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Carl

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Veröffentlicht am 21.12.2020

Beginn der Aufsässigkeit am Vorabend des Ersten Weltkriegs

Die Tote in der Sommerfrische
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Historienkrimis sind ein zunehmend beliebtes Genre. Spätestens seit Volker Kutscher seine Gereon Rath Reihe im Berlin der verklingenden Weimarer Republik ansiedelte und damit ungeahnte Erfolge feiern durfte, ...

Historienkrimis sind ein zunehmend beliebtes Genre. Spätestens seit Volker Kutscher seine Gereon Rath Reihe im Berlin der verklingenden Weimarer Republik ansiedelte und damit ungeahnte Erfolge feiern durfte, finden sich Nachahmer. Elsa Dix zum Beispiel, die ihren Erstling 1912 spielen lässt und somit zeitlich ansiedelt unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg. Spielstätte ist die ostfriesische Insel Norderney, von der die in Düsseldorf lebende Autorin sagt, es sei die Insel, auf der sie am liebsten ihre Urlaube verbringe. Die alte Architektur habe in ihr die Idee zu dem Krimi reifen lassen.

So weit so gut. Ich glaube ihr ja, wenn sie in eineinhalb Seiten (!) Danksagung schreibt, der Stadtarchivar der Insel habe sie ausführlich über das Norderney des Jahres 1912 informiert. Mag ja sein. Aber leider hat Frau Dix es nicht verstanden, das in Atmosphäre umzusetzen. An keiner Stelle im Buch hatte ich das Gefühl, mich im Jahr 1912 zu bewegen. Im Gegenteil. Es war vielmehr so, als führten mich zweitklassige Schauspieler, die in die Mode der Belle Epoque gesteckt worden sind und sich darin bewegten und sprachen wie Aufziehpuppen, durch eine Kulisse. Der karge Hinweis auf den wenige Monate vor der Zeit, in der der Roman angesiedelt ist, erfolgten Untergang der Titanic oder den Einsturz einer Landungsbrücke in Binz auf Rügen, bei der 17 Menschen starben, sind nicht geeignet, das Zeitkolorit zu färben und den Lesern die Atmosphäre jener Epoche zu vermitteln. (Hier noch eine Klugscheißerei am Rand: Das Unglück in Binz war Anlass, die DLRG ins Leben zu rufen.)

Das liegt möglicherweise an den vergeblichen Bemühungen von Dix, ihren Akteuren zeitgemäße Sprache in den Mund zu legen. Dabei beweist sie weder ein glückliches Händchen noch viel Geschick. Die sprachlichen Unterschiede zwischen Adel, Großbürgertum und Arbeitern vermag sie nur unzulänglich herauszuarbeiten. Etwas Studium der Schriften der Mann-Brüder Thomas und Heinrich hätte viel dazu beitragen können. Sie missachtet außerdem den semantischen Wandel von Begriffen von damals zu heute.

Es sei nur ein Beispiel genannt. Sie verwendet den Begriff „vor Ort“ in der Bedeutung, die sich in den vergangenen zwei, drei Jahrzehnten bildete: „sich an Ort und Stelle zu befinden“. Tatsächlich bedeutete vor fast 110 Jahren „vor Ort“ – ein Begriff, der aus Sprache der Kumpel, der Bergleute, stammt – sich unter Tage aufzuhalten. Und zwar dort „vor Ort“, wo Kohle oder Erz abgebaut werden. Vor allem beherrschte das Großbürgertum und der Adel von 1912 noch die damals geltende deutsche Grammatik. Etwas, womit sich die Elsa Dix von 2020 schwer tut. Etwa in dem sie den Konjunktiv II mehrheitlich in der sprachlich-ästhetisch fragwürdigen Form mit „würde“ bildet, statt die korrekte konjugierte Verbform zu verwenden, der häufig auch noch der passende altertümliche Klang anhaftet und damit schon wieder zeitgemäß wäre.

Damals wusste man auch, dass ein deutscher Satz nach Subjekt – Prädikat – Objekt aufgebaut ist. Ein Satz wie dieser: „Und da haben Sie Ihre Eltern allein reisen lassen?“ bedeutet, dass die angesprochene Viktoria tatsächlich ihre Eltern allein wegfahren ließ. Gemeint ist aber tatsächlich, dass die Eltern ihre Tochter ohne Begleitung in die Sommerfrische reisen ließen. Wenn‘s die Autorin (leider) nicht beherrscht, sollte man zumindest vom Lektorat, spätestens vom Korrektorat erwarten, dass diese sinnentwertenden Formulierungen richtig gestellt werden.

Gleichzeitig biegt sich Elsa Dix die Realität zu Beginn des 20. Jahrhunderts so zurecht, wie sie glaubt, sie zu benötigen.

Da ist Viktoria Berg, aufsässige Tochter eines Staatsanwalts. In der dem Großbürgertum entstammenden jungen Frau schlummert der Drang nach Unabhängigkeit in einer Zeit, in der die Freiheit der Frauen von ihren Männern vorgegeben wurde. Und diese Unabhängigkeit erhofft sich Viktoria Berg erhalten zu können, indem sie Lehrerin wird. Dabei missachtet Dix, dass es zu dieser Zeit ein Lehrerinnen-Zölibat gab. Ein, natürlich von Männern geschaffenes, Verbot für Lehrerinnen zur Eheschließung. Heiratete eine Lehrerin dennoch, verlor sie ihre Privilegien wie Beamtenstatus und Pension. Und natürlich den Job. Eine Diskriminierung, auf die Elsa Dix mit keinem Wort eingeht. Und das, obwohl sie sich sonst über vieles, zu Recht, echauffiert.

Zwar erwähnt sie den Begriff „Lehrerinnen-Zölibat“, allerdings so lala nebenher, ohne es kritisch zu hinterfragen und ziemlich am Ende des Buches. Und es erweckt den Eindruck, als sei ihr dieses diskriminierende Edikt erst sehr spät zugeflüstert worden. Zu spät, um es noch sinnbringend in das weit fortgeschrittene Manuskript einzufügen.

Soweit zu den mangelnden Recherchen über das Jahr 1912, das politisch vor allem geprägt war vom Säbelrasseln Europas am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Davon erfährt man jedoch nichts. Kein Wort auch von den Olympischen Spielen, die zu dieser Zeit in Schweden ausgetragen wurden, kein Hinweis auf den in Deutschland umstrittenen Gerhart Hauptmann, der im Dezember des Jahres den Literaturnobelpreis erhielt. Dafür umso mehr Worte um einen Fotoapparat des Typs „Kodak Brownie“ – ein Gerät aus Pappe, das damals zwei Mark kostete – mit dem der Journalist Christian Hinrichs über die Insel eilt, um im Auftrag des Chefredakteurs der „Frau von Welt“ einen Bericht über die wohlhabenden Sommerfrischler auf Norderney zu schreiben.

Dabei stößt er auf die Leiche von Henny. Sie treibt im Meer, aber weder Christian noch Viktoria glauben daran, dass Henny Selbstmord beging. Noch dazu, da Viktoria Henny kennt, die einst im Berg‘schen Haushalt lebte und der Viktoria Nachhilfe in Lesen und Schreiben erteilte.

Und auch Christian ist ein Aufsässiger, der mit den Konventionen bricht und statt wie sein Vater im Schlachthaus die Schweinehälften zu zerteilen, lieber Journalist wird. Allerdings trägt er ein düsteres Geheimnis mit sich, das zwar im Verlauf des Buches gelüftet, nicht aber gelöst wird. Und so erfährt man nicht, auf welches Schicksal Christian Hinrichs zusteuert, als er die Insel in Richtung Hamburg verlässt, wo er sich für den Tod eines Polizisten verantwortlich glaubt.

Wem das Zeitkolorit gleichgültig ist, wer eine Liebesgeschichte mag, in der der pleite gehende Adel seine schwindenden Privilegien schamlos ausnutzt und wo der Standesdünkel auch familiäre Zwietracht sät, der ist mit der auch sprachlich leichten Kost von Elsa Dix Erstling gut bedient.

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Veröffentlicht am 21.11.2020

Jede Kuh ist intelligenter als dieses Buch

Sühne
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Es ist eines jener Bücher, für die mir die Bäume leid tun, die des Papiers wegen, auf das es gedruckt wurde, gefällt werden mussten. Wenn es neben Tschernobyl und Fukushima etwas gab, was man der Welt ...

Es ist eines jener Bücher, für die mir die Bäume leid tun, die des Papiers wegen, auf das es gedruckt wurde, gefällt werden mussten. Wenn es neben Tschernobyl und Fukushima etwas gab, was man der Welt hätte ersparen müssen, dann dieses Buch: Steffen Jacobsen – „Sühne“. Ist es schon vom Plot her gequirlte Kacke, wird die durch die eindimensionalen schwarz-weiß Figuren, die durch einen bräsigen Sprachbrei gezogen werden, nicht besser. Viele Stellen lesen sich, als seien sie per copy & paste aus einer Datenbank für Serienromane wahllos und ohne Zusammenhang aneinander gepinnt.

Es ist ein Buch, das mich maßlos geärgert hat. Dabei ist die Grundidee noch nicht mal schlecht. Ein Pharmakonzern entwickelt ein Medikament gegen eine Tropenkrankheit und stellt während der Erprobung in Äthiopien fest, dass es eine unerwartete Nebenwirkung hat: Es heilt in Windeseile auch Diabetes.

Dann aber die Entwicklung des Plots. Mir kam es vor, als habe ein 14-Jähriger seine traumatischen Pubertätserlebnisse verarbeiten wollen. Der Konzern, der auch fettes Geld mit Insulin verdient, heuert eine Killertruppe an, die alle umbringt, die mit dem Medikament in Berührung kamen. Nur ein Arzt überlebt. Als nun der Aufsichtsratsvorsitzende erfährt, dass er unheilbar Krebs hat, will er seine Geschichte biografisch veröffentlichen, was aber einigen Hintermännern im Konzern gar nicht gefällt. Sie lassen also den Mann umbringen und gleichzeitig auch den Journalisten, der als Ghostwriter die Biografie verfassen sollte. Nur dass dieser Ghostwriter ausgerechnet der Freund eines früheren Elitesoldaten ist, der einst für die Firma arbeitete, die die Morde in Äthiopien beging. Der macht sich nun daran, seinen Freund zu rächen. Dabei kommt er dem überlebenden Arzt auf die Spur, hinter dem auch die Killer her sind, weil der ja der einzige Zeuge des Massakers in Äthiopien ist.

Aber der Schwachsinn geht noch weiter: Inzwischen ist der einstige Elitesoldat selbst als Auftrags-Killer unterwegs und bringt eine Reihe Prominenter um, die alle in Ekel-Kinder-Snuff-Pornos verstrickt sind. Dabei stellt er sich aber derart dämlich an, dass seine Frau, die bei der dänischen Reichspolizei arbeitet, ihm auf die Schliche kommt. Aber sie liebt ihn ja: „Bedingungslos. Das simpelste und schwerste Unterfangen der Welt, weil du nicht leicht zu lieben bist.“ Frauenliebe aus unterbelichteter Männersicht.

In dieser Art gestelzter Dialoge nimmt sie ihm das Versprechen ab, seine Profession aufzugeben, sonst werde sie ihn verlassen. Haha, wer‘s glaubt. Außerdem muss die Alte ganz schön doof sein, wenn sie erst im fünften Band der Reihe merkt, was für‘n Macker der Erzeuger ihrer fünf Jahre alten Tochter ist.

Die Botschaft, die vermittelt wird: Kinderschänder müssen nicht vor Gericht, die darf man so umbringen. Und die Mörder von Kinderschändern tun eine gutes Werk für die Gesellschaft. Kriegsverbrecher dagegen sind alle nicht so schlimm. O-Ton Steffen Jacobsen: „Serbische Kriegsverbrecher gehen mir am Arsch vorbei. Um die soll sich derTeufel kümmern,“ lässt er seinen Helden sagen. Als ob serbische Kriegsverbrecher keine Kinder schänden.

Hab ich schon erwähnt, dass die Sprache derart platt, voller Klischees, kruder Metaphern und dummer Vergleiche ist, dass man die Verfasser der Jerry-Cotton-Hefte für den Literatur-Nobelpreis vorschlagen sollte? Gleichzeitig wird gewaltsam mit infantilem, billigem Witz versucht, eine Humorschiene zu legen. Beispiel: Als nämlich unser Held bei einem Anschlag fast zu Tode kommt, sein Bein vom gerammten Auto eingeklemmt wird, findet man ihm, wie zwei Kühe ihm tröstend das Gesicht ablecken.

Ganz ehrlich, ich halte jede Kuh für intelligenter als dieses Buch.

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Veröffentlicht am 08.11.2020

Beliebt bei Beerdigungen: Always Look at the Bright Side of Life

Book of Songs. Die Playlist für jede Lebenslage. Die wahren Geschichten hinter den 500 ultimativen Hits der Popmusik
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„Das Book of Songs, die Playlist für jede Lebenslage“ umfasst Kurzporträts von angeblich fast 500 Songs. Gezählt habe ich sie natürlich nicht. Aber es ist eine Liste von Songs aus den vergangenen 60 Jahren, ...

„Das Book of Songs, die Playlist für jede Lebenslage“ umfasst Kurzporträts von angeblich fast 500 Songs. Gezählt habe ich sie natürlich nicht. Aber es ist eine Liste von Songs aus den vergangenen 60 Jahren, die in Kapitel mit – nunja … unorthodoxen - Überschriften unterteilt ist. Wie zum Beispiel „Songs mit großartigem Intro“. Oder „Songs über Geschwister“. Oder „Songs, die eigentlich Kurzgeschichten sind“. Oder „Songs, die in Filmen vorkommen“. Dagegen fehlen Kapitel mit „Songs, die Filme bekannt machten“ oder „Songs, die unser Leben beeinflussten“.
Die Porträts der Songs sind leider so kurz gefasst, dass sie nur einen – ja, notdürftigen Blick auf die Entstehungsgeschichte zulassen. Und nicht alles ist 100-prozentig korrekt wiedergegeben.
Mir fiel auf, dass im Kapitel „Songs über Prostitution“ auch „Just a Gigolo“ aufgeführt ist und dessen Ursprung korrekterweise mit Österreich angegeben ist. Allerdings führt Autor Colm Boyd den Text auf ein Gedicht zurück, was eben nicht stimmt, denn es war ein zu seiner Zeit (1924) schon bekannter Librettist und Schlagertexter (Julius Brammer), der den Text schrieb. Der allerdings erst 1929 vertont wurde.
Und Ja, der von Colm Boyd erwähnte Bing Crosby veröffentlichte tatsächlich 1931 eine englische Version. Aber zeitgleich brachte ihn auch Leo Reimann heraus. Beiden Versionen gemein ist, dass sie nur noch wenig mit dem ursprünglichen Text von Julius Brammer gemeinsam haben. Denn Brammer befasste sich mit dem Niedergang der KuK-Monarchie, dem gesellschaftlichen Werteverfall des Militärs und seiner Offiziere nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg, und der einst bewunderte Leutnant muss sich nun als „Eintänzer“ verdingen, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Diese Eintänzer oder Gigolos waren in Tanzlokalen oder auch Tanzschulen angestellt, um mit den Frauen zu tanzen, die es nach den Verlusten der Männer im Krieg in der Überzahl gab. Das hatte erst mal nichts mit dem zu tun, was man heute unter „Callboy“ als Synonym für käufliche Sexualität versteht. Selbst der spätere Filmregisseur Billy Wilder (Some like it hot, 1-2-3) arbeitete Ende der 20er Jahre in Deutschland als Eintänzer.
Zwar sind die Kurzporträts der Songs geeignet, einen ersten kurzen Überblick zu geben, gleichzeitig sind sie aber recht oberflächlich. Nicht alle halten einer tiefer gehenden Überprüfung stand. Im Kapitel „Songs übers Älterwerden“ steht zu dem Lied von Jim Croce „If I could save Time in a bottle“, er, Jim Croce, sei vom Lauf der Zeit inspiriert gewesen, als er den Song geschrieben habe. Was immer das bedeuten mag. Klar ist aber, dass er das Liebeslied nicht für seine Frau schrieb, sondern für seinen Sohn. Das geht auch aus dem Buch von Croce‘s Witwe Ingrid („Thyme in a Bottle – Memories and Receipes“) hervor. Es war, als habe Jim Croce die Vision gehabt, nicht viel Zeit mit seinem Sohn Adrian James verbringen zu können, denn Jim starb 1973 bei einem Flugzeugabsturz.
Insofern sind die Songporträts mit Vorsicht zu behandeln und sollten immer nur als Ansatz für weitergehende Überprüfungen und tiefergehende Forschung genutzt werden.
Andererseits bietet das Buch auch einige ebenso merkwürdige wie skurrile Geschichten rund um die bekanntesten Lieder der neueren Musikgeschichte. So soll beispielsweise der Song „Always Look at the Bright Side of Life“ (aus Monty Pythons „Leben des Brian“) in Großbritannien ein bei Beerdigungen sehr beliebtes Lied sein. Zu „Sound of Silence“ von Simon & Garfunkel schreibt Colm Boyd, dass der junge Paul Simon seine Texte am liebsten im Badezimmer geschrieben habe. Der Akustik wegen: „Der geflieste Raum sorgte für die perfekte Akustik für den Klang seiner Stimme und seiner Gitarre.“

Das in Halbleinen gebundene Hardcover-Buch ist im Prestel-Verlag erschienen und mit Tuschezeichnung von Patricia Ghijsens-Ezcurdia angereichert, die dem 260 Seiten umfassenden Buch eine optische Opulenz verleihen und es als Porträt-Portfolio der dargestellten Sänger interessant machen.
Ein Manko ist, dass ein Register fehlt, das die vorgestellten Songs alphabetisch listet. So ist die Suche nach einem bestimmten Song immer verbunden mit endloser Blätterei.
Positiv ist allerdings, dass die einzelnen Kapitel mit einem Spotify-Code versehen sind, mit dem sie sich schnell und problemlos über den Streaming-Dienst abrufen lassen.

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Veröffentlicht am 07.11.2020

The Loop - eine düstere Dystopie

The Loop. Das Ende der Menschlichkeit (The Loop 1)
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„The Loop“ ist ein dystopischer Thriller. Und wie die meisten dystopischen Thriller erzählt er dem Leser die düstere Vision einer „Was wäre wenn …“ Geschichte.
Vorausgeschickt: Das Erstlingswerk des Briten ...

„The Loop“ ist ein dystopischer Thriller. Und wie die meisten dystopischen Thriller erzählt er dem Leser die düstere Vision einer „Was wäre wenn …“ Geschichte.
Vorausgeschickt: Das Erstlingswerk des Briten Ben Oliver ist spannend, auf neudeutsch sagt man auch ein „Pageturner“, ein Buch also, das den Leser fesselt und ihn daher animiert, eine Seite nach der anderen umzublättern, um weiter zu lesen. Das macht er gut und unterhaltsam.
„The Loop“ - die Schleife – ist ein ein kreisförmig gebautes Jugendgefängnis, in dem die zum Tod verurteilten unter 18 Jahre alten Insassen 24 Stunden am Tag in Einzelhaft sitzen. Lediglich eine Stunde am Tag erhalten sie eine Art Hofgang. Die Zelle öffnet sich und bietet ihnen Zugang zu einem beidseitig mit hohen Mauern abgegrenzten Hof. Mit ihren Nachbarn können sie sich zwar unterhalten, sie können sie aber nicht sehen. Dass die Mauern nicht überstiegen werden, darauf achten die von „Happy“ gesteuerten Drohnenwächter.
Happy ist die allmächtige Instanz. Sie überwacht die Gefangenen, über die jeweils in den Zellen installierte Monitore wird das Leben der Inhaftierten reguliert. Vom Frühstück bis hin zur täglichen „Energiernte“, bei denen den Gefangenen Körperenergie entzogen wird, mit der sich „The Loop“ speist.
Luke Kane übersteht die Tortur nur mit Hilfe der Wächterin Wren. Sie kommt einmal am Tag zu den Gefangenen, unter denen sie ihre Lieblinge hat. Luke gehört dazu. Sie versorgt ihn regelmäßig mit Büchern, und er überbrückt damit die Langeweile und Eintönigkeit. Und die Angst vor dem nächsten „Aufschub“. Durch medizinische Experimente wird den Todeskandidaten jeweils ein halbes Jahr Aufschub vor ihrer Exekution gewährt. Wer sich allerdings weigert, wird darauf hingewiesen, dass die Vollstreckung unverzüglich erfolge. Aber vom „Aufschub“ kehren nicht alle Probanden zurück.
Die Welt ist nach dem verheerenden Atomkrieg – dem dritten Weltkrieg, den niemand gewann, aber alle verloren – in Teilen unbewohnbar. Wo die Atombomben explodierten, liegen die verseuchten, unbewohnten Roten Zonen. Es gibt eine Weltregierung, aber zwei soziale Schichten von Menschen. Die „Regulären“, Menschen zweiter Klasse, und die nahezu unsterblichen „Modifizierten“ mit kinetischen Organen, künstlichen Herzen und Lungen, für die die Insassen in „The Loop“ als Versuchskaninchen bei den jeweiligen „Aufschüben“ dienen.
Nach dem Krieg ist die Welt in Regionen aufgeteilt, und Luke Kane lebt in Region 86, die von Oberwächter Gaylen Rye autokratisch regiert wird. Und dieser Bursche hat Ähnlichkeit mit Donald Trump: „Eigentlich hatte man Gaylen Rye eine deutliche Wahlniederlage vorhergesagt. Doch er gewann haushoch“, beschreibt ihn Ben Oliver. Gaylen Rye sei ein Mann, der genau wisse, wie man seine politischen Gegner gegen einen neuen, gemeinsamen Feind vereine und dies zum eigenen Vorteil nutze. Na, klingelt‘s?
Doch eines Tages versagt das Stromnetz, den Insassen des Loop gelingt die Flucht, und sie gelangen in die Stadt, wo sie feststellen, dass die Bevölkerung mit etwas infiziert wurde, das sie in mordlüsterne „Grinser“ und „Blinzler“, beides erkennbare äußere Symptome der Infektion, verwandelte. Auf der Suche nach dem Gegenmittel geraten Luke Kane und seine Freunde in einen Alptraum, bei dem bald auch der Leser nicht mehr erkennt, was ist Realität und was ist Wahnvorstellung.

Das Buch ist optisch ungewöhnlich, der Schnitt blau eingefärbt, das Cover in seiner Grundfarbe ebenfalls blau und aufwändig mit je einer Coverklappe an Vor- und Rückseite versehen, macht es auch haptisch was her.
Aber man muss sich auch darüber im Klaren sein: Es ist weder hohe Literatur noch von der Idee eine neue Erfindung. Ben Oliver hat das Rad der Dystopie nicht neu erfunden. Eher einen neuen Reifen aufgezogen, und man muss sehen, wie lange das Profil reicht. Denn das Projekt ist als Trilogie angelegt. Der zweite Band wird auf englisch bei Amazon unter dem Titel „The Block“ schon angeboten.
Noch ein Wort zu deutschen Ausgabe von „The Loop“. Ich bin bekennender Anhänger der Kommasetzung aus der Zeit vor 1996. Und da gibt es in „The Loop“ einige Missstände. Dass nun zwei mit und oder oder verbundene Hauptsätze nicht mehr durch Komma getrennt werden, mag noch akzeptiert und der Zeit schuldet werden. Dass Übersetzerin Birgit Niehaus aber den erweiterten Infinitiv mit zu mal durch Komma trennt, mal nicht, in diesem speziellen Falls also Kommas scheinbar willkürlich streut, geht gar nicht. In solchen Fällen rate ich immer: Entweder konsequent oder inkonsequent. Aber nicht ständig hin und her.

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Veröffentlicht am 20.10.2020

Hochzeitsreise nah ans Ende der Welt

Reise nach Orkney
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Beide trennen 40 Jahre, aber sie eint die Liebe zur Literatur. Aber weshalb sie, die namenlos bleibende Protagonistin, die Lieblingsstudentin des Literaturprofessors Richard – der die 60 längst überschritten ...

Beide trennen 40 Jahre, aber sie eint die Liebe zur Literatur. Aber weshalb sie, die namenlos bleibende Protagonistin, die Lieblingsstudentin des Literaturprofessors Richard – der die 60 längst überschritten hat – ihn nun heiratet, bleibt unklar. Klar wird aber, dass seine Liebe zu ihr einer Besessenheit gleich kommt, während die Zuneigung von ihr zu ihm … nunja … Zuneigung ist. Oder vielleicht auch die Faszination seines literarischen Intellekts. Oder die Liebe zu einem Vater, der eines Tages verschwand und sie zurück ließ.

Die Hochzeitsreise des Paares geht nah ans Ende der Welt. Auf eine Orkney-Insel nordöstlich von Schottland. Dort, wo die Nordsee und der Nordatlantik sich vereinen, wo die Sonne das ganze Jahr über kaum die Wolken durchdringt, wo die Winde das Meer beleben und wo Seegeister, Kobolde und Nixen leben. Und eben einer solchen Nixe immer ähnlicher wird die junge Ehefrau, der Schwimmhäute zwischen Fingern und Zehen wachsen, die aber nicht schwimmen kann und dennoch über Stunden am Strand steht, sich dem Wind und den Wellen ausgesetzt und das Meer beobachtet, als sei sie Teil davon. Und dabei durch das Fenster des kleinen Ferienhauses am Strand von ihrem Mann beobachtet wird.

Er empfindet ihre Anwesenheit wie das Rauchen. Beim Rauchen überstieg für ihn das Verlangen die erreichte Befriedigung, und mit ihr kann kein Moment seine Sehnsucht nach ihr stillen. Dabei weiß er nichts von der jungen Frau, die eines Tages in seine Vorlesung kam, als letzte den Seminarraum betrat: „Du brachtest Kälte mit, die Frische des ersten Frostes, der die Blätter fallen ließ …“ Die Kälte in Form von Unnahbarkeit behält sie bei. Auch wenn sie sich das Paar leidenschaftlich körperlich liebt, nie kommt man als Leser der Frau nahe. Ebenso wenig wie ihr Ehemann.

Sie bleibt ein rätselhaftes, ätherisches Wesen: „Sie muss ein Kind eines Unwetters sein, eines Hochwassers“, resümiert Richard. Ihr Vater erzählte ihr von der Seemutter, der Göttin der Inseln, vom Flossenvolk und von den Selkies, jenen geheimnisvollen robbenähnlichen Bewohnern des Meeres, die nachts an Land schwimmen, ihr Fell ablegen und eine Zeit lang als Menschen leben. Und die ohne ihr Fell sich nicht zurück in Robben verwandeln können und an Land bleiben müssen: „Sie sagt, die Flossenmänner kämen stets zurück, um ihresgleichen zu holen.“ Und eines Tages war ihr Vater fort.

Man erfährt nicht, was ist Mythologie, was ist real. Im Verlauf der Erzählung entsteht immer mehr der Gedanke, dass womöglich auch die Frau, die Ehe, das Paar nicht real ist. Richard hatte sich vorgenommen, während der Tage auf Orkney an seinem Buch zu arbeiten, das sich mit den „Magischen Erzählungen des 19. Jahrhunderts“ befasst. Märchen und Sagen neu erzählt, Fluch und Flucht, Besessenheit, Verführung, Verwandlung. All das trifft auf das merkwürdige Paar auf der kleinen Insel zu, das in einem Haus lebt, das an einer einsamen Bucht steht.

Aber was ist Realität? Die Frage der Besessenheit, die Richard seiner Frau gegenüber empfindet kann ebenso gut die Flucht in eine Gedankenwelt sein, die sich jenseits jeglicher Realität entwickelt und der mythischen Welt in Richards Buch entspringt. Mit diesen Überlegungen lässt Amy Sackville den Leser aber allein. Lediglich einige Indizien lassen vermuten, dass der alternde, besessene, sein Leben lang allein lebende Richard sich in seiner eigenen Traumwelt verliert. Seine Frau gleicht einer Elfe, denn, so beschreibt Richard sie, “ sie ist ein proteisches Wesen, eine Thetis, Kind des Meeres, gestaltwandlerische Göttin …“ Daraus spricht nicht nur die Bewunderung eines Mannes für eine über alles geliebte und daher überhöhte Frau. Daraus spricht auch das Obsessive einer Amour fou.

Aber das die Beschreibung des Protagonisten. Viel deutlicher ist dagegen die Darstellung der Autorin. Sie setzt die Äußerungen der Frau zwar in Anführungszeichen, die Äußerungen von Richard aber nicht. Und so entsteht der Eindruck, er spräche nicht mit ihr. Zumindest nicht durch Laute, sondern eher mit Gedanken. Wie ein Autor, der seine Buchfiguren sprechen lässt, in dem nieder schreibt, was sie sagen, aber in Gedanken die Dialoge vorformuliert, eher er sie zu Papier bringt.

„Reise nach Orkney“ ist ein Buch wie ein Gemälde. Aber eines, dem die Tiefe fehlt. Es plätschert dahin, und genau das macht es schwer, sich an den Stil des Buches zu gewöhnen. Genau deshalb – und hier gilt meine Entschuldigung ebenso wie mein Dank dem Verlag, der geduldig ausharrte und nicht auf baldige Fertigstellung der Rezension drängte.

Ich brauchte tatsächlich zwei Anläufe, mich mit dem Stil anzufreunden, die unterschwellige Spannung zu entdecken, die daher kommt wie eine Welle, die sich am Strand bricht und dabei gleichzeitig eine kleine Strömung entwickelt, die knapp unterhalb der Oberfläche das Wasser zurück ins Meer zieht, während die Welle noch den Strand hinauf kriecht.

„Reise nach Orkney“ ist die Beschreibung einer Landschaft und eines Meeres, die uns ebenso fremd wie befremdlich daher kommt. Eine Welt, die mit und vom Meer lebt. Von Menschen, die das Meer mythologisieren, um es in seiner Unberechenbarkeit und Übermächtigkeit einerseits zu verstehen, andererseits zu beherrschen.

Warum sich die 39-jährige Amy Sackville, geboren 1981, und für die „Reise nach Orkney“ 2014 mit dem Somerset Maugham Award ausgezeichnet, nun ausgerechnet aus Sicht des 60-jährigen Richard dem Thema nähert, bleibt ein Rätsel. Vor allem auch deshalb, weil man als Rezensent im Alter des Richard sich manchmal fragt, was den Mann umtreibt. Ist es tatsächlich so, dass ein Mann mit einer sehr viel jüngeren Frau für seine eigene Vergangenheit „keine Verwendung hat, weil sie nicht daran teilhaben kann“? Oder ist es nicht eher die Vergangenheit und die damit verbundene Erfahrung, die einen älteren Mann für eine deutlich jüngere Frau interessant macht? Und ist Vergangenheit nicht individuell? Erlebt nicht auch ein gleichaltriges Paar die gemeinsame Vergangenheit aus unterschiedlichen Blickwinkeln?

Fragen, die unbeantwortet bleiben. Letztlich hat das Paar weder eine Vergangenheit noch eine Zukunft.

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