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Veröffentlicht am 23.09.2022

Psychogramm eines lebensmüden Antihelden

Die Mauersegler
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Toni ist ein Antiheld, wie er im Buche steht. Er ist des Lebens überdrüssig, hat resigniert, auch weil er wohl nie so Glück gespürt hat, wie ich es kenne. Er beschließt im Juli, in 365 Tagen Suizid zu ...

Toni ist ein Antiheld, wie er im Buche steht. Er ist des Lebens überdrüssig, hat resigniert, auch weil er wohl nie so Glück gespürt hat, wie ich es kenne. Er beschließt im Juli, in 365 Tagen Suizid zu begehen und notiert bis dahin an jedem Tag seine Erinnerungen, Erlebnisse des Tages oder Gedanken.
Dass Toni an diesen Punkt in seinem Leben kommt, wundert mich als Leserin nicht. Echte Emotionen, vor allem positive, sind bei ihm nicht erkennbar. Er fühlt dumpf, unter einem Schleier von Pragmatismus und Distanz, Kälte und Verrohung. Seine Tagebuchepisoden sind zum Teil schwer zu ertragen, derbe emotionslose Gedanken. Insbesondere Sexualität wird gegenständlich, objektiv und kalkulativ beschrieben. Davon sind sowohl seine Exfrau Amalia als auch seine Sexpuppe Tina betroffen. Toni hasst alles; er schreibt im Oktober, er hasse voll Lust. Und zwar jeden, allen voran seine Exfrau Amalia, seinen Bruder Raúl, seinen Job als Philosophielehrer, seinen - aus seiner Sicht minderbemittelten - Sohn Nikita, seine Eltern und Schwiegereltern. Ausdruck findet dies in seinen Schilderungen immer wieder, bspw. wenn er sich erinnert, sein erster Gedanke, als seine Mutter ihm seinen kleinen Bruder, ein Baby, auf den Arm gab, war ihn fallen zu lassen. Über seinen Sohn schreibt er im November noch, „Man hätte aus Eis und Stein sein müssen, um dich nicht zu hassen.“ Toni bekommt Erektionen, wenn er mit seiner Exfrau streitet. Und hätte Toni eine Partei, so schreibt er, wäre wohl ihr Motto „Lasst mich in Ruhe.“ Allein seine Hündin Pepa und sein einziger Kumpel, den er heimlich Humpel nennt, schaffen einen beschränkten Zugang zu Toni. Über viele, viele Seiten zieht sich die melancholisch machende, langatmige Schreibe, seine schmerzhaften Gedanken und der Einblick in die Lesart einer abgestumpften, lebensmüden Abrechnung mit dem selbst verursacht trostlosen Leben. Die Redundanzen empfand ich zum Teil hindernd beim Durchhalten der mehr als 800 Seiten, auch weil sie das beim Lesen erzeugte Gefühl der Düsterkeit verstärkten. Und dann, ganz heimlich still und leise schleicht sich Empathie für Toni durch die Zeilen. Zarte Pflänzchen des Verständnisses keimen bei den nicht chronologischen, wild gemusterten Schilderungen aus Vergangenheit und Gegenwart. Es entsteht ein Psychogramm einer armseligen Existenz, die mir am Ende doch ein Stück weit ans Herz gewachsen ist, obwohl mir kaum eine Denke ferner liegt als die von Toni. Und so fieberte ich dem Ausgang des einen Jahres entgegen, der für mich in vielen Gestalten Sinn ergeben hätte und dann doch überraschte.
Das Buch erfordert beim Lesen eine gewisse emotionale Stabilität und viel Aufmerksamkeit. Die 365 episodischen Kapitel sind zwar chronologisch notiert, bauen aber inhaltlich nicht aufeinander auf. Zuweilen dauert es Momente, ehe die einzelnen Episoden im lesenden Kopf ein Bild des Lebensabschnittes von Toni ergeben. Wer das hinzunehmen bereit ist, findet in „Die Mauersegler“ eine zwar schwere, aber lohnenswerte Lektüre.

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Veröffentlicht am 23.09.2022

Ein Leitfaden für alle betroffenen Omis

Omi, ich bin jetzt vegan!
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Dieses Buch füllt auf ganz liebevolle Weise eine Marktlücke. Mit der Zunahme des Veganismus in unserer Gesellschaft gibt es viele Geschichten wie die, welche die Autorin von ihrem Weg in diese Ernährungsform ...

Dieses Buch füllt auf ganz liebevolle Weise eine Marktlücke. Mit der Zunahme des Veganismus in unserer Gesellschaft gibt es viele Geschichten wie die, welche die Autorin von ihrem Weg in diese Ernährungsform zu berichten weiß. Die Vielfalt tierproduktfreier Rezepte insbesondere außerhalb der in Deutschland landläufigen und traditionellen Hausmannskost ist groß. Aber wie steht es nur mit Omas alten, gut bürgerlichen Rezepten? Gerade für traditionelle Kost funktioniert das Finden veganer Alternativen in erster Linie, indem tierische Produkte durch pflanzliche ersetzt werden: Hack durch veganes Hack, Ei gegen Eiersatz, Butter gegen Margarine und Milch gegen pflanzliche Milchalternativen. Und dieses Prinzip, verständlich für traditionsbewusste Köch*innen, sinnbildlich die Omis, praktiziert auch dieses Rezeptbuch. Darüber hinaus entsprechen die vorgestellten Rezepte für gefüllte Paprikaschoten, Kohlrouladen oder Kuchen dem Standard und sind nicht in besonderer Weise der Gourmetküche angehoben worden; eben einfach bodenständig, wie bei Omi. Die Fülle der Rezeptideen reicht über alle Kategorien wie Suppen, Hauptgerichte und Backwaren, inklusive der Weihnachtsbäckerei.
Das Buch schafft es nicht, für vegane Lebensweise zu überzeugen. Aber es schafft, sie zu erklären und traditionelle Küche umzuschreiben. Dabei bleibt das warme Gefühl, dass dieses Buch in der Tat für die und mit der Omi geschrieben wurde, um eine Brücke zu bauen nach der womöglich verunsichernden Ankündigung „Omi, ich bin jetzt vegan“.
Ein tolles Buch, wirklich für Omis, die ihren Enkelinnen und Enkeln etwas Leckeres aus der Kindheit kochen möchten und dafür eine erste Anleitung brauchen. Für mich als eingeFLEISCHte Veganerin war allerdings wenig Neues dabei.

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Veröffentlicht am 08.08.2022

Autobiographische Aufarbeitung einer Mutter-Tochter Beziehung

Mutters Lüge
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Die aus Polen stammende Schweizer Psychiaterin Marta schildert ihr Leben und resümiert ergreifend die Beziehung zu ihrer Mutter. Jene war in den 80er Jahren illegal mit Marta und ihrem Bruder aus Polen ...

Die aus Polen stammende Schweizer Psychiaterin Marta schildert ihr Leben und resümiert ergreifend die Beziehung zu ihrer Mutter. Jene war in den 80er Jahren illegal mit Marta und ihrem Bruder aus Polen nach Deutschland emigriert. Diese Entwurzelung ist bis heute für Marta von besonderer Relevanz, sorgt für eine permanente Suche nach Heimat und wird zusammen mit dem Geheimnis ihrer Mutter zum großen Gegenstand dieses Buches. Die spät - zum Zeitpunkt der Beerdigung - aufgedeckte Lebenslüge der Mutter gegenüber den Kindern und der Umwelt bringt sowohl Klarheit aber auch Rätsel für Marta mit sich, die bis ins Mark erschüttern. Inwiefern der Roman wirklich autobiographisch oder autofiktiv ist, bleibt für mich offen. Im Klappentext steht, das Buch beruhe auf der Lebensgeschichte der Autorin, obwohl auf Seite 4 steht, dass Ähnlichkeiten mit lebenden und toten Personen nicht gewollt und rein zufällig sind.
Eine Beurteilung dieses autobiographischen Buches von Monika Hürlimann fällt mir schwer, weil eine Biographie als solche in ihrer Wahrhaftigkeit wertzuschätzen ist, die Lebensleistung schlicht anzuerkennen ist. Es ist erstaunlich, was so alles in ein Leben passt. Es ist großartig, wie Marta - sicher stellvertretend für Monika Hürlimann - mit den Herausforderungen des Lebens umgegangen ist. Und doch fehlt mir bei aller emotionaler Beteiligung am Schicksal von Marta etwas, denn die literarische Leistung bleibt hinter dem Inhalt zurück. Der Schreibstil zeigt deutlich, dass Monika Hürlimann keine Schriftstellerin ist und ein eigenes, auch emotional geprägtes und auf Kränkungen basiertes Interesse bestand, diesen Text von der Seele zu schreiben. Das Buch liest sich wie eine Selbsttherapie, welche sich die eigene Wirklichkeit so konstruiert, dass sie leichter auszuhalten ist. Forciert wird dies durch die Erzählperspektive aus der Ich-Sicht von Marta. Diese erzeugt besonders Verständnis und Empathie für die Brille von Marta, es bleibt jedoch bei dieser einen Seite der Medaille. So wirkt Marta auf mich stets ein wenig zu selbstbezogen und unreflektiert, auch weil kaum eigene Fehler und Anteile an den Entwicklungen benannt werden. So erscheint mir Marta stets wie ein Opfer der Umstände, der Unnahbarkeit der Mutter, ihres Exfreundes, obwohl sie dies sicher nicht immer war. Bspw. akzeptiert Marta als Kind gegenüber der Mutter und auch als Erwachsene gegenüber ihrem Partner Timo des öfteren Widersprüche, die sich als schmerzhaft und kränkend erweisen ohne eigeninitiativ entgegen zu wirken und sich somit selbst zu helfen. Mich würde dies nicht stören, wenn Marta diese Erkenntnis benannt hätte, statt nur aus Opfersicht zu schildern, was ihr „angetan“ wurde.
Somit kann ich, obwohl ich das Buch flüssig lesen konnte, aufgrund der nicht ganz optimalen schriftstellerischen Leistung und der in Teilen fehlenden Reflexivität von Marta keine volle Punktzahl geben. Ich empfehle das Buch aber, zumindest allen, die Interesse an bewegten Lebensläufen haben, die gern in Familiengeschichten eintauchen oder ähnliche biographische Elemente wie Marta teilen.

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Veröffentlicht am 06.07.2022

Schillernde sprachliche Leistung bei blassem Plot

Die Familie
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Die Familie steht sinnbildlich nicht nur für die Herkunftsfamilien der Freundinnen Antonia und Sophia sondern auch für die Mafia. Und ebenso bildlich bleibt der ganze Roman in seiner Sprache. Die Autorin ...

Die Familie steht sinnbildlich nicht nur für die Herkunftsfamilien der Freundinnen Antonia und Sophia sondern auch für die Mafia. Und ebenso bildlich bleibt der ganze Roman in seiner Sprache. Die Autorin kann kunstvoll, hochwertig und malend durch Worte Bilder erzeugen, die dem Buch einen bezaubernden Charme geben. Wunderbar, entzückend und beredt initiiert die Sprache bei mir Vorstellungen vom Brooklyn der 30er bis 40er Jahre, ein veritabler Genuss beim Lesen. Dieser hochwertige Sprachstil setzt sich leider nicht in der Story des Romans fort. Die Coming-of-Age-Geschichte ist schnell erzählt. Wuchtige Wendungen, Spannungsbögen und Nervenkitzel darf man höchstens gegen Ende erwarten. Das Buch kommt ohne Thrill aus, lebt in seichtem Plott. Das schmälert meinen Lesegenuss jedoch kaum, kommt aber auch nicht an Elena Ferrante heran.
Dieses Buch ist eine Meisterleistung der Sprach- und Übersetzungskunst, empfehlenswert für alle Liebhaberinnen und Liebhaber der Deutschen Sprache, die auch ohne Hochspannung Literatur genießen können.

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Veröffentlicht am 05.04.2023

Poetisches Buch mit Mühe

Tochter einer leuchtenden Stadt
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Eine leuchtende Stadt ist dieses Smyrna (heute Izmir), in das uns Defne Suman entführt, ja einsaugt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist Smyrna eine kosmopolitische Stadt, in der viele Ethnien miteinander ...

Eine leuchtende Stadt ist dieses Smyrna (heute Izmir), in das uns Defne Suman entführt, ja einsaugt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist Smyrna eine kosmopolitische Stadt, in der viele Ethnien miteinander leben, Levanten, Türken, Griechen. Aus deren Reihen entspinnen sich Geschichten um Protagonist*innen, die am Ende zusammengeführt werden. Durch die blumige, poetische, seelenvolle Sprache der Autorin wurde ich beim Lesen nach Smyrna gebracht, in Straßen in denen es nach Moschus und Rosen riecht und die orangeglühende Sonne scheint. Und das ist auch die Stärke des Romans. Er ist sprachlich einfach ein wunderbarer Genuss.

Nach einem besonders sphärischen Einstieg, der mich ganz in die Welt des Orients holte, mit seinen Farben, Gerüchen und Ausstrahlungen, war ich hoffnungsvoll auf das Buch. Leider brauchte ich drei Anläufe, um das Buch überhaupt auslesen zu können. Immer wieder wurde ich durch die so eindrucksvolle Sprache animiert, es doch noch einmal zu versuchen. Neben der sprachlichen Expertise hat der Roman leider einige hemmende Tücken. Allen voran steht die Herausforderung, mit sehr vielen handelnden Personen konfrontiert zu sein, die auch durch die ungewohnt fremden Schriftbilder der Namen schwer zu handhaben sind. Auch das Personenverzeichnis am Ende, das ich oft benutzen musste, war bei der Unterscheidung und Konstellation der Personen wenig hilfreich. Ich habe dann begonnen, mir Notizen zu machen, was mir etwas half. Weiterhin werden im Text permanent die Zeitebenen gewechselt ohne dies kenntlich zu machen. Da ist eine Person tot und plötzlich wird wieder mit ihr gehandelt. Beides hat mich beim Lesen so verwirrt, dass ich von der eigentlichen Handlung nur das Wesentliche erfassen konnte. Der historische Kontext war mir auch neu, vieles setzte die Autorin voraus, was mich zwischendrin immer wieder googeln ließ. Alles in allem strengte mich das Lesen dieses Buches sehr an, nervte zeitweise, ließ mich kopfschüttelnd und mehr fragend als antwortend zurück.

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