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Veröffentlicht am 14.05.2023

Alle unsere Lebenden und alle unsere Toten(-gräber)

Als wir Vögel waren
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In ihrer mythischen Liebesgeschichte, die in einer imaginären Stadt, Port Angeles, auf der karibischen Insel Trinidad spielt bringt die 1980 auf Trinidad geborene Autorin Ayanna Lloyd Banwo zwei Menschen ...

In ihrer mythischen Liebesgeschichte, die in einer imaginären Stadt, Port Angeles, auf der karibischen Insel Trinidad spielt bringt die 1980 auf Trinidad geborene Autorin Ayanna Lloyd Banwo zwei Menschen auf einem holprigen Weg zusammen, die kaum zueinander zu passen scheinen. Beide, sowohl Yejide als auch Darwin, tragen eine große familiäre Verantwortung und es wird im Verlauf das Buches immer klarer, dass sie dieser nur zusammen gerecht werden können.

Yejide treffen wir an, als ihre Mutter im Sterben liegt. Nach und nach erfahren wir, dass das ehemalige Plantagengebäude, in dem die Nachkommen ehemaliger Sklaven – die Familie Yejides und weitere Bewohner seit vielen Generationen leben, stets durch ein Matriarchat von Yejides Familie geführt wurde. Da nun ihre Mutter auf der Schwelle zum Tod steht, muss Yejide entscheiden, ob sie diese Bürde annehmen und dem Auftrag ihrer Vorfahren folgen kann. Denn es geht hier nicht nur um die Hausverwaltung, es geht um das spirituelle Erbe. Alle weiblichen Vorfahren von Yejide waren dazu bestimmt, die Sterbenden auf ihrer Reise ins Jenseits und darüber hinaus zu begleiten. Die Transition würde Yejide einfacher fallen, wenn nicht die Beziehung zur Mutter von jeher gestört gewesen wäre. So hadert sie auf mystischer wie auch auf psychologischer Ebene mit sich und ihrem Erbe.

Darwin hingegen ist mit den Ritualen der Rastafari-Religion aufgewachsen, hat gelernt, dass die Lebenden nicht einmal einen Blick auf die Toten werfen dürfen. Nach einem Aufwachsen mit Ressentiments der Umwelt sich selbst und seiner alleinerziehenden Mutter gegenüber aufgrund ihrer Religion, muss er nun schweren Herzens die wichtige Regel der Trennung von Lebenden und Toten brechen. Um seine Mutter und sich ernähren zu können, muss er einen Job als Totengräber auf dem großen Friedhof Port Angeles‘ „Fidelis“ annehmen.

Beide Wege kreuzen sich nun auf Fidelis, ein Friedhof, auf welchem viele ruhelose Seelen - tot und lebendig - umherirren.

Mich hat dieser Roman um Mythen, Bräuche, indigene Schöpfungsgeschichten, Märchen und von den Sklaven aus Afrika mitgebrachte Traditionen in der Karibik immer stärker eingewickelt und in die Geschichte gesogen. Dies war mein erster intensiverer Kontakt außerhalb von popkulturellen Verweisen mit der Rastafari-Religion, ihren christlichen Ursprüngen und alttestamentarischen Bezügen. Hinzu kommen die afrikanischen Mythen, die durch Yejides Familie vermittelt werden. Vieles, besonders zur Rastafari-Religion wird im Buch nur angedeutet, weckt aber dadurch das Interesse, sich ausführlicher mit dem Thema zu beschäftigen.

Der Plot des Romans wird von einer zunächst sehr ruhigen Einführung in die Geschichten der beiden Hauptcharaktere bestimmt und entwickelt sich im Verlauf zunehmend zu einem spannenden Pageturner mit viel Geisteraction aber auch einer ungewöhnlichen Liebesgeschichte. Neben diesen Themen werden durchgängig auch die Fragen nach einer Übernahme von Familientraditionen, dysfunktionalen Mutter-Tochter-Beziehungen, Erbe, Klassenunterschiede und der schmale Grat zwischen Leben und Tod verhandelt.

Insgesamt ist das Buch gut geschrieben. Die Übersetzerin Michaela Grabinger (no pun intended) hat gute Arbeit geleistet bei der Übertragung des Textes aus dem trinidad-kreolischen Englisch, indem sie gerade Darwin eine eher lasche, dezent Umgangssprache gegeben hat, um die Formulierungen ins Deutsche zu bringen. Unabhängig von diese gewollten Umformulierungen und Verkürzungen der Sprache hat jedoch eine signifikant hohe Anzahl an Tippfehlern den Weg ins Buch gefunden, weshalb ein genaueres Lektorat diesbezüglich dem Buch gutgetan hätte.

Diese Geschichte die den magischen Realismus Südamerikas mit den Mythen Afrikas verbindet hat mir sehr gut gefallen und sorgt dafür, dass die junge Autorin nach diesem Debütroman definitiv auf dem Radar bleibt.

4/5 Sterne

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Veröffentlicht am 08.05.2023

Die Absurdität des Alltags

Stories
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Die Geschichten der im deutschsprachigen Raum neu entdeckten Autorin Joy Williams, die aber mit einem Alter von fast 80 Jahren schon seit Jahrzehnten in den USA Geschichten veröffentlicht, drehen sich ...

Die Geschichten der im deutschsprachigen Raum neu entdeckten Autorin Joy Williams, die aber mit einem Alter von fast 80 Jahren schon seit Jahrzehnten in den USA Geschichten veröffentlicht, drehen sich allesamt um meist höchst absurde Szenen im Alltag von amerikanischen Menschen.

Die erste Geschichte der hier versammelten insgesamt 13 Erzählungen stellt dabei noch die eingängigste dar. Ein Prediger muss sich während der schweren Erkrankung seiner Frau nicht nur um diese im Krankenhaus, sondern auch noch um seine erst sechsmonatige Enkeltochter und den Hund der eigenen Tochter kümmern. Die im Deutschen mit „Liebe“ überschriebene und im Englischen mit „Taking Care“ betitelte Kurzgeschichte beleuchtet nach klassischem Kurzgeschichtenmuster kurz das Leben eines Mannes, der sich unversehens in einer ungewöhnlich belastenden Situationen wiederfindet und damit zurechtkommen muss. Ganz anders sieht es in der Geschichte „Kongress“ aus, in welcher eine Frau die Pflege ihres Mannes dessen Verehrer in die Hände gibt und selbst durch einen Roadtrip in einem obskuren Museum für präparierte Tierkadavar landet, in welches tagtäglich eine Unmenge an Besucher:innen aus dem ganzen Land pilgert, um den Präparator einmal persönlich sprechen zu können.

Immer wieder steigen wir unvermittelt ein in das scheinbar alltägliche Leben amerikanischer Bürger:innen, meist in der (unteren) Mittelschicht angesiedelt. Wenn man einmal den Erzählstil von Williams erkennt, wartet man dann schon auf den Einzug der Skurrilität in diese Blitzlichter des Lebens. Das ist sehr speziell und mag Leser:innen, die sich an der ersten Geschichte dieser Sammlung orientieren, zunehmend abschrecken. Wer jedoch Freude an klassischen amerikanischen Kurzgeschichten hat, die aber immer auch mit krudem Humor und Kuriositäten gespickt sind, wird diese Geschichtensammlung wirklich sehr mögen. Man kann sich immer wieder in die Welt, die nur auf den ersten Blick durchschnittlich erscheint, fallen lassen, muss gar nicht viel heruminterpretieren – kann man, muss man nicht – , sondern bekommt ein Feuerwerk an kreativen Ideen für Plotentwicklungen geliefert. Was für die Figuren meist vollkommen "normal" zu sein scheint, ist von außen betrachtet mitunter höchst merkwürdig. Das stellt auch den Clou jeder Geschichte dar. Während des Lesens entdeckt man die Skurrilität. Was eher untypisch für Kurzgeschichten ist: Diese hier enden kaum mit einem Knall. Meist liegt der Clou am Ende einer Kurzgeschichte versteckt, Joy Williams lässt ihre Geschichten meist eher ruhig "auslaufen". Eins haben die Geschichten Williams jedoch definitiv gemein: Es tauchen immer wieder kuriose Momente auf, in denen – mal mehr, mal weniger stark – Tiere eine Rolle spielen. Achtet man darauf, wird man immer fündig.

Im Großen und Ganzen gefallen mir diese Art von Geschichten, ich lese sie gern, mag es Kleinigkeiten zu entdecken und mich von den Absurditäten überraschen zu lassen. Wie fast immer bei Kurzgeschichtensammlungen, gefällt nicht jede Geschichte gleich gut, nicht zu jeder findet man einen Zugang. Hier hat mir aber der überwiegende Teil sehr gut gefallen, weshalb ich auf solide 4 Sterne komme.

Joy Williams, eine späte Entdeckung, die aber weitere Aufmerksamkeit verdient.

4/5 Sterne

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Veröffentlicht am 26.04.2023

Ein Steg aus phänomenalen Formulierungen ins Offene Gewässer

Offene Gewässer
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Die 1983 geborene Oberösterreicherin Romina Pleschko erschafft in ihrem zweiten Roman „Offene Gewässer“ Sätze wie folgenden:

„Ich gewöhnte mich nie daran, neben einem sterbenden Märtyrer zu tafeln, und ...

Die 1983 geborene Oberösterreicherin Romina Pleschko erschafft in ihrem zweiten Roman „Offene Gewässer“ Sätze wie folgenden:

„Ich gewöhnte mich nie daran, neben einem sterbenden Märtyrer zu tafeln, und weil es den meisten ebenso erging, fragte ich mich, ob er eventuell ganz bewusst als kostenminimierende Appetitzügelungsmaßnahme in dieser selbst für enthusiastische Katholiken unüblichen Größe und Präsenz konzipiert worden war.“

Beschrieben wird hier der Essensaal samt der Statue des gekreuzigten Jesus Christus der katholischen Internatsschule, in welchem die Protagonistin und herrlich bissige Ich-Erzählerin des Romans eine Zeit lang speisen musste.

Elfi ist die sprachwitzige Erzählerin im vorliegenden Roman. Sie berichtet uns davon, wie sie als Kind durch erst einmal nicht näher bekannte Umstände aus der Heimat Stuttgart mit Umweg über ein Kinderheim hin zur Großmutter nach Oberösterreich ziehen musste. Der idyllische Ort Liebstatt liegt an einem ebenso idyllischem See, der für Elfi immer wieder erst unfreiwilliger und dann täglich aufgesuchter Rückzugsort vor den Bewohnern des Ortes wird. Denn irgendetwas stimmt nicht mit den Eltern von Elfi. Es wird ein Gerichtsverfahren erwähnt, es gibt kurz angebundene Briefe, aber so richtig erfahren wir und auch die Bewohner Liebstatts nie, was da eigentlich los gewesen ist. Deshalb ranken sich immer wieder Gerüchte um dieses Mädchen, was nie so richtig hineinzupassen scheint in die Gemeinde. Oder ist sie vielleicht auch einfach ein ganz normales Mädchen mit ganz normalen Problemen des Aufwachsens?

Ihre Geschichte schildert Elfi in ganz grandiosen Sätzen, die man sich alle wie sie da stehen markieren möchte ob ihrer phänomenalen Formulier- und Fabulierkunst. Gerade im ersten Teil des Romans, welcher mit „Liebstatt“ überschrieben ist, funkeln diese bitterbösen Edelsteine des Schreibens auf. So auch dieser hier:

„Bei fremden Eltern lief es eigentlich immer gut für mich, ich genoss es, mich als optimales Ergebnis eines solide verlaufenen Heilungsprozesses selbst anzupreisen, nur um die Unterstützung mir genetisch nicht verbundener Erziehungsberechtigter zu erlangen.“

Diese trockenen, detailreichen und unglaublich ironischen Beschreibungen machen einfach Spaß beim Lesen. So folgt man Elfi gern durch ihre Jugend mit durchwachsenen Erfahrungen bei der Partnersuche. Wobei „Suche“ kann man es kaum nennen, hat sie doch beim Schauspiel-Sommerkurs bereits ihren zukünftigen Ehemann kennengelernt. Diesen bezeichnet sie somit auch gleich nur noch als „den Mann“, der nur noch um den Finger gewickelt werden muss. Man begleitet sie durch die jugendliche Amateur-Schwimmkarriere, welche nur begann, da sie große Hände und Füße hat, und hin zur Schauspielausbildung, die sie eigentlich nur antrat, da ihr nichts besseres einfiel.

Doch dann kommt es zum Cut, wir wechseln nach zwei Dritteln des Buches in den zweiten mit den Worten „Statt lieb“ überschriebenen Teil des Romans. Das „Danach“. Und hier entglitt mir die freche Protagonistin des ersten Teils zunehmend. Man erkennt die nun zunehmend unzufriedene bis verbitterte Person kaum wieder. So treibt die Faszination für die Figur auf dem offenen Gewässer des Liebstätter Sees zunehmend davon bis man ihre Handlungen gar nicht mehr versteht. Schien die Figur in ihrem Humor bisher eine sehr resiliente Persönlichkeit, fehlt ihr dies zum Ende hin. Da in diesem Teil der Ton zu wechseln scheint, gehen auch die geliebten bissigen Formulierungen verloren.

Letztlich störte mich auch, dass wir über den gesamten Roman hinweg immer wieder mit winzig kleinen Andeutungen zu den Eltern gelockt werden, aber letztlich das Thema komplett vernachlässigt wird und wir keinerlei Grund erfahren, warum Elfi überhaupt bei ihrer Großmutter gelandet ist. Es bleibt eine Leerstelle, die tatsächlich stört.

Aufgrund der von mir heiß geliebten Sprache dieses Romans bekommt er trotz der Schwächelei zum Ende hin von mir gern 4 Sterne. Wie immer ist die Optik und Haptik des Buches aus dem Kremayr & Scheriau Verlag sehr gelungen und einfach etwas Besonderes im Bücherregal.

4/5 Sterne

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Veröffentlicht am 20.04.2023

Von Eva zu Eva

Eva
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In ihrem zweiten Roman nach „Die Gespenster von Demmin“, in dem es unter anderem um die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen ging, befasst sich Verena Keßler (Jahrgang 1988) nun mit einem Thema, mit ...

In ihrem zweiten Roman nach „Die Gespenster von Demmin“, in dem es unter anderem um die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen ging, befasst sich Verena Keßler (Jahrgang 1988) nun mit einem Thema, mit welchem sicherlich viele Frauen aus ihrer Generation derzeit hadern: dem Kinderkriegen. Nun liegt hier keine Geschichte vor, die man in den vergangenen Jahren schon zuhauf auf den Veröffentlichungslisten vorgefunden hat. Es geht nicht um die Innenansicht einer einzelnen Frau, die das Für und Wider der Mutterschaft abwägt, während sie versucht bestmögliche Work Life Balance zu halten.

In „Eva“ betrachtet Keßler vier Frauen in ganz unterschiedlichen Lebenssituationen und mit ganz unterschiedlichen Einstellungen zum Thema Mutterschaft. Da ist Sina, eine Journalistin, die zusammen mit ihrem Partner verzweifelt versucht schwanger zu werden, während in ihrem sozialen Umfeld gerade jede Frau entweder einen prallen Babybauch oder das schon geschlüpfte Küken vor ebenjenem stolz herumträgt. Da ist Eva, eine Lehrerin, die sich herausgenommen hat, einen provokativen Artikel zu veröffentlichen, in welchem sie darlegt, warum es für das Weltklima das Beste wäre, erst gar nicht mehr ein Kind in die Welt zu setzen, und dafür stark angefeindet wird, vor allem nach einem plakativ inszenierten Interview durch Sina. Da ist Mona, die Schwester von Sina, welche sich unverhofft und überrumpelt in einem anstrengendem Leben mit drei Kindern wiederfindet. Und die vierte Protagonistin, welche einem unsagbaren Verlust gegenübersieht.

Alle vier Protagonistinnen bekommen episodenhaft zusammenhängend in ihrem eigenen Kapitel den Raum, den sie benötigen, um als Leser:in ihrer Geschichte und ihren Einstellungen näher zu kommen. Wobei alle bis auf Eva aus der Ich-Perspektive heraus erzählen dürfen. Ausnahmslos allen Figuren kommt man durch den ungekünstelten und klaren Erzählstil Keßlers unglaublich nahe, ob man nun ihre Lebensentwürfe und Einstellungen grundsätzlich befürworten würde oder nicht. Es entsteht ein tiefes Verständnis und eine Nachvollziehbarkeit für sie und man fiebert mit jeder von ihnen mit. Die äußerst authentische Darstellung der Personen sorgt dafür, dass man unvoreingenommen ihre Geschichten erleben kann, ohne dass von Seiten der Autorin eine moralische Wertung vermittelt wird.

Der Facettenreichtum dieses Romans hat mich sehr begeistert, wenngleich mir zum Ende hin die Fäden zu stark auseinanderdrifteten, sodass ich das Gefühl hatte, es fehlt noch irgendetwas. Letztlich gibt es keine eindeutigen Lösungen für die angesprochenen Probleme, mit einer konkreteren Nachverfolgung der vier Leben hätte sich hier vielleicht ein runderes Bild ergeben. Ich weiß es nicht genau. Letztlich handelt es sich für mich um ein äußerst gelungenes Buch, welches sprachlich sehr solide geschrieben ist, in welchem ich mir aber auch keine ganz, ganz besonderen Sätze markiert habe, bei welchen ich dachte: „Mensch, da steckt jetzt so unglaublich viel in diesen wenigen Worten drin. Den Satz muss ich einer Freundin vorlesen.“ Zuletzt empfand ich es als nicht wirklich nachvollziehbar, warum Eva als einzige Protagonistin ein Kapitel aus der personalen Erzählperspektive heraus bekommen hat. Nahe kommt man ihr unzweifelhaft trotzdem, aber literarisch wurde mir die Entscheidung der Autorin hier nicht ganz klar.

Wenn verschiedene Generationen im Debütroman der Autorin schon eine wichtige Rolle spielten, so tauchen diese auch im vorliegenden Roman – thematisch in anderer Weise – wieder auf, wenn sie in Evas Kapitel schreibt:

„Wenn sie ehrlich war, gefiel ihr die Vorstellung sogar: eine Ahnenkette, die sich über Millionen von Jahren fortgesetzt hatte und nun endete – mit ihr. Sie würde sich nicht einreihen, sie bildete den Schlusspunkt, sie war diejenige, auf die alles hinausgelaufen war. Von Eva zu Eva.“

4/5 Sterne

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Veröffentlicht am 16.04.2023

Vielleicht ist das Krieg: wenn man nichts versteht.

Kleines Land
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Der Rapper und Autor Gaël Faye schreibt in seinem ersten Roman über die eigene Kindheit und beginnende Jugend in Burundi, einem kleinen Nachbarstaat von Ruanda, auf den sich der Konflikt und später Völkermord ...

Der Rapper und Autor Gaël Faye schreibt in seinem ersten Roman über die eigene Kindheit und beginnende Jugend in Burundi, einem kleinen Nachbarstaat von Ruanda, auf den sich der Konflikt und später Völkermord zwischen Hutu und Tutsi ebenso katastrophal auswirkte, wie auf den bekannteren Nachbarn Ruanda.

Wir begleiten den Ich-Erzähler Gabriel, kurz Gaby, der das Alter Ego von Gaël Faye darstellt, in seine Kindheit, die zunächst von sehr alltäglichen Beobachtungen geprägt ist. Seine Mutter ist als Tutsi vor vielen Jahren mit ihrer Familie aus Ruanda geflohen, der Vater ist Franzose, der als weltoffener junger Hippie in das kleine afrikanische Land Burundi reiste, sich in Gabys zukünftige Mutter verliebte und blieb. Schritt für Schritt drängt sich in den unbeschwerten Alltag des Jungen der Konflikt zwischen den Bevölkerungsgruppen, immer stärker radikalisieren sich Personen im sozialen Umfeld Gabys. Mit unserem heutigen Wissen sehen wir die politisch-gesellschaftliche Katastrophe herannahen und müssen miterleben wie Gaby und seine Familie davon überrollt wird, bis er dann zusammen mit der Schwester ins französische „Mutterland“ ausgeflogen wird.

Äußerst eindrücklich erzählt Faye in seinem autobiografisch inspirierten Roman wie eine unbeschwerte Kindheit mit der Weltpolitik kippen kann und Kinder durch äußere Einwirkungen viel zu schnell erwachsen werden müssen, um in der gewalttätigen Welt um sich herum überleben zu können. Sprachlich ist der Roman jedoch mitunter eine Hängepartie. So gibt der Autor dem Jungen zu Beginn eine sehr naiv-kindliche Sprache, obwohl durch ein einleitendes Kapitel klar wird, dass der Ich-Erzähler als Mitte 30jähriger Mann auf sein Leben zurückblickt. Die Ausdrucksformen erscheinen dadurch zunächst nicht konsistent. So sind die Schilderungen aus der Ich-Perspektive heraus so kindlich, Gespräche zwischen den Erwachsenen mit politischem Inhalt werden jedoch haargenau in eloquenter, informierter Erwachsenensprache wiedergegeben. Das stößt stilistisch beim Lesen auf, erscheint es doch so, dass Faye die Gespräche zwischen den Erwachsenen eher ungeschickt einbaut, um die Lesenden davon in Kenntnis zu setzen, worum sich der Konflikt damals drehte. Auch haben die Erwachsenen sehr viel Wissen, was zu diesem Zeitpunkt politisch hinter den Kulissen geschieht und sehen in ihren Gesprächen politische Entscheidungen und Abläufe voraus, die wir zwar aus der heutigen Sicht kennen, aber sehr wahrscheinlich nicht den Menschen im Land vor der Eskalation bekannt waren. Es wird der Eindruck vermittelt, die Menschen hätten bereits zwei Jahre vor dem Völkermord genau gewusst, dass Frankreich indirekt Partei ergreifen wird, dass die Blauhelme mit Beginn eines bewaffneten Konflikts abgezogen und nicht eingreifen werden, dass ausländische Regierungen ihre Mitarbeiter abziehen werden und dass der Großteil der Tutsi von den Hutu flächendeckend abgeschlachtet werden wird. Hier hat sich Faye scheinbar dazu hinreißen lassen, seine Protagonist:innen mehr wissen zu lassen, als sie hätten wissen können. Aber vielleicht irre ich mich und für die Bevölkerung war ihr Schicksal damals tatsächlich so genau vorhersehbar. Um auf die Sprache zurückzukommen, so ist noch anzumerken, dass trotz der zunächst sehr kindlichen Wortwahl Gabys, er in Briefen an seine französische Brieffreundin übermäßig eloquent und poetisch schreiben kann. Das verwirrt und schafft eine noch größere Kluft zwischen den erzählten Passagen. Im Verlauf des Buches wird dann auch die Wortwahl Gabys reifer, was sicherlich seiner vorgezogenen Reifung durch die konfliktreiche Lage des Landes entsprechen soll. Dass er dann wiederum als 11Jähriger recht knifflige psychologische Überlegungen anstellt, wirkt schon wieder too much. Es hätte demnach schlüssiger gewirkt, wenn sich Faye dazu entschieden hätte, durchgängig die Erinnerungen als Erzählung eines erwachsenen Gabys anzulegen. Auch erscheint die Übersetzung von Brigitte Große und Andrea Alvermann in der ersten Hälfte des Romans noch ein wenig holprig. Idiome aus dem französischen Sprachraum werden mitunter direkt Wort für Wort ins Deutsche übersetzt und wirken dadurch störend.

Nichtsdestotrotz habe ich mit großer Sympathie die Geschichte von Gaby/Gaël verfolgt und wurde gerade in der zweiten Hälfte des Romans tief berührt und dadurch auf stark erschüttert durch die Beschreibung der Gräueltaten der Hutu an den Tutsi (und auch umgekehrt aus Rachegefühlen heraus, etwas, was Faye nicht unter den Teppich kehrt). Vieles erklärt Faye mithilfe der Worte Gabys, vieles kann aber auch nicht erklärt werden.

So sagt Gaby an einer Stelle: „Ich hatte keine Antwort auf die Frage meiner kleinen Schwester. Ich hatte keine Erklärung für den Tod der einen und den Hass der anderen. Vielleicht ist das Krieg: wenn man nichts versteht.“

Ein eindrucksvolles Buch, welches ich trotz sprachlicher Schwächen definitiv für eine Lektüre empfehlen kann, um sich durch einen hautnahen, zutiefst menschlichen Einblick in den verheerenden Konflikt zwischen Hutu und Tutsi und dem daraus hervorgegangenem Völkermord anzunähern.

4/5 Sterne

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