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Veröffentlicht am 26.04.2024

Gute Fortsetzung zu „22 Bahnen“

Windstärke 17
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Ich muss zugeben, dass ich bezüglich dieses Fortsetzungsromans von Caroline Wahl zwiegespalten bin. Ihren Roman „22 Bahnen“ empfand nicht nur ich damals als ganz starkes Debüt und er wurde sogar zum „Lieblingsbuch ...

Ich muss zugeben, dass ich bezüglich dieses Fortsetzungsromans von Caroline Wahl zwiegespalten bin. Ihren Roman „22 Bahnen“ empfand nicht nur ich damals als ganz starkes Debüt und er wurde sogar zum „Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels 2023“ gekürt. Meines Erachtens vollkommen zu Recht! Dort drehte sich alles um Tilda, Anfang Zwanzig, die mit Nebenjobs versucht nicht nur ihr eigenes Mathematik-Studium zu finanzieren, sondern auch noch das Leben der alkoholkranken Mutter und ihrer kleinen Halbschwester Ida. Sie trifft außerdem einen alten Schulkameraden Viktor wieder, verliebt sich nach ersten Anlaufschwierigkeiten, denn auch er hat familiär viel zu tragen, und schafft es letztlich sich mit ihrer schwierigen Familiensituation auseinanderzusetzen und für eine andere Stadt und damit ihren Traum von der Promotion zu entscheiden.

Warum erzähle ich hier, was in „22 Bahnen“ passiert? Weil vom groben Konstrukt her ähnliches in „Windstärke 17“ passiert. Hier begleiten wir die nun auch Anfang Zwanzigjährige Ida, die ihr Literaturstudium weiterhin in der Heimatstadt verfolgte und bei der alkoholkranken Mutter wohnte. Nun erfahren wir allerdings, dass die Mutter vor wenigen Wochen verstorben ist und Ida muss mit ihrer Trauer aber auch mit der Entscheidung, wie ihr Leben weitergehen soll, zurechtkommen. Sie flüchtet auf die Insel Rügen, wird von einem liebevollen, alten Ehepaar aufgenommen und lernt Leif, der ebenso familiär und persönlich schon viel zu tragen hat, kennen und verliebt sich nach ersten Anlaufschwierigkeiten in ihn. Mithilfe von Leif und dem Ehepaar lernt sie mit ihrer Trauer umzugehen, sich mit ihrer schwierigen Familiensituation auseinanderzusetzen und für ihren Wunsch vom Schreiben zu entscheiden. Während für Tilda das Freibad und die Regelmäßigkeit des Bahnenschwimmens ein wichtiger Copingmechanismus ist, stellt dies für Ida die Ostsee und das lebensgefährlich weite Rausschwimmen dar. Fällt euch etwas auf?

Für sich genommen ist „Windstärke 17“ wieder ein schön geschriebener Roman, der Menschen in belastenden Lebenssituationen zeigt und die Möglichkeiten diese mit Hilfe von anderen und durch eigene gefundene Stärke zu bewältigen. Das kann Caroline Wahl wirklich sehr gut. Allerdings drängt sich für mich die Frage auf, warum dieser Folgeroman unbedingt so stark dem erfolgreichen Debüt ähneln muss. Natürlich gibt es auch Unterschiede, keine Frage. Aber diese reichen mir nicht aus, um eine erneut hervorragende Leseerfahrung zu haben. Außerdem störten mich in diesem Buch die Dialoge ab und an. Diese wechseln zwischen in Anführungszeichen gesetzte Sätze, die im Fließtext auftauchen (so mag ich es) und Dialogen, die formell wie in einem Theaterstück über Seiten hinweg untereinander angeordnet sind. Mir kommt es generell so vor, als ob dieser Roman dialoglastiger ist als der vorherige. Und das, was ich hier gerade mache, ist auch ein Problem, welches mit der Entscheidung einen so ähnlichen Roman zu schreiben, einhergeht: Man vergleicht unwillkürlich oder auch willkürlich während des Lesens ständig „Windstärke 17“ mit seinem Vorgänger „22 Bahnen“. Diese Nähe tut meines Erachtens dem vorliegenden Roman nicht gut.

Ich habe „Windstärke 17“ durchaus gern gelesen und auch an der ein oder anderen Stelle mit Ida mitgefiebert, fand viele Figuren sehr interessant und die Dynamiken gut dargestellt. Trotzdem habe ich im Hinterkopf wie sehr mir damals „22 Bahnen“ gefiel und ich finde, dieser hier kommt da nicht heran. Und es tut mir so leid, dass ich den Vergleich nicht einfach weglassen kann. Das provoziert die Autorin leider durch ihre Themen- und Plotwahl. Ich hätte gern mal ein ganz anderes Buch dieser vielversprechenden Autorin gelesen.

3,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 25.04.2024

Hier ist der Titel Programm

Wir sitzen im Dickicht und weinen
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„Wir sitzen im Dickicht und weinen“ ist ein gut gewähltes Motto für diesen Debütroman von Felicitas Prokopetz, denn ihre Hauptprotagonistin und in ihren Kapiteln Ich-Erzählerin des Romans ist eine unglaublich ...

„Wir sitzen im Dickicht und weinen“ ist ein gut gewähltes Motto für diesen Debütroman von Felicitas Prokopetz, denn ihre Hauptprotagonistin und in ihren Kapiteln Ich-Erzählerin des Romans ist eine unglaublich neurotische Person. Alles muss sie kontrollieren, ihr eigenes Leben, das des 16jährigen Sohnes, und alles zu einem Drama machen. Das hat sie scheinbar von ihrer Mutter, die an Krebs erkrankt ist und eine vollständige Ausrichtung ihrer Tochter auf sich einfordert. Um die Dynamik zwischen den beiden zu verstehen, wirft die Autorin mithilfe von Rückblenden immer wieder Schlaglichter auf die Vorfahren von Valerie (der Ich-Erzählerin) und das Leben von ihrer Mutter.

Insgesamt hat mich dieser Roman fast gar nicht angesprochen. Mutter-Tochter-Dynamiken sind eigentlich Ausgangspunkte, die mich in Romanen immer interessieren, hier konnte mich die Autorin allerdings nicht überzeugen. Die Ich-Erzählerin und ihr Mutter sind unglaublich nervige Figuren. Das darf es geben, aber dann möchte ich auch mal andere Facetten von ihnen sehen. Bis kurz vor Schluss gibt es diese aber nicht. Valerie ist so lehrbuch-neurotisch, was dann zu Stellen führt wie diese hier nach einer der vielen Auseinandersetzungen mit ihrem Sohn, da sie die absolute Helikopter-Mutter ist S. 90:

„‘Mir reicht‘s so mit dieser ganzen Mutterscheiße‘, sage ich zu mir selbst, und spüre, wie mir die Tränen in die Augen schießen. Ich ziehe die Decke enger um mich. Elend ist das alles, überhaupt nicht so, wie ich es will. Ich liebe Tobi doch so. Warum genügt das nicht?“

Das ständig auftauchende Selbstmitleid der Figur ist kaum auszuhalten. Ebenso wie die massive Bedürftigkeit ihrer Mutter. Kann man diese zunächst noch nachvollziehen, immerhin hat sie eine Krebserkrankung, denkt man aber selbst hier irgendwann: „Jetzt reiß dich aber mal zusammen.“

Unterbrochen wird dieses Leiden und Fordern durch Kapitel, in denen die Autorin in personaler Erzählweise bei den Großmüttern Valeries beginnt, die Geschichte der Frauen in der Familie zu erzählen. Hier muss ich zugeben, dass ich unglaublich Probleme hatte, die beiden Großmütter (also mütterlicher- und väterlicherseits) und deren Lebensgeschichten schlicht auseinanderzuhalten. Es werden immer nur kurze Schlaglichter geworfen, die Namen nicht immer genannt und selbst wenn ich mal in einem Kapitel schnell verstand, um wen es eigentlich ging, konnte ich nicht mehr aufrufen, ob das jetzt diejenige war mit dem Erster-Weltkrieg-Traumatisierten als Vater oder die mit der angespannten Beziehung zu wiederum ihrer Mutter etc. Das liegt neben der Sprache der Autorin meines Erachtens an der kürze der Texte. Auf 204 Seiten Gesamtvolumen wird hier ein ganzes Jahrhundert an Frauenschicksalen runtergerasselt, inklusive der eigentlich als intensiv angelegten Krebsgeschichte der Mutter von Valerie und die für Valerie unglaublich schwere Entscheidung, ihren Sohn zum Schulaustausch nach England zu lassen (Weltuntergang!).

Und ein letzter Aspekt des Romans stellen eingefügte Kapitel dar, in denen von Valerie ausgedachte Grabreden für ihren eigenen, noch lebenden Vater zitiert werden. Den hatte es nicht lang bei der Familie gehalten und nun malt sie sich mal besonders schöne Momente, mal Gewaltfantasien im Splatterniveau über ihn aus.

Das alles fügt sich für mich nicht richtig zusammen. Der Schluss wird fix irgendwie schnell inszeniert, mit ein bisschen Persönlichkeitsveränderung und Drama. Ich war froh, als ich das Buch zuklappen konnte. Allein weil ich zwar „nur“ genervt war, mich aber aufgrund der Kürze des Romans nicht das Gefühl hatte mich „durchkämpfen“ zu müssen, sondern das Elend dann auch schnell vorbei war, gebe ich noch 2 Sterne hierfür. Der Roman wirkt eher wie ein Romanentwurf und hätte meines Erachtens in mindestens doppelter Länge und mit weniger Neurotizismus besser funktioniert. Deshalb gibt es auch keine Leseempfehlung von meiner Seite. Andere Romane haben in den letzten Jahren besser und tiefgründiger Mutter-Tochter-Dynamiken darstellen können.

2/5 Sterne

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Veröffentlicht am 22.04.2024

„Das ist kein lustiges Abenteuer, Huck.“

James
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Zumindest vom Namen her kennt so ziemlich jeder und jede „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ von Mark Twain. Dort erlebt der Halbwaise Huck zusammen mit dem entlaufenen Sklaven Jim so einige Abenteuer ...

Zumindest vom Namen her kennt so ziemlich jeder und jede „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ von Mark Twain. Dort erlebt der Halbwaise Huck zusammen mit dem entlaufenen Sklaven Jim so einige Abenteuer entlang des Mississippi Mitte des 19. Jahrhunderts. Percival Everett schnappt sich nun die Romanvorlage von Twain, den er sehr verehrt (siehe Danksagung: „Sein [Mark Twains] Humor und seine Menschlichkeit haben mich beeinflusst, lange bevor ich Schriftsteller wurde.“), und erweitert diesen Klassiker um den Blickwinkel des Sklaven Jim.

Everett löst dies sehr geschickt, indem er die Passagen auserzählt bzw. hinzuerfindet, in denen im Originaltext Huck und Jim voneinander getrennt sind. Erfährt man bei Twain ausschließlich, was Huck in diesen Episoden passiert, ist es bei Everett umgekehrt. Wir begleiten die gesamte Zeit über Jim und mit zunehmenden Verlauf weicht Everetts Roman sowie Everetts Jim auch mehr und mehr vom Originaltext ab. Wir werfen quasi einen Blick hinter die Kulissen von Twains Roman, denn Jim erschien damals eher eine Kulisse für Hucks Abenteuer zu sein. Nun spielt er die Hauptrolle und somit erfahren sehr viel über die Lebensrealität von Sklaven in der damaligen Zeit.

Hier macht sich Everett, wie auch schon in „Die Bäume“, das Stilmittel der phantastischen Elemente zunutze. Denn Jim kann nicht nur lesen und schreiben, was damals nur ganz, ganz selten überhaupt der Fall war, sondern er liest auch noch aus der Bibliothek von Richter Thatcher Bücher von Voilaire und anderen Philosophen und Gesellschafts-/Staatstheoretikern. Jim ist hochgebildet. Überhaupt erfährt man schon auf den ersten Seiten, dass alle Sklaven in diesem Roman „zweisprachig“ aufwachsen. Sie können ganz regulär Standardenglisch sprechen, was sie allerdings nur tun, wenn sie sich untereinander unterhalten, und wenn sie mit Weißen sprechen, nutzen sie eine vereinfachte und grammatikalisch falsche „Sklavensprache“. Denn die Weißen sollen sich überlegen fühlen. So heißt es im Buch „Es lohnt sich immer, Weißen zu geben, was sie wollen“, denn „je besser sie sich fühlen, desto sicherer sind wir.“ Eine Feststellung, die noch bis in die Gegenwart hineinreicht, wenn Schwarze Eltern ihren Kindern beibringen, wie sie sich weißen Polizisten gegenüber verhalten sollen, damit sie ja nicht aus Versehen bei einer Polizeikontrolle umgebracht werden. Und mit diesem Verweis in unsere heutige Zeit ist gleich die Tiefgründigkeit und Doppeldeutigkeit des vorliegenden Romans skizziert. Everett hat definitiv keinen einfachen historischen Roman geschrieben, nein es handelt sich meines Erachtens um Gegenwartsliteratur, die das historische Setting nutzt, um nicht nur die lebensbedrohliche Realität für Schwarze in der Vergangenheit aufzuzeigen, sondern auch immer wieder Querverweise in die Gegenwart zu geben und weiterhin bestehende Probleme anzuprangern.

Hatte ich zunächst noch Probleme mit dem Tempo, der Struktur des Romans, der nun einmal stark an den Abenteuerroman angelehnt ist, waren mir die Episoden zu schnell erzählt und wechselten von einer Szene in die nächste hopplahopp. So ergriff mich „James“ im späteren Verlauf immer mehr. Ich habe den Roman zu Beginn als sarkastisch und beißend empfunden, nie lustig/witzig/amüsant, wie es bei Twain der Fall war. Später wird er immer ernster und tonnenschwer, indem er immer stärker von "Die Abenteuer des Huckleberry Finn" abweicht und - nicht nur - in die (Überlebens-)Realität von James eintaucht. Hier bleibt der Autor vom Stil her der Vorlage treu, es sind meist sehr kurze, "abenteuerliche" Sequenzen, die schnell wechseln. Das ist grundsätzlich ein Stil der mir nicht gut gefällt, aber ich kann nachvollziehen, warum sich hier Everett anpasst an Twains Vorlage. Umso stärker der Roman ein Eigenleben entwickelt und auch immer stärker der "Sklave Jim" zum "freien Mann James" wird, umso stärker hat der Roman mir gefallen. An einer Stelle sagt James zu Huck: „Das ist kein lustiges Abenteuer, Huck.“ als es um das Leben als Schwarzer geht. Und dieser Satz unterstreicht hervorragend nicht nur den Unterschied zwischen Twains und Everetts Werk sondern auch die Wichtigkeit von dieser literarischen Ergänzung Everetts zum Schlüsselwerk der US-amerikanischen Literatur.

Mir hat der Roman als Ganzes sehr gut gefallen. Das liegt vor allem an Everetts Ideen, wie er das Thema Sprache, Intelligenz, Bildung und die damit einhergehende Gefahr für die Unterdrücker umgeht. Er zeigt auf, dass Schwarze eben nie per se "dumm" waren, sondern genauso intelligent (oder eben nicht), wie alle anderen Menschen auch. Gleichzeitig zeigt er, wie (überlebens)wichtig ein an die Unterdrückung angepasstes Verhalten für die damaligen Sklaven war.

Die Übersetzung von Nikolaus Stingl finde ich, besonders unter Betrachtung der „Sklavensprache“, „eine spezielle Ausprägung des Südstaatenenglisch, die im 19. Jahrhundert von Schwarzen gesprochen wurde und in Grammatik und Aussprache stark vom Standardenglisch abweicht“ (aus den Nachbemerkungen des Übersetzers), äußerst gelungen und auch dessen Nachbemerkungen erscheinen mir interessant und wichtig.

Somit handelt es sich hierbei um einen wichtigen Roman, der den Klassiker „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ von Mark Twain keinesfalls vollständig ersetzen will, sondern eine dringliche Ergänzung zu der bisherigen Charakterisierung und der Geschichte der Sklaven in den USA darstellt. Ein Roman, der definitiv eine Leseempfehlung von mir erhält, auch wenn er meines Erachtens an den Vorgänger „Die Bäume“ nicht heranreicht.

4/5 Sterne

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Veröffentlicht am 14.04.2024

Eine feministische Utopie und Dystopie zugleich

Und alle so still
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Mareike Fallwickl ist für ihre feministischen Inhalte bekannt. In ihrem aktuellen Roman „Und alle so still“ treibt sie dies auf die Spitze, indem sie ein Szenario entwirft, welches zu dem Zusammenbruch ...

Mareike Fallwickl ist für ihre feministischen Inhalte bekannt. In ihrem aktuellen Roman „Und alle so still“ treibt sie dies auf die Spitze, indem sie ein Szenario entwirft, welches zu dem Zusammenbruch bekannter Strukturen führt, weil sich Frauen verweigern.

Die Prämisse des Romans wird gleich mit dem ersten Kapitel mit der Überschrift „Die Pistole“ vorgelegt: Hier wird es gewaltsam und nicht friedlich bleiben. „Die Pistole“ ist neben „Die Berichterstattung“ und „Die Gebärmutter“ eine aus sich heraus sprechende Entität, die neben den im personalen Erzählstil gehaltenen Kapitel der Protagonist:innen Elin (Anfang 20jährige, gut situierte Influencerin und Tochter der Feministin der Dritten Welle Alma), Nuri (19jähriger Sohn einer sri-lankischen Mutter und eines deutschen Vaters aus der Arbeiterschicht, lebt in prekärsten Lebensumständen) und Ruth (55jährige Krankenschwester am absoluten Leistungslimit), im Buch auftreten. Fallwickl begleitet nun eine Woche lang diese Figuren und zeichnet nicht nur die Entwicklung der Personen sondern auch die besorgniserregenden Entwicklungen in der Gesellschaft nach. Denn plötzlich beginnen immer mehr Frauen ihre bezahlte und unbezahlte Care-Arbeit niederzulegen und sich selbst gleich noch mit dazu. Sie liegen regungs- und sprachlos vor Krankenhäusern, Kindergärten und anderen Einrichtungen. Habe keine Forderungen, schreien keine Parolen. Sie verweigern sich. Und es schließen sich immer mehr diesem stillen Protest an. Innerhalb weniger Tage passiert das, was schon seit längerem in der Theorie vorhergesagt wird: das System bricht zusammen, denn die Frauen sind durchaus systemrelevant. Nach erstem Unverständnis kippt die Stimmung schnell und es kommt zu gewalttätigen Übergriffen auf die Frauen, welche aber weiterhin still zusammenhalten und sich gegenseitig unterstützen.

Fallwickl entwirft in ihrem Roman eine Utopie und eine Dystopie zugleich. Utopisch ist sicherlich die Idee, dass sich tatsächlich eine kritische Masse an Frauen zusammenschließt und vollkommen solidarisch sich verweigert. Schon Karl Marx und Friedrich Engels forderten „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“, hier könnte es heißen „Frauen aller Länder, vereinigt euch!“. Der erste Ruf war schon wünschenswert, aber utopisch, der zweite ist es ebenso. Trotzdem ist es hoch interessant dieses Gedankenexperiment einmal mit all seinen Konsequenzen durchdekliniert zu lesen. Denn hier kommt das dystopische Momentum ins Spiel: Welch schreckliche Szenarien muss man sich konkret dann vorstellen? Krankenhäuser, in denen Chaos herrscht und die Patient:innen unterversorgt wegsterben (wir sind nicht weit davon entfernt!), Gruppen von überforderten Männern, die unberechenbar werden, (aber auch Männer, die sich mit den Frauen solidarisieren und ihnen helfend zur Seite stehen!), ein Gesellschaftssystem, welches die Arbeit der Frauen nicht annähernd ausreichend wertschätzt und diese gleich verteilt, und deshalb über kurz oder lang zusammenbricht. In dieser Fiktion passiert es über kurz, nämlich innerhalb weniger Tage.

Zunächst hatte ich Probleme in den Text hineinzufinden, da das erste Figurenkapitel mit der Influencerin Elin auf mich durch und durch abstoßend wirkte. Erst nach und nach habe ich in die Geschichte hineingefunden, die allerdings meines Erachtens nicht so genial konstruiert ist, wie dies bei „Das Licht ist hier viel heller“ der Fall war. Die Geschichte greift nicht so gut ineinander, der Spannungsbogen erscheint mir insgesamt nicht so richtig konsistent. Trotzdem hat mich die Autorin in vielen Einzelszenen richtig fest packen und sogar zu Tränen rühren können. Wie eindringlich sie den dreizehnten Nachtdienst am Stück von Ruth beschreibt, auf einer unterbesetzten Station, allein mit 24 hoch pflegebedürftigen Menschen, vollkommen überfordert und schon weit über der Leistungsgrenze. Wie aufrüttelnd die prekäre Lebenssituation und die scheußlichen Arbeiten, die Nuri für einen Lohn ausführt, der nicht mehr zum Leben reicht. Das ist schon großartig gemacht.

Insgesamt macht dieser Roman unglaublich wütend. Wütend ist man über das Gefälle, welches immer noch existiert, welches geändert gehört. Aber auch die Autorin weiß darauf kein Patentrezept. Sie legt ihren Roman als Gedankenexperiment an, eines welches wahrscheinlich nie in der Realität umgesetzt wird. Aber sich damit zu beschäftigen, hat mir unglaublich angeregt. Auch wenn also der Roman für mich literarisch nicht ganz rund wirkte, so bekommt er doch von mir eine Leseempfehlung ausgesprochen. Inhaltlich hat er mich total angesprochen. Nun muss ich nur noch endlich „Die Wut die bleibt“ lesen, denn lässt doch Fallwickl eine ihrer Figuren im Roman, der wie eine Fortführung des eben genannten wirkt, fragen: „Und was kommt nach der Wut?“ Das vorliegende Buch scheint die Antwort zu geben, denn wie es dort auch heißt „[sind] diese Frauen […] die Knochen nach einem Ermüdungsbruch. Sie sind durchgescheuert, angeknackst, verschlissen.“ und nun gehen sie einen neuen Weg und es entsteht „Die Panik, das Wissen, wie verkehrt alles läuft und dass niemand es erkennt, aber auch die Ratlosigkeit und die Verlorenheit, weil es abseits der Norm keine Wege gibt, nur Dickicht.“ Dieses einmal außerhalb der Norm denken, gefällt mir am Roman.

4/5 Sterne

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Veröffentlicht am 10.04.2024

Über die ungewollten Kinder des Vietnamkrieges

Wo die Asche blüht
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Die Autorin Nguyễn Phan Quế Mai hat aus der Forschung zu ihrer Promotion nach siebenjähriger Arbeit einen mitreißenden Roman über die vergessenen Kinder amerikanischer Soldaten des Vietnamkrieges geschaffen. ...

Die Autorin Nguyễn Phan Quế Mai hat aus der Forschung zu ihrer Promotion nach siebenjähriger Arbeit einen mitreißenden Roman über die vergessenen Kinder amerikanischer Soldaten des Vietnamkrieges geschaffen. Mit dem Kriegseintritt der USA 1963 in den Vietnamkrieg (welcher wohlgemerkt aus dem von Frankreich losgetretenen Indochinakrieg entstand) bis zu dem überstürzten Abzug der US-amerikanischen Truppen zehn Jahre später 1973 entstanden gewollt oder (meistens) ungewollt tausende Kinder aus Beziehungen oder Prostitutionsleistungen zwischen vietnamesischen Frauen und amerikanischen Männern. Nguyễn Phan Quế Mai erzählt nun aufgespalten in verschiedene Erzählstränge sowohl die Geschichte von jungen vietnamesischen Frauen zur Zeit des Krieges, amerikanischen Soldaten während und nach dem Krieg als auch sogenannten „Amerasiern“ (den Kindern aus den o.g. Verbindungen) nach dem Krieg und damit der Übernahme des Südens Vietnams durch die kommunistischen Truppen des Nordens.

Die Autorin verwebt sehr geschickt die Geschichten verschiedener betroffener Personen in ihrem Roman. So begleiten wir die 18jährige Trang mit ihrer 16jährigen Schwester Quỳnh 1969 aus einer Provinz nach Saigon, die dort aufgrund von finanziellen Sorgen der als Reisbauern tätigen Eltern als sogenannte „Barmädchen“ anheuern und nicht nur mit amerikanischen Soldaten flirten sondern sie auch sexuell befriedigen sollen. In einem weiteren Zeitstrang im Jahre 2016 lernen wir Phong kennen, der nun knapp über 40 Jahre alt, versucht seine Eltern aufzuspüren. Denn er ist optisch eindeutig der Sohn eines Schwarzen Soldaten, wurde jedoch direkt nach seiner Geburt in einem Waisenhaus abgegeben und musste ein fürchterliches Leben fristen als „Kind des Feindes“. Zuletzt lernen wir noch Dan kennen, der als 20jähriger Soldat in Vietnam gekämpft hat und in 2016 mit seiner Ehefrau Linda als therapeutische Intervention aufgrund seiner Posttraumatischen Belastungsstörung zurück in das Land seiner Alpträume reist. Was seine Frau nicht weiß: Auch er hat damals ein Kind mit einer Vietnamesin gezeugt.

Durch einen gekonnten Wechsel zwischen diesen Erzählsträngen entwirft die Autorin nun eine Geschichte um die Schicksale, die ein so fürchterlicher Krieg hervorbringt. Wobei sie die Auswirkungen des Krieges jenseits der daraus resultierenden Toten und Verletzten darstellt. Sie verzichtet größtenteils auf Gewaltdarstellungen, sondern deutet nur an. Es geht ihr um die Überlebenden, die ein Leben lang - und über mehrere Generationen hinweg - mit den Folgen umgehen müssen. Gleichzeitig schafft sie mithilfe ihrer Figuren und deren Erfahrungen und Unterhaltungen untereinander ein tiefgreifendes Verständnis dieses Krieges ganz ab von den in der westlichen Welt verbreiteten Filmen. Denn auch wenn in der westlichen Popkultur meist Antikriegswerke entstanden sind, sind diese doch fast ausschließlich aus Sicht von US-Amerikanern gezeichnet. Ein Manko, welches auch schon und noch deutlicher Nguyễn Thanh Việt (in Deutschland unter Viet Thanh Nguyen bekannt) in seinem großartigen Roman „Die Sympathisanten“ anprangerte.

Nguyễn Phan Quế Mai gibt ihren Figuren die nötige Tiefe, sodass der Roman nie rein programmatisch wirkt, sondern immer auch emotional berührt. Er liest sich unglaublich süffig und fesselt bis zur letzten Seite. Ich konnte das Buch kaum aus der Hand legen. Und während man diese mitreißende Geschichte liest, lernt man unglaublich viel über diesen komplizierten Konflikt und die Folgen für das Land und die Menschen bis in die heutige Zeit hinein.

Allein gegen Ende kommt es zu einer Plotentwicklung, die mir etwas zu überzufällig erschien, weshalb ich nicht ganz die volle Punktzahl vergeben kann. Mit Blick auf das gesamte Werk fällt dies jedoch nicht schwer ins Gewicht. Denn insgesamt handelt es sich um einen unglaublich lesenswerten Roman, der geschickt konstruiert ist und durch seiner Figurenzeichnung besticht. Deshalb gibt es von mir eine eindeutige Leseempfehlung für „Wo die Asche blüht“. Und wer sich noch weiter ins Thema einlesen möchte, dem seien die Werke von Nguyễn Thanh Việt ans Herz gelegt.

4,5/5 Sterne

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