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Veröffentlicht am 06.02.2023

Ein kleiner, aber mächtiger Roman

Macht
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In diesem Roman der norwegischen Schriftstellerin und Fotografin dreht sich alles um Macht. Aber eben nicht um politische Macht, sondern um die Macht über den eigenen Körper. Denn die namenlose Ich-Erzählerin ...

In diesem Roman der norwegischen Schriftstellerin und Fotografin dreht sich alles um Macht. Aber eben nicht um politische Macht, sondern um die Macht über den eigenen Körper. Denn die namenlose Ich-Erzählerin hat vor 15 Jahren eine Vergewaltigung erleben müssen und kämpft seitdem um diese Macht, nachdem sie sie an einem Abend komplett verloren hatte.

Mit lakonischer Sprache schildert uns die Erzählerin ihre aktuelle Lebenswelt. Sie ist Krankenpflegerin, verheiratet und hat zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, ist mittlerweile gut situiert. Diese finanzielle Unabhängigkeit nutzt sie, um durch luxuriöse Kleidung sowie teure Pflege- und Kosmetikprodukte ihren Körper nach den eigenen Vorstellungen formen zu können. Alles muss perfekt sein. Oder zumindest so scheinen. Denn sie meint auf der Straße anderen Frauen ansehen zu können, ob sie in ihrem Leben auch schon vergewaltigt worden sind. Eine von zehn Frauen in Norwegen hat diese Erfahrung machen müssen. Nun möchte Sie mit aller Macht die Kontrolle über ihren Körper zurück, hätte sie am liebsten nie abgegeben.

Anhand kleinster, alltäglicher Situationen macht Furre deutlich, wie sich die Vergewaltigung ganz ohne Verfallsdatum noch viele Jahre nach dem Vorfall auf das Leben ihrer Protagonistin auswirkt. Der Gang zur Zahnärztin, das damit verbundene an die Decke starren und warten, dass es endlich vorbei ist. Einmal Angst gehabt zu haben, durch die Hand eines Mannes zu sterben und nun jede Nacht neben einem solchen im Ehebett zu liegen. Ständig der Bedrohung einen Schritt voraus sein zu wollen, ob beim Weg nachhause vom Bus oder bei der Krebsvorsorge. Immer die Kontrolle, die Macht behalten. „Ich bügele meine Blusen und reinige meine Haut. Das ist mein Überlebensmodus.“

Der eigentliche Akt der Vergewaltigung wird dabei nicht detailliert von Furre geschildert. Das braucht es nicht, um den Horror einer solchen Tat zu verdeutlichen. Dabei hadert die Protagonistin doch auch stark mit sich selbst. Zweifelt in Gedanken noch Jahre später an, ob es überhaupt „definitionsgemäß“ eine Vergewaltigung war, ob sie sich nicht hätte mehr wehren sollen, ob es nicht doch ihre eigene Schuld war. Ganz meisterhaft lotet die Autorin mithilfe der Gedanken ihrer Erzählerin aus, was in unzähligen #metoo-Debatten seit dem Herbst 2017 zur Sprache kam. Sie ermöglicht es dabei ihrer Erzählerin den Vorfall und die Konsequenzen aus verschiedenen Blickwinkeln zu sehen. Wobei uns Leser:innen durchaus bewusst wird, dass diese Abwägungen für die Erzählerin mitunter eher Vermeidungsstrategien darstellen und sie in ihrer Heilung behindern. Sie berichtet uns von ihren mal mehr, mal weniger adäquaten Bewältigungsstrategien und wir dürfen sie ein Stück auf ihrem Weg der Bewältigung begleiten.

Sprachlich ist der Roman sehr nüchtern aber dadurch auch immer unglaublich präzise formuliert. Auf den nur 170 Seiten finden sich unzählige prägnante Sätze, die lange nachhallen. Ebenso wie die ganze Geschichte dieses Romans, oder besser: dieser Frau. Denn es ist leider die Geschichte von so vielen Frauen (und weniger, aber auch Männern). Jede Person hat eigene Bewältigungsstrategien, hier bekommen wir eine Auswahl davon zu lesen. Das ist unglaublich aufschlussreich und einprägsam. Und letztlich vielleicht sogar aufgrund der lakonischen Sprache besonders erschütternd.

Auch wenn die Autorin zum Ende hin ein wenig diese knackige Art der Beschreibungen aus den Augen verliert, finde ich den Roman einfach nur großartig. Dünn aber ungemein gehaltvoll, weshalb ich die Lektüre dieses Buches nur dringend empfehlen kann.

Zum Abschluss noch ein Wort zur Gestaltung des Buches. Die Covergestaltung ist wirklich überwältigend treffend in seiner Mehrdeutigkeit. Erwähnenswert sind aber auch die beiden Fotografien auf dem Vor- und Nachsatz. Diese stammen von der Künstlerin Niki de Saint Phalle aus dem Jahre 1961. Eine Künstlerin, die sich Zeit ihres Lebens mit den Folgen einer Vergewaltigung auseinandergesetzt hat. Und sie spielt auch eine gewisse Rolle für die Erzählerin, sodass bei dieser Ausgabe des DuMont Buchverlags wirklich von vorn bis hinten alles durchdacht gestaltet wurde. Toll!

4,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 06.02.2023

Interessanter familienbiografischer Roman auf Deutsch - Russisch - Kasachisch

Sibir
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Sabrina Janesch, selbst Tochter einer polnischen Mutter und eines Vaters, der – ebenso wie der Protagonist ihres Romans, Josef – als Kind mit seiner Familie aus dem Wartheland in die Steppe Kasachstans ...

Sabrina Janesch, selbst Tochter einer polnischen Mutter und eines Vaters, der – ebenso wie der Protagonist ihres Romans, Josef – als Kind mit seiner Familie aus dem Wartheland in die Steppe Kasachstans verschleppt wurde, führt im vorliegenden Roman familienbiografische Hintergründe und Recherchen zu einem spannenden Porträt einer Familie über Generationen hinweg zusammen.

Josef ist zehn Jahre alt, als er 1945 mit seiner in Galizien (Ukraine) angesiedelten, deutschstämmigen Familie bestehend aus seinem Bruder, seiner Mutter, der Tante und den Großeltern von russischen Soldaten nach Sibirien verschleppt wird. In die BRD kommt die Familie zehn Jahre später durch Verhandlungen von Bundeskanzler Adenauer mit weiteren zehntausenden Kriegsgefangenen – hauptsächlich Soldaten. Bekannt sind die Geschichten von Wehrmachtssoldaten, die in die russischen Gulags für viele Jahre verschwanden und in stark reduzierter Anzahl erst Jahre später freikamen. Von sogenannten „Zivilverschleppten“ hörte man bisher jedoch nur wenig. Als Vergeltung für Taten Nazideutschlands im Krieg wurden deutsche Zivilisten, die in östlichen Gebieten lebten, u.a. in die kasachische Steppe zum Arbeitsdienst verschleppt.

Josefs Geschichte lesen wir nun nur deshalb, weil seine Tochter Leila beginnt seine im Alter von über 80 Jahren schwindenden Erinnerungen aufzuschreiben. So gelingt der Einstieg in diesen Roman und überraschenderweise bleibt die Erzählung fortan jedoch nicht nur im Jahre 1945/46 in der kasachischen Steppe sondern springt im Verlauf des Buches zeitlich und örtlich immer wieder ins Jahr 1990/91, als die Sowjetunion zusammenbrach und erneut deutschstämmige Menschen, sog. „Russlanddeutsche“ in die BRD übersiedelten. Hier begleiten wir nun Leila, in etwa im selben Alter nun wie damals ihr Vater Josef, als er verschleppt wurde. So erfahren wir nicht nur etwas über das Leben des kleinen Josefs in der „Gelber-Rücken-Steppe“, Sary Arka, und seiner Freundschaft mit dem kasachischen Jungen Tachawi, sondern auch über das Leben des erwachsenen Josef sowie seiner Tochter Leila und ihrer Freundschaft zu Arnold, einem Jungen mit ähnlicher Familiengeschichte, und Pascha, dem Sohn einer Spätaussiedler-Familie.

Durch diesen geschickten Schachzug der Gegenüberstellung zweier Kindheiten fächert die Autorin die Familiendynamiken unter unterschiedlichen Vorzeichen auf und bringt uns Lesenden gleich zwei historische Phänomene näher. Das ist psychologisch wie auch sprachlich sehr gut umgesetzt. Mithilfe weniger Sätze baut sie die Atmosphäre der einen und der anderen Lebenswelt in unserem Kopf auf und zieht uns in diese aufregende Familiengeschichte hinein. Besonders die Beschreibungen um die durch die Sowjets zusammengewürfelte Dorfgemeinschaft Nowa Karlowka in Kasachstan überzeugen ohne Abstriche. Sie schreibt:

„Erst wesentlich später wurde ihm klar, dass die Tscherkessen, Armenier, Ukrainer, Polen, Esten, Finnen, Tschetschenen, Koreaner und Kalmücken, die in Nowa Karlowka lebten, schon vor Jahren aus allen möglichen und unmöglichen Ecken des sowjetischen Imperiums zusammengetrieben worden waren und in die Steppe geschafft. Nichts davon war freiwillig geschehen, die bunte Dorfgemeinschaft war brutal erzwungen, und sie alle, alle waren Gefangene, zurückgehalten nicht von Mauern, sondern von Leere.“

Dieser kulturellen und sprachlichen Mischung verleiht die Autorin gekonnt Ausdruck, indem sie immer wieder Vokabeln, welche an der Stelle des Buches für die Geschichte wichtig sind, in den drei Sprachen Deutsch, Russisch und Kasachisch auftauchen lässt. Denn Josef ist es verboten Deutsch zu sprechen, er will die Sprache aber nicht vergessen, in Russisch muss er sich im Dorf ausdrücken und mit seinem Freund Tachawi kann er sich nur auf Kasachisch verständigen.

Zugegebenermaßen empfand ich den Erzählstrang in der Steppe um den jungen Josef über die Länge des Buches hinweg ein wenig interessanter als der um 1990/91. Auch wenn ich die literarische Entscheidung der Autorin, jeweils nur etwa ein Jahr aus dem Leben der jeweils etwa zehnjährigen Kinder Josef und auch Leila zu erzählen, sehr gut nachvollziehen kann, so hätte ich mir doch noch mehr und Weiterführendes aus Josefs Kindheit und Jugend erhofft. Zuletzt tauchen im Erzählstrang 1990/91 außerdem ein paar zu viele Handlungswendungen auf und machen diesen ein wenig zu wuselig. Das Ende des Buches ist dann wieder erfrischend und konnte mich überzeugen.

Insgesamt handelt es sich bei „Sibir“ als um ein äußerst lesenswertes Buch, welches ich allen Interessierten ans Herz legen möchte. Da die Autorin ja bereits in der Vergangenheit literarisch ihre Familiengeschichte aufgearbeitet hat, bleibt noch die kleine Hoffnung erhalten, dass wir doch noch einmal zur Figur „Josef“ in einem Roman zurückkehren können, um mehr über seine Jugend und junges Erwachsenenalter zu erfahren.

4,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 22.04.2024

„Das ist kein lustiges Abenteuer, Huck.“

James
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Zumindest vom Namen her kennt so ziemlich jeder und jede „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ von Mark Twain. Dort erlebt der Halbwaise Huck zusammen mit dem entlaufenen Sklaven Jim so einige Abenteuer ...

Zumindest vom Namen her kennt so ziemlich jeder und jede „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ von Mark Twain. Dort erlebt der Halbwaise Huck zusammen mit dem entlaufenen Sklaven Jim so einige Abenteuer entlang des Mississippi Mitte des 19. Jahrhunderts. Percival Everett schnappt sich nun die Romanvorlage von Twain, den er sehr verehrt (siehe Danksagung: „Sein [Mark Twains] Humor und seine Menschlichkeit haben mich beeinflusst, lange bevor ich Schriftsteller wurde.“), und erweitert diesen Klassiker um den Blickwinkel des Sklaven Jim.

Everett löst dies sehr geschickt, indem er die Passagen auserzählt bzw. hinzuerfindet, in denen im Originaltext Huck und Jim voneinander getrennt sind. Erfährt man bei Twain ausschließlich, was Huck in diesen Episoden passiert, ist es bei Everett umgekehrt. Wir begleiten die gesamte Zeit über Jim und mit zunehmenden Verlauf weicht Everetts Roman sowie Everetts Jim auch mehr und mehr vom Originaltext ab. Wir werfen quasi einen Blick hinter die Kulissen von Twains Roman, denn Jim erschien damals eher eine Kulisse für Hucks Abenteuer zu sein. Nun spielt er die Hauptrolle und somit erfahren sehr viel über die Lebensrealität von Sklaven in der damaligen Zeit.

Hier macht sich Everett, wie auch schon in „Die Bäume“, das Stilmittel der phantastischen Elemente zunutze. Denn Jim kann nicht nur lesen und schreiben, was damals nur ganz, ganz selten überhaupt der Fall war, sondern er liest auch noch aus der Bibliothek von Richter Thatcher Bücher von Voilaire und anderen Philosophen und Gesellschafts-/Staatstheoretikern. Jim ist hochgebildet. Überhaupt erfährt man schon auf den ersten Seiten, dass alle Sklaven in diesem Roman „zweisprachig“ aufwachsen. Sie können ganz regulär Standardenglisch sprechen, was sie allerdings nur tun, wenn sie sich untereinander unterhalten, und wenn sie mit Weißen sprechen, nutzen sie eine vereinfachte und grammatikalisch falsche „Sklavensprache“. Denn die Weißen sollen sich überlegen fühlen. So heißt es im Buch „Es lohnt sich immer, Weißen zu geben, was sie wollen“, denn „je besser sie sich fühlen, desto sicherer sind wir.“ Eine Feststellung, die noch bis in die Gegenwart hineinreicht, wenn Schwarze Eltern ihren Kindern beibringen, wie sie sich weißen Polizisten gegenüber verhalten sollen, damit sie ja nicht aus Versehen bei einer Polizeikontrolle umgebracht werden. Und mit diesem Verweis in unsere heutige Zeit ist gleich die Tiefgründigkeit und Doppeldeutigkeit des vorliegenden Romans skizziert. Everett hat definitiv keinen einfachen historischen Roman geschrieben, nein es handelt sich meines Erachtens um Gegenwartsliteratur, die das historische Setting nutzt, um nicht nur die lebensbedrohliche Realität für Schwarze in der Vergangenheit aufzuzeigen, sondern auch immer wieder Querverweise in die Gegenwart zu geben und weiterhin bestehende Probleme anzuprangern.

Hatte ich zunächst noch Probleme mit dem Tempo, der Struktur des Romans, der nun einmal stark an den Abenteuerroman angelehnt ist, waren mir die Episoden zu schnell erzählt und wechselten von einer Szene in die nächste hopplahopp. So ergriff mich „James“ im späteren Verlauf immer mehr. Ich habe den Roman zu Beginn als sarkastisch und beißend empfunden, nie lustig/witzig/amüsant, wie es bei Twain der Fall war. Später wird er immer ernster und tonnenschwer, indem er immer stärker von "Die Abenteuer des Huckleberry Finn" abweicht und - nicht nur - in die (Überlebens-)Realität von James eintaucht. Hier bleibt der Autor vom Stil her der Vorlage treu, es sind meist sehr kurze, "abenteuerliche" Sequenzen, die schnell wechseln. Das ist grundsätzlich ein Stil der mir nicht gut gefällt, aber ich kann nachvollziehen, warum sich hier Everett anpasst an Twains Vorlage. Umso stärker der Roman ein Eigenleben entwickelt und auch immer stärker der "Sklave Jim" zum "freien Mann James" wird, umso stärker hat der Roman mir gefallen. An einer Stelle sagt James zu Huck: „Das ist kein lustiges Abenteuer, Huck.“ als es um das Leben als Schwarzer geht. Und dieser Satz unterstreicht hervorragend nicht nur den Unterschied zwischen Twains und Everetts Werk sondern auch die Wichtigkeit von dieser literarischen Ergänzung Everetts zum Schlüsselwerk der US-amerikanischen Literatur.

Mir hat der Roman als Ganzes sehr gut gefallen. Das liegt vor allem an Everetts Ideen, wie er das Thema Sprache, Intelligenz, Bildung und die damit einhergehende Gefahr für die Unterdrücker umgeht. Er zeigt auf, dass Schwarze eben nie per se "dumm" waren, sondern genauso intelligent (oder eben nicht), wie alle anderen Menschen auch. Gleichzeitig zeigt er, wie (überlebens)wichtig ein an die Unterdrückung angepasstes Verhalten für die damaligen Sklaven war.

Die Übersetzung von Nikolaus Stingl finde ich, besonders unter Betrachtung der „Sklavensprache“, „eine spezielle Ausprägung des Südstaatenenglisch, die im 19. Jahrhundert von Schwarzen gesprochen wurde und in Grammatik und Aussprache stark vom Standardenglisch abweicht“ (aus den Nachbemerkungen des Übersetzers), äußerst gelungen und auch dessen Nachbemerkungen erscheinen mir interessant und wichtig.

Somit handelt es sich hierbei um einen wichtigen Roman, der den Klassiker „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ von Mark Twain keinesfalls vollständig ersetzen will, sondern eine dringliche Ergänzung zu der bisherigen Charakterisierung und der Geschichte der Sklaven in den USA darstellt. Ein Roman, der definitiv eine Leseempfehlung von mir erhält, auch wenn er meines Erachtens an den Vorgänger „Die Bäume“ nicht heranreicht.

4/5 Sterne

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Veröffentlicht am 14.04.2024

Eine feministische Utopie und Dystopie zugleich

Und alle so still
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Mareike Fallwickl ist für ihre feministischen Inhalte bekannt. In ihrem aktuellen Roman „Und alle so still“ treibt sie dies auf die Spitze, indem sie ein Szenario entwirft, welches zu dem Zusammenbruch ...

Mareike Fallwickl ist für ihre feministischen Inhalte bekannt. In ihrem aktuellen Roman „Und alle so still“ treibt sie dies auf die Spitze, indem sie ein Szenario entwirft, welches zu dem Zusammenbruch bekannter Strukturen führt, weil sich Frauen verweigern.

Die Prämisse des Romans wird gleich mit dem ersten Kapitel mit der Überschrift „Die Pistole“ vorgelegt: Hier wird es gewaltsam und nicht friedlich bleiben. „Die Pistole“ ist neben „Die Berichterstattung“ und „Die Gebärmutter“ eine aus sich heraus sprechende Entität, die neben den im personalen Erzählstil gehaltenen Kapitel der Protagonist:innen Elin (Anfang 20jährige, gut situierte Influencerin und Tochter der Feministin der Dritten Welle Alma), Nuri (19jähriger Sohn einer sri-lankischen Mutter und eines deutschen Vaters aus der Arbeiterschicht, lebt in prekärsten Lebensumständen) und Ruth (55jährige Krankenschwester am absoluten Leistungslimit), im Buch auftreten. Fallwickl begleitet nun eine Woche lang diese Figuren und zeichnet nicht nur die Entwicklung der Personen sondern auch die besorgniserregenden Entwicklungen in der Gesellschaft nach. Denn plötzlich beginnen immer mehr Frauen ihre bezahlte und unbezahlte Care-Arbeit niederzulegen und sich selbst gleich noch mit dazu. Sie liegen regungs- und sprachlos vor Krankenhäusern, Kindergärten und anderen Einrichtungen. Habe keine Forderungen, schreien keine Parolen. Sie verweigern sich. Und es schließen sich immer mehr diesem stillen Protest an. Innerhalb weniger Tage passiert das, was schon seit längerem in der Theorie vorhergesagt wird: das System bricht zusammen, denn die Frauen sind durchaus systemrelevant. Nach erstem Unverständnis kippt die Stimmung schnell und es kommt zu gewalttätigen Übergriffen auf die Frauen, welche aber weiterhin still zusammenhalten und sich gegenseitig unterstützen.

Fallwickl entwirft in ihrem Roman eine Utopie und eine Dystopie zugleich. Utopisch ist sicherlich die Idee, dass sich tatsächlich eine kritische Masse an Frauen zusammenschließt und vollkommen solidarisch sich verweigert. Schon Karl Marx und Friedrich Engels forderten „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“, hier könnte es heißen „Frauen aller Länder, vereinigt euch!“. Der erste Ruf war schon wünschenswert, aber utopisch, der zweite ist es ebenso. Trotzdem ist es hoch interessant dieses Gedankenexperiment einmal mit all seinen Konsequenzen durchdekliniert zu lesen. Denn hier kommt das dystopische Momentum ins Spiel: Welch schreckliche Szenarien muss man sich konkret dann vorstellen? Krankenhäuser, in denen Chaos herrscht und die Patient:innen unterversorgt wegsterben (wir sind nicht weit davon entfernt!), Gruppen von überforderten Männern, die unberechenbar werden, (aber auch Männer, die sich mit den Frauen solidarisieren und ihnen helfend zur Seite stehen!), ein Gesellschaftssystem, welches die Arbeit der Frauen nicht annähernd ausreichend wertschätzt und diese gleich verteilt, und deshalb über kurz oder lang zusammenbricht. In dieser Fiktion passiert es über kurz, nämlich innerhalb weniger Tage.

Zunächst hatte ich Probleme in den Text hineinzufinden, da das erste Figurenkapitel mit der Influencerin Elin auf mich durch und durch abstoßend wirkte. Erst nach und nach habe ich in die Geschichte hineingefunden, die allerdings meines Erachtens nicht so genial konstruiert ist, wie dies bei „Das Licht ist hier viel heller“ der Fall war. Die Geschichte greift nicht so gut ineinander, der Spannungsbogen erscheint mir insgesamt nicht so richtig konsistent. Trotzdem hat mich die Autorin in vielen Einzelszenen richtig fest packen und sogar zu Tränen rühren können. Wie eindringlich sie den dreizehnten Nachtdienst am Stück von Ruth beschreibt, auf einer unterbesetzten Station, allein mit 24 hoch pflegebedürftigen Menschen, vollkommen überfordert und schon weit über der Leistungsgrenze. Wie aufrüttelnd die prekäre Lebenssituation und die scheußlichen Arbeiten, die Nuri für einen Lohn ausführt, der nicht mehr zum Leben reicht. Das ist schon großartig gemacht.

Insgesamt macht dieser Roman unglaublich wütend. Wütend ist man über das Gefälle, welches immer noch existiert, welches geändert gehört. Aber auch die Autorin weiß darauf kein Patentrezept. Sie legt ihren Roman als Gedankenexperiment an, eines welches wahrscheinlich nie in der Realität umgesetzt wird. Aber sich damit zu beschäftigen, hat mir unglaublich angeregt. Auch wenn also der Roman für mich literarisch nicht ganz rund wirkte, so bekommt er doch von mir eine Leseempfehlung ausgesprochen. Inhaltlich hat er mich total angesprochen. Nun muss ich nur noch endlich „Die Wut die bleibt“ lesen, denn lässt doch Fallwickl eine ihrer Figuren im Roman, der wie eine Fortführung des eben genannten wirkt, fragen: „Und was kommt nach der Wut?“ Das vorliegende Buch scheint die Antwort zu geben, denn wie es dort auch heißt „[sind] diese Frauen […] die Knochen nach einem Ermüdungsbruch. Sie sind durchgescheuert, angeknackst, verschlissen.“ und nun gehen sie einen neuen Weg und es entsteht „Die Panik, das Wissen, wie verkehrt alles läuft und dass niemand es erkennt, aber auch die Ratlosigkeit und die Verlorenheit, weil es abseits der Norm keine Wege gibt, nur Dickicht.“ Dieses einmal außerhalb der Norm denken, gefällt mir am Roman.

4/5 Sterne

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Veröffentlicht am 29.01.2024

Interessant konstruierter Roman mit aufschlussreichem Inhalt

Augenstern
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Was werden wir im Laufe unseres Lebens vergessen? Unsere erste Liebe? Ungerechtigkeiten gegenüber unserer Familie? Oder doch nur das, was wir vergessen wollen: traumatisierende Erlebnisse, die einfach ...

Was werden wir im Laufe unseres Lebens vergessen? Unsere erste Liebe? Ungerechtigkeiten gegenüber unserer Familie? Oder doch nur das, was wir vergessen wollen: traumatisierende Erlebnisse, die einfach zu schlimm erscheinen, um sie zu erinnern?

Amir ist vor dem Sturz des iranischen Schah Reza in 1979 ein Lebemann in dieser weltoffenen und mitunter sehr progressiven Gesellschaft. Er genießt nicht nur den Alkohol sondern auch die Frauen. Gefühlt alle Frauen Teherans, aber dazu gleich mehr. All das erfahren die Lesenden jedoch erst nach und nach im Roman. Und zwar nicht durch Amir sondern durch die sogenannten "Schulterengel" Amirs. Gemäß der islamischen Tradition zeichnen sie auf der rechten und linken Schulter einer Person sitzend auf, was diese Person in ihrem Leben denkt/sagt/tut, damit diese Aufzeichnungen am Tag des Jüngsten Gerichts festzustellen, ob die Person würdig ist, ins Paradies aufgenommen zu werden. Wir benötigen diese Aufzeichnungen, um in die Vergangenheit von Amir zu schauen. Die Handlung setzt nämlich nach dem iranisch-irakischen Krieg der 1980er Jahre ein, nachdem Amir von seiner Mutter und Schwester in einer Psychiatrie wiedergefunden wird, Jahre nachdem er im Krieg schwerst traumatisiert wurde. Er kann sich an nichts oder zumindest nicht viel erinnern und begibt sich auf eine Suche nicht nur nach seinem früheren Leben, sondern auch seiner großen Liebe.

Geschickt stellt der Autor anhand des Lebens seines Protagonisten Amir das "freie" Leben unter dem Schah und mit dem harten Einschnitt der islamischen Revolution und des darauffolgenden Krieges mit dem Irak die spätere islamische Republik dar. Amir führte ein ausschweifendes Leben mit viel Geld, Alkohol und Frauen. Die Frauen wollte er sammeln wie Trophäen, eine für jeden Buchstaben im persischen Alphabet wollte er vögeln. Und ja, da sind wir schon beim einzigen Kritikpunkt zum Buch: Es wird über weite strecken gefickt, gevögelt usw. Ständig ist von Muschis, Schwänzen, Blüten ... die Rede. Was der Autor deutlich klarstellen will: Dass ein ausschweifendes, sexuell freies Leben zu Zeiten der modernen Monarchie überhaupt möglich war, wird nach den ersten zwei oder drei Beispielen von Affären deutlich. Leider übertreibt er es meines Erachtens ein wenig und bringt dann doch zu viele Beispiele Amirs Sexlebens im Buch an. Zugutehalten muss ich dem Autor, dass alle dieser "Sexobjekte" als selbstbestimmte Frauen dargestellt werden. Etwas, was mit der islamischen Revolution kippt. Die Frauen werden verhüllt, der Minirock verschwindet und der Hidschab taucht auf und damit auch das Ende der Freiheiten für den weiblichen Teil der Bevölkerung. Zuletzt bindet der Autor überdies noch den Kampf nach Autonomie der iranischen und irakischen Kurden in das Buch ein. Das ist alles in allem hoch informativ und bringt die historischen Veränderungen im Iran aber auch das Drumherum, um es mal salopp zu sagen, den Lesenden auf einer persönlichen Ebene sehr nahe.

Insgesamt kann ich diesen Roman aufgrund seiner Direktheit, nähe zu einem menschlichen Schicksal - und damit zu vielen Schicksalen - aber vor allem auch aufgrund seines kreativen Ansatzes bezüglich der Zeitsprünge durch die Aufzeichnungen der Schulterengel sehr empfehlen.

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