden.
Der schildert mit der Erfahrung und Menschenkenntnis eines 70-Jährigen und mit der Kunst eines großartigen Erzählers in persönlichen Rückblenden der drei Männer deren weiteren Lebensweg, ihre teils krampfhaften Versuche, sich von den spießbürgerlichen Erwartungen der Eltern zu lösen und dank eigener Entscheidungskraft ein eigenständiges, ein besseres Leben zu führen, um dann doch als Erwachsene ähnliche Fehler wie die Eltern zu machen. Im fast zwanghaften Kampf, das Unabänderliche zu ändern, versäumen sie, die wenigen wirklichen Chancen für ein selbstbestimmtes Handeln zu ergreifen, um ihr Leben selbst zu bestimmen. Nach 44 Jahren zeigt jeder nur noch ein Wunschbild seiner selbst, ohne sich so anzuerkennen, wie er „jenseits der Erwartungen“ geworden ist.
Russos empfehlenswerter Roman „Jenseits der Erwartungen“ ist eine von Seite zu Seite immer spannender sich entwickelnde Geschichte, die schließlich in einem erschreckenden Finale endet und den Leser nachdenklich zurücklässt – nachdenklich über die eigene Person, den eigenen Lebensweg, die eigenen Erwartungen aus Jugendzeiten.

Veröffentlicht am 10.06.2020

Historisch genauer, ungemein spannender Krimi

Hungerwinter
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REZENSION – Die Hauptstadt Berlin, aufgeteilt in vier Besatzungszonen, liegt in Trümmern, zerbombte Wohnungen sind nur notdürftig hergerichtet. Die Einwohner versuchen, ihr bescheidenes Leben neu einzurichten. ...

REZENSION – Die Hauptstadt Berlin, aufgeteilt in vier Besatzungszonen, liegt in Trümmern, zerbombte Wohnungen sind nur notdürftig hergerichtet. Die Einwohner versuchen, ihr bescheidenes Leben neu einzurichten. Vorkriegsganoven wandeln sich zu zwielichtigen Geschäftsleuten, einst überzeugte Nazis zu unbescholtenen Bürgern. Im November 1947 fällt der erste Schnee, Lebensmittel sind knapp. Es ist der „Hungerwinter“, den der Historiker und Schriftsteller Harald Gilbers (51) im gleichnamigen fünften Band seiner faszinierenden, bereits in acht Sprachen übersetzten und mit internationalen Preisen ausgezeichneten Krimireihe um den jüdischen Kriminalkommissar Richard Oppenheimer in vielen Fakten und Facetten ungemein eindrücklich beschreibt.
Ausgehend von einem als Notwehr nur dürftig getarnten Mord, den der von den Nazis einst entlassene und erst kürzlich wieder als Kommissar in den Polizeidienst zurückgekehrte Oppenheimer mit seinem Assistenten Wenzel recht schnell aufdecken können, entwickelt Gilbers eine zeitgeschichtliche Dokumentation jenes zweiten Nachkriegsjahres, die nicht nur für die damalige Situation in Berlin gilt, ähnelte sie doch auch jener in anderen deutschen Großstädten. In realistischen, in ihrer Kleinteiligkeit filmreif inszenierten Bildern erfahren wir viel über die alltägliche Lebenssituation der Berliner bis hin zu der wegen Lebensmittelknappheit geschmacklich fragwürdigen Ersatznahrung. Die allgemeine Lage ist völlig unübersichtlich, die Besatzungsmächte arbeiten unkoordiniert, der Beginn des Kalten Krieges zwischen den drei Westalliierten, vor allem den Amerikanern, und den Sowjets zeichnet sich schon deutlich ab. Kommissar Oppenheimer weiß nicht mehr, wem er vertrauen darf. Nicht nur, dass er in seiner Dienststelle mit dem „Kleenen Hans“ einen vormaligen Kleinkriminellen unerwartet als Polizeianwärter wieder trifft, sondern auch Nazi-Verbrecher haben mit gefälschtem Lebenslauf bei der Kripo eine neue, unverdächtige Identität gefunden. Nicht einmal den engsten Mitarbeitern kann man trauen. Sogar sein langjähriger Kollege Billhardt, der während eigener Ermittlungen in einem Mordfall plötzlich verschwindet, scheint bei seinem kurzen Kriegseinsatz an der Ostfront schuldig geworden zu sein.
Obwohl „Hungerwinter“ bereits der fünfte Band der im Jahr 1944 beginnenden Oppenheimer-Reihe ist, kann man ihn auch dann unbesorgt lesen, wenn man die vier Vorgängerbände nicht kennt. Die Handlung eines jeden Bandes ist in sich abgeschlossen, die handelnden Personen ausreichend charakterisiert, um sie lebendig werden zu lassen. Zentrales Thema in „Hungerwinter“ ist der strategische Aufbau der so genannten „Rattenlinien“ im Nachkriegsdeutschland, über die einerseits der argentinische Präsident Perón, andererseits auch der Vatikan hohe Nazi-Funktionäre und Kriegsverbrecher mit Hilfe deutscher Schleuser nach Übersee schaffen. Wir erfahren Interessantes über die politischen Hintergründe und die Motivation der Verantwortlichen und Strippenzieher. Gleichzeitig lesen wir über die Anfänge der Organisation Gehlen, die gerade mit Hilfe erfahrener Nazis und geduldet von den Amerikanern als neuer deutscher Geheimdienst aufgebaut wird.
Dem Historiker Gilbers gelingt es in seinem Roman hervorragend, uns die geschichtlichen Hintergründe in ihren wichtigsten Einzelheiten umfassend zu vermitteln. Der Bestseller-Autor Gilbers schafft es, diese Fakten passgenau in eine derart spannende Krimihandlung einzuflechten, dass man „Hungerwinter“ gar nicht mehr aus der Hand legen mag.

Veröffentlicht am 03.06.2020

Hervorragende literarische Fortsetzung des Films "Der Untergang"

Acht Tage im Mai
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REZENSION – Völlig zu Recht kam „Acht Tage im Mai“, das kürzlich im Verlag C. H. Beck erschienene Buch des Historikers Volker Ullrich (76) über „die letzte Woche des Dritten Reiches“, im Juni auf Platz ...

REZENSION – Völlig zu Recht kam „Acht Tage im Mai“, das kürzlich im Verlag C. H. Beck erschienene Buch des Historikers Volker Ullrich (76) über „die letzte Woche des Dritten Reiches“, im Juni auf Platz 1 der Sachbuch-Bestenliste. Denn überaus interessant und fesselnd geschrieben, dabei trotz der schnellen Abfolge damaliger Ereignisse vom Leser leicht nachvollziehbar, schafft es der Autor, seinen Lesern einen umfassenden Einblick in die militärisch und politisch komplexen Geschehnisse nach Hitlers Selbstmord bis zur Kapitulation zu vermitteln.
Volker Ullrich schildert chronologisch Tag für Tag diese „zeitlose Zeit“, die Woche des für die Deutschen nur scheinbaren Stillstands in der „Lücke zwischen dem Nichtmehr und dem Nochnicht“, wie der Schriftsteller Erich Kästner zitiert wird. Wir lesen vom täglichen Vorrücken der sowjetischen Truppen vom Osten und der Alliierten vom Westen, von Massenvergewaltigungen und „Selbstmordepidemien“, von Todesmärschen und Vertreibungen, von befreiten Konzentrationslagern und ersten Absetzbewegungen höchster Nazi-Funktionäre. Und wir erfahren von ersten Anzeichen politischer Differenzen zwischen den Westalliierten und den Sowjets, die bald zum Kalten Krieg führten.
Aus unzähligen Quellen, auf die der Autor in einem 30-seitigen Anhang verweist, ergänzt um ein Literatur- und Personenregister, formt Volker Ullrich aus „historischen Miniaturen und Mosaiksteinen“, wie es der Klappentext verspricht, „ein Panorama dieser letzten Woche des Deutschen Reiches“. Ein fortwährender Wechsel der Perspektive – mal aus Sicht der heimatlos oder ausgebombten Deutschen, belegt durch Tagebuchnotizen bekannter (Anne Frank) und unbekannter Personen, mal aus Sicht der provisorischen Regierung unter Großadmiral Dönitz sowie abwechselnd aus der Perspektive der westalliierten sowie sowjetischen Kommandeure und Staatschefs – lässt beim Leser aus Puzzleteilen ein umfassendes Gesamtbild entstehen, ohne den roten Faden des historischen Zusammenhang zu verlieren.
Nicht nur historisch interessierte Leser, sondern auch Freunde der Literatur kommen bei Lektüre dieses Buches auf ihre Kosten, da Ullrich einige Bücher zeitgenössischer Autoren als Quellen nutzt. Natürlich gehören die Tagebücher von Viktor Klemperer oder Bertolt Brecht ebenso dazu wie die „Erinnerungen eines Davongekommenen“ (2007) von Ralph Giordano. Aber auch das Kriegstagebuch „Eine Frau in Berlin“, das mit Unterstützung des Schriftstellers Kurt W. Marek alias C. W. Ceram erst 1953 mit Verspätung veröffentlicht wurde, schildert die Schrecken des Kriegsausgangs. Sogar etwas Hollywood-Glamour fehlt nicht in Ullrichs Buch, wenn er die Suche des deutschen Hollywoodstars Marlene Dietrich nach ihrer Schwester in Bergen-Belsen schildert (dazu: Heinrich Thies, „Fesche Lola, brave Liesel. Marlene Dietrich und ihre verleugnete Schwester“, 2017).
Beim Lesen dieses Buches läuft das komplexe Endzeit-Geschehen der letzten Kriegswoche wie im Film in packend kurzer Szenenfolge vor dem geistigen Auge ab - ohne die bei historischen Werken oft langatmigen Ausschweifungen. Im Gegenteil: Volker Ullrich lässt seinen Lesern kaum Zeit zum Reflektieren. Gerade diese schnelle Szenenfolge ist es, die bei der Lektüre für anhaltende Spannung sorgt und das Buch „Acht Tage im Mai“ auch solchen Lesern empfehlenswert macht, denen das Genre historischer Sachbücher sonst eher nicht zusagt. Wer vom Film „Der Untergang“ (2004) über die letzten Tage Hitlers im Führerbunker fasziniert war, findet in Ullrichs Buch eine hervorragende literarische Fortsetzung.

Veröffentlicht am 15.05.2020

Packender Thriller ums Überleben der Menschheit

Leben
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REZENSION – Weltweit starben bis Mitte Mai etwa 300 000 Menschen an Covid-19. Diese Zahl sowie der globale Verlauf der aktuellen Corona-Pandemie und deren Auswirkungen auf Menschen in aller Welt sind es, ...

REZENSION – Weltweit starben bis Mitte Mai etwa 300 000 Menschen an Covid-19. Diese Zahl sowie der globale Verlauf der aktuellen Corona-Pandemie und deren Auswirkungen auf Menschen in aller Welt sind es, die den Wissenschafts- und Umweltthriller „Leben“ von Uwe Laub (49), im April im Heyne-Verlag erschienen, vom Autor ungewollt und völlig überraschend so erschreckend aktuell werden lassen. Denn seinen Roman hatte Laub bereits im Sommer 2019 abgeschlossen, als von Covid-19 noch lange nicht die Rede war.
Das eigentliche Thema des Romans ist deshalb auch nicht ein einzelnes Virus, sondern die grundsätzliche Gefährdung der Spezies Mensch als kleines, wenn auch beherrschendes Glied unseres globalen Ökosystems. Wie das Titelbild des Buches das in einer Sanduhr verrinnende Leben zeigt, geht es in Laubs Roman um nichts Geringeres als das Überleben der Menschheit, das durch das von Wissenschaftlern anhand der Vielzahl bereits ausgestorbener Spezies längst begonnene sechste Massensterben in unserer Erdgeschichte vorausgesagt wird.
Folgerichtig beginnt Laubs ungemein fesselnder Thriller „Leben“ mit dem Tod: Wildtiere verenden in Südafrika zu Tausenden ebenso wie in Europa. Bedrohte Tierarten sterben binnen Tagen aus, andere sind durch das Arten übergreifende Massensterben in ihrer Existenz bedroht. Sogar die Menschheit scheint todgeweiht, wie der junge Pharmareferent Fabian Nowack feststellen muss. Er ist bereits am todbringenden Progerie-Syndrom erkrankt, einem unheilbaren Gen-Defekt, der binnen weniger Wochen weltweit 200 Millionen Todesopfer gefordert hat. Die Jagd nach einem Heilmittel wird zum Kampf ums Überleben.
Zwei Pharmakonzerne stellt der Autor gegenüber: Der eine behauptet, ein wirksames Medikament entwickelt zu haben und verdient Milliarden an der Pflichtimpfung aller Menschen, obwohl Insidern bewusst wird, dass dieses Medikament letztlich doch nicht hilft, sondern nur den Tod hinauszögert. Das Medikament des anderen Konzerns würde tatsächlich heilen, doch dessen Konzernchef vertritt als radikaler Umweltschützer die Ansicht, der Globus vertrage nur eine Milliarde Menschen, weshalb er sein Medikament an entsprechend Auserwählte verteilen lässt und bewusst den Tod der restlichen sieben Milliarden Menschen in Kauf nimmt.
In seinem Thriller verbindet Uwe Laub, der bereits durch seinen Überraschungserfolg „Blow Out“ (2013) und den Bestseller „Sturm“ (2018), der 2019 für den Deutschen Phantastikpreis 2019 nominiert war, sich einen Namen als Autor von Umwelt- und Wissenschaftsthrillern einen Namen gemacht hat, nach mehrjähriger Recherche auf faszinierende Weise wissenschaftliche Fakten und eine überaus spannende Handlung um seinen Protagonisten Fabian Nowack. So tröstlich der fesselnde Spannungsroman auch endet, wirkt seine drängende Botschaft, bedingt durch viele Handlungsdetails zur aktuellen Corona-Lage, momentan umso nachdrücklicher und nachhaltiger. Ob wir Menschen aus der aktuellen Pandemie unsere Lehren ziehen und diese Krise als einmalige Chance zu mehr Klima- und Naturschutz nutzen werden? Der britische Physiker Stephen Hawking (1942-2018) begrenzte die verbleibende Lebensdauer der Menschheit auf nur noch hundert Jahre, sollten wir unsere Lebensweise beibehalten. Schuld sei die stetig wachsende Übervölkerung der Erde durch die Spezies Mensch, dessen Raubbau an der Natur sowie seine schädigenden Eingriffe in das sensible Ökosystem.

Veröffentlicht am 14.05.2020

Zauberhafter Roman mit romantisch-bildhafter Sprache

Offene See
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REZENSION – Ein belletristisch seltener Genuss ist der im März bei Dumont veröffentlichte Roman „Offene See“ des englischen Schriftstellers Benjamin Myers (44), weshalb man dem Verlag zu diesem Glücksgriff ...

REZENSION – Ein belletristisch seltener Genuss ist der im März bei Dumont veröffentlichte Roman „Offene See“ des englischen Schriftstellers Benjamin Myers (44), weshalb man dem Verlag zu diesem Glücksgriff nur gratulieren kann. Es ist vor allem die in romantischen Bildern berauschende Sprache, die diesen ersten in deutscher Übersetzung erschienenen Roman des zuvor schon mehrfach ausgezeichneten Autors so fasziniert und berührt, weshalb auch den Übersetzern Klaus Timmermann und Ulrike Wasel für dieses literarische Erlebnis zu danken ist.
Nicht nur sprachlich, auch in seiner Handlung versetzt uns der Roman „Offene See“ gefühlsmäßig ins Zeitalter der Romantik, als sich im 19. Jahrhundert heranwachsende Kavaliere auf ihre Grand Tour, ihre kulturelle Bildungsreise durch Europa, begaben. „Ich blieb stehen, um meine Feldflasche am Straßenrand an einer Quelle zu füllen, die in einen Steintrog plätscherte, und kam mir vor, als hätte ich ein Gemälde betreten.“ Doch der 16-jährige Robert Appleyard ist weder Kavalier noch lebt er im 19. Jahrhundert. Myers Geschichte spielt in Nordengland im Jahr 1946, also kurz nach Kriegsende. Der 16-jährige Schulabsolvent scheut die Enge seines augenblicklichen Lebenshorizonts und die Schlichtheit seines dörflichen Lebens sowie den allen Männern seiner Familie vorbestimmten grauen und tristen Alltag als Bergarbeiter. Er sehnt sich nach Weite, nach farbenprächtiger Natur, nach dem noch undefinierbaren Neuen, weshalb er sich auf die Wanderung zur offenen See aufmacht.
Doch noch bevor er die offene Küste erreicht, trifft er abseits der Straße auf ein heruntergekommenes Cottage, dessen schon ältere Bewohnerin Dulcie ihn zum Tee einlädt. Aus einem Nachmittag werden Wochen. Robert bringt den verwilderten Garten der alleinstehen Frau, dessen hochgewachsene Hecken die Sicht auf das Meer versperren, wieder in Ordnung. In diesen Sommermonaten wird die unverheiratete Dulcie, die sich nach erlebnisreichen Reisen und abenteuerlichem Leben in die Einsamkeit ihres Cottages zurückgezogen hat, in ihrer burschikosen und unkonventionellen Art zur Lehrmeisterin des jungen und noch unerfahrenen Robert. Nicht selten überrascht sie ihn mit ihren ungewöhnlichen Ansichten zur Lebensführung, mit ihrer drastischen und offenen Art, Dinge beim Namen zu nennen.
Dulcie gibt ihm ungeachtet seiner begrenzten schulischen Bildung die Klassiker der Weltliteratur, Gedichte und Romane, zu lesen, von denen manche wie „Lady Chatterley’s Lover“ von D. H. Lawrence nur zensiert oder unter dem Ladentisch zu bekommen waren. In langen Gesprächen schärft sie Roberts Blick für das Wesentliche im Leben und ermuntert ihn vor allem, seinen Neigungen zu folgen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. „Ich lebte das Leben, das ich leben wollte“, erinnert sich Robert später als alternder Schriftsteller.
Myers Roman „Offene See“ ist eine Lobeshymne auf das wahre Leben und dessen schöne Seiten, auf eine breitgefächerte kulturelle und humanistische Allgemeinbildung. Mit der romantisch-bildhaften und klangvollen Sprache seines zauberhaften Romans gelingt es dem Autor – und den beiden Übersetzern –, ähnlich wie im Falle Robert Appleyards gleichsam Musik und Farbe auch in unseren oft grauen Alltag zu bringen.