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Veröffentlicht am 13.02.2022

Unterhaltsamer Wohlfühlroman mit viel Romantik, Humor und sympathischen Figuren

Gemeinsam ist man besser dran
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„Es hätt noch immer joot jejange.“

Tilda ist wie Mutter Teresa. Statt um sich selbst zu kümmern, sorgt sie sich immer zuerst um andere wie um ihre Schwester Mia oder um ihre Mitarbeiter in ihrem gemeinnützigen ...

„Es hätt noch immer joot jejange.“

Tilda ist wie Mutter Teresa. Statt um sich selbst zu kümmern, sorgt sie sich immer zuerst um andere wie um ihre Schwester Mia oder um ihre Mitarbeiter in ihrem gemeinnützigen Laden, denen sie eine zweite Chance bietet. Als Tildas Laden Flea Market, der in einer ehemaligen Knopffabrik untergebracht ist, einem Neubau weichen soll, hofft Tilda mit ihrem Geschäft im alten Theater gegenüber unterkommen zu können. Doch Noah Berger, ein ehemaliger Soapstar, kauft das Theater für sich. Tilda hat einen guten Grund, den etwas abgehobenen „schnöseligen Möchtegern-Schauspieler“ Noah unsympathisch zu finden. Doch dann lernt sie ihn näher kennen und blickt hinter die glatte Fassade..

Sylvia Deloys erzählt klar und flüssig in der ersten Vergangenheit und der dritten Person, ihr unkomplizierter Schreibstil ist sehr angenehm zu lesen. Dass immer wieder von verschiedenen Personen im kölschen Dialekt gesprochen wird, macht die Geschichte sehr authentisch und lebensnah.

Schon in ihren vorhergehenden Romanen beweist Sylvia Deloy, dass sie ein Händchen für sympathische, einnehmende Protagonistinnen hat. Hauptfigur Tilda ist eine „Seelenöffnerin“, die es rasch schafft, das Vertrauen anderer zu gewinnen, die sich ihr gegenüber dann schnell öffnen. Tilda erinnert an die selbstlose Amelie aus ihrem Lieblingsfilm „Die fabelhafte Welt der Amélie“. Sie kümmert sich darum, dass es anderen gut geht und vergisst dabei oft sich selbst. Aber wer kümmert sich um Tilda selbst? Aufgrund traumatischer Erlebnisse in ihrer Jugend hat Tilda das Vertrauen in sich selbst verloren und bräuchte dringend jemanden, der zu ihr hält und sie stärkt.
Noah Berger wirkt nur auf den ersten Blick selbstbewusst. In ihm drin sieht es ganz anders aus…Noah sucht noch das, was ihn wirklich glücklich macht.
Zur Figurenkonstellation gehören noch Katja, Tildas zuverlässige Freundin und Mitbewohnerin und Tildas wunderbar sympathische Mitarbeiter Helga und Cem. Vor allem die direkte Helga mit der traurigen Vergangenheit sorgt immer wieder für komische Momente. Mich hat beeindruckt, wie positiv sie trotz ihrer schweren Schicksalsschläge bleibt. Helga lässt sich einfach nicht unterkriegen.

Wieder einmal hat Sylvia Deloy einen wunderbaren, vielseitigen Wohlfühlroman geschrieben.
Es geht um Altlasten, Scheitern, erlittene Traumata, Familie, Freundschaft, Selbstfindung, aber auch um Heilung. Und natürlich kommt dabei auch die Romantik nicht zu kurz. Beim Versuch ihren Laden zu retten, rettet Tilda auch den ein oder anderen Menschen und vielleicht auch sich selbst? Gleichzeitig erfährt sie, dass Lieben auch heißen kann, loszulassen. Wieder einmal spielen Köln und seine typischen Bewohner in Deloys Roman eine bedeutende Rolle. Wer „Die fabelhaft Welt der Amelie“, Köln und unterhaltsame Liebesgeschichten mag, wird Tilda und „Gemeinsam ist man besser dran“ lieben.

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Veröffentlicht am 10.02.2022

Geschichte hautnah - ein starkes, wichtiges Buch

Heul doch nicht, du lebst ja noch
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Im Juni 1945 ist der Zweite Weltkrieg endlich vorbei. Drei Kinder erleben das Kriegsende auf ihre eigene, ganz persönliche Weise. Jakob hat eine jüdische Mutter, die zwangsdeportiert wurde, er lebte die ...

Im Juni 1945 ist der Zweite Weltkrieg endlich vorbei. Drei Kinder erleben das Kriegsende auf ihre eigene, ganz persönliche Weise. Jakob hat eine jüdische Mutter, die zwangsdeportiert wurde, er lebte die letzte Zeit versteckt und weiß zunächst gar nichts vom Kriegsende. Traute langweilt sich, sie möchte zu gerne bei den anderen Jungen mitspielen, doch die lassen sie nicht. Zu Hause findet Traute keine Ruhe, seit in die Wohnung Fremde einquartiert wurden. Hermann war früher in der Hitlerjugend, verehrte Adolf Hitler und hoffte auf den deutschen Sieg. Nun muss er sich mit der Realität auseinandersetzen. Die ist hart: Hermanns Vater hat im Krieg beide Beine verloren und ist nun ständig auf Hermanns Hilfe angewiesen.

Kirsten Boie schreibt nüchtern, schlicht, schnörkellos und klar, abwechselnd aus der Sicht ihrer drei Protagonisten im Präsens. Der Einstieg in die Geschichte erfolgt recht unvermittelt. Ich musste mich zunächst kurz orientieren, doch nach einigen Leseabschnitten konnte ich mich dann in die Handlung hineinversetzen. Die Geschichte richtet sich an Jugendliche ab 13 Jahren.

Die drei Hauptfiguren haben eine ganz unterschiedliche Perspektive auf das Kriegsende. Hermann wurden in der Hitlerjugend „deutsche Werte“ vermittelt, er war vollkommen überzeugt von Hitler und dem deutsche Reich. Von einem Moment auf den anderen soll alles, was für ihn unumstößlich sicher war, nicht mehr gelten. Sein Vater ist nun ein Krüppel, womit er sich nicht abfinden kann. Unter Vaters Zustand leidet natürlich seine ganze Familie. Hermann wirkt oft harsch und grob, aber eigentlich sehnt er sich nur nach Freiheit. Er hat Angst, für immer in der Pflicht zu stehen und nie von der Verantwortung für seinen Vater loszukommen.
Trautes Leben bietet keine Abwechslung. Traute hilft in der Bäckerei ihrer Eltern. Doch das ist keine Herausforderung für sie, Traute langweilt sich, fühlt sich einsam, sie wünscht sich den Umgang mit Gleichaltrigen und wieder in die Schule gehen zu dürfen, mehr Normalität. Gleichzeitig fühlt sie sich mit ihrer beengten Wohnsituation überfordert. Mit ihr hat es das Schicksal vergleichsweise noch „gut“ gemeint.
Jakob hingegen steht vollkommen allein und mittellos da, seine Eltern wurden ins Konzentrationslager geschickt. Dass er sich nun nicht mehr verstecken muss, ist völlig neu für ihn. Er hat keine Ahnung, wie es für ihn weitergehen soll.

Kirsten Boies neuestes Buch zeigt eines ganz deutlich. Der Krieg hat das Leben aller verändert. Die einen traf es wie Jakob und Hermann härter, die anderen wie Traute hatten mehr Glück. Aber niemand blieb verschont, jeder verlor Hoffnungen und Träume, musste sich umstellen. Hermann erinnert Jakob mit den Worten„ Heul doch nicht, Du lebst ja noch“ daran, dass es immer jemanden gab, den es noch schlimmer erwischt hat. Wie kann man sich da beklagen?
Was der Krieg wirklich für die einzelnen Menschen bedeutete, wird hier sehr anschaulich und sehr nachfühlbar offensichtlich. Geschichte erhält ein persönliches Gesicht, wird trotz des recht einfachen, nüchternen Schreibstils mit Gefühlen und persönlichen Schicksalen gefüllt. Der Krieg schrieb zigtausend verschiedene einzelne Geschichten, jede ist individuell. Hier werden einige erzählt. Geschichte ist immer komplex, nie schwarz oder weiß. Und für jeden, der nicht selbst betroffen war, ist es unmöglich, ein Urteil zu bilden. Niemand kann sagen, wie er in bestimmten Situationen reagiert hätte.
Das Buch eignet sich hervorragend zur Besprechung im Geschichtsunterricht. Es stellt neben bloßer Fakten deutlich dar, wie sich die Betroffenen wirklich fühlten, welche Herausforderungen es zu bewältigen galt, wie das Leben damals wirklich aussah.
Das Ende ist ein offenes, lässt Raum für Vorstellungen. Anfangs irritierte mich das und vielen Lesern wird es sicher ähnlich gehen, so kommt mir das Buch doch wie eine bloße Situationsbeschreibung, eine Momentaufnahme vor. Aber im Deutschland zur Stunde Null war eben vieles offen. Große Enttäuschungen mussten verarbeitet werden, aber gleichzeitig machte sich langsam auch Zuversicht und Hoffnung auf bessere Zeiten breit. So banal es klingt: Vieles musste erst einmal schlimmer werden, bevor es besser wurde.
Boies Buch hat mich sehr nachdenklich gestimmt, es treibt mich nach wie vor um und erinnert mich daran, dass alle politischen Ereignisse nicht schwarz oder weiß zu sehen sind. Immer wenn viele Menschen beteiligt und betroffen sind, gibt es keine Eindeutigkeiten mehr, sondern immer mehrere Perspektiven und Dimensionen.
„Heul doch nicht, du lebst ja noch“ ist ein beeindruckendes, wichtiges Werk, das eine Brücke zum Verständnis der deutschen Geschichte und der Identität unserer Vorfahren baut.


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Veröffentlicht am 08.01.2022

„Wunder“volles Hörbuch mit viel Weihnachtsstimmung

Ein wirklich wahres Weihnachtswunder
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Es gibt sie noch Weihnachtsgeschichten mit wirklichen wahren Weihnachtswundern. Isabel Abedis Geschichte ist so eine. Dabei fängt sie zunächst ganz unweihnachtlich an. Janna und Manu müssen am Heiligabend ...

Es gibt sie noch Weihnachtsgeschichten mit wirklichen wahren Weihnachtswundern. Isabel Abedis Geschichte ist so eine. Dabei fängt sie zunächst ganz unweihnachtlich an. Janna und Manu müssen am Heiligabend alleine im Zug fahren und auf ihren roten Koffer aufpassen, in dem alles drin ist, was man an Weihnachten so braucht: liebevoll ausgesuchte Geschenke, Janas Festkleid und Manus Saxophon. Als sie den Koffer dann im neuen Zuhause öffnen, erleben sie eine Überraschung, die erst böse ist und dann zum wirklich wahren Weihnachstwunder führt.

Isabel Abedi schreibt kindgemäß und gut verständlich aus Manus Sicht. Sprecher Julian Greis liest die Geschichte angenehm betont, lebendig und mitreißend vor. Zwischen den einzelnen Abschnitten klingen immer wieder Takte von Manus selbstgemachter CD, die viele weihnachtliche Saxophonstücke enthält. Das Hörbuch hat mit 45 Minuten Spielzeit eine übersichtliche Länge. Die Geschichte ist für Kinder ab fünf Jahren geeignet.

Mit der fünfjährigen Jana und dem zehnjährigen Manu, die Weihnachten mit ihrem Vater in der Zweitwohnung verbringen und ganz alleine ohne ihre Eltern Zug fahren, können sich die Hörerinnen und Hörer sicher gut identifizieren. Jana ist aufgeweckt und liebt Tiere, Manu mag Musik.

Die Geschwister erleben zunächst eine spannende Zugfahrt mit fideler Weihnachtsgans und dann einen Heiligen Abend, der völlig anders abläuft als erwartet, aber zeigt, dass Weihnachten ein Fest des Zusammenseins und der Unglaublichkeiten ist. An Weihnachten kommt es schon mal zu zauberhaften Zufällen.
Uns hat diese Geschichte, die wir passenderweise auf dem Weg zu einem Weihnachtsbesuch gehört haben, sehr gut gefallen. Ein stimmungsvolles, kurzweiliges, phantasievolles, sehr unterhaltsames Weihnachtshörbuch mit viel Wunder, das wir nächstes Jahr sicher gerne wieder hören werden. Für alle, die noch an Wunder glauben.

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Veröffentlicht am 23.12.2021

Lesenswerte Fortsetzung - wie der Vorgänger ein kurzweiliger und packender Schmöker

Kinderklinik Weißensee – Jahre der Hoffnung (Die Kinderärztin 2)
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„Vielleicht ist der Umsturz eine Chance für uns Frauen. Die Zeit ist reif dafür, dass die alten verkrusteten Strukturen aufgebrochen werden.“

Berlin 1918: Marlene Lindow arbeitet mittlerweile als Ärztin ...

„Vielleicht ist der Umsturz eine Chance für uns Frauen. Die Zeit ist reif dafür, dass die alten verkrusteten Strukturen aufgebrochen werden.“

Berlin 1918: Marlene Lindow arbeitet mittlerweile als Ärztin an der Kinderklinik. Sie sorgt sich nicht nur um ihre kleinen Patienten, sondern auch um ihren Verlobten Max, der im Krieg an der Front verletzte Soldaten versorgt. Als Max aus dem Krieg zurückkehrt, ist er nicht mehr derselbe. Marlene steht vor weiteren Herausforderungen. Der neue ärztliche Leiter macht ihr das Leben schwer. Außerdem breitet sich die Spanische Grippe in Berlin rasant aus, die medizinische Versorgung aller Erkrankten wird immer unmöglicher.
Marlenes Schwester Emma geht in ihrer Tätigkeit als Krankenschwester auf. Sie wird mit einer neuen, zusätzlichen Aufgabe betraut, der Ausbildung der Schwesternschülerinnen. Als Emmas Sohn Theo an Typhus erkrankt, ist es unklar, ob er überleben wird. Und plötzlich taucht völlig unerwartet Tomasz, Theos Vater, in Berlin auf.

Antonia Blum erzählt auf sehr leichte, unkomplizierte Art. Sie schildert in der dritten Person, was Emma, Marlene und Maximilian erleben, nimmt aber auch manchmal die Perspektive des Arztes Waldemar Buttermilch ein. Der Roman liest sich angenehm flüssig, fast wie von selbst. Ich hatte keinerlei Schwierigkeiten, sofort in die Handlung hineinzufinden, auch wenn es schon etwas länger her ist, dass ich den Auftaktband der Reihe gelesen habe. Das Cover - ein Mädchen blickt auf die Klinik- erinnert stark an das des Vorgängerromans, ist sofort als Teil der Reihe zu erkennen.

Die Protagonistinnen sind besondere Sympathieträgerinnen, mit denen sich die Leserschaft sicher gut identifizieren kann. Mit den Schwestern musste ich einfach mitfiebern. Marlene ist Ärztin aus Leidenschaft, sie geht auf ihre kleinen Patienten ein, hört ihnen zu, engagiert sich persönlich mehr, als sie das müsste. Für die ehrgeizige junge Frau ist ihr Beruf Berufung. Ebenso ergeht es ihrer Schwester Emma, die einen besonderen Draht zu ihren Schützlingen hat und sich nun auch als Ausbilderin beweisen muss. Beide Schwestern mögen ein wenig naiv sein, glauben sie doch immer an das Gute, aber das ist für sie natürlich auch ein Vorteil. Sie packen es an, sind überzeugt, dass sie etwas bewirken können. Viele ihrer Weggefährten konnten sie durch ihren unermüdlichen Einsatz von sich überzeugen. Aber nicht alle: Marlene muss sich gegen ihren neuen Chef Waldemar Buttermilch durchsetzen, der generell nicht viel von Ärztinnen hält und eine etwas andere Sicht auf seinen Beruf hat als sie. Für ihn steht stets Wirtschaftlichkeit im Vordergrund.

Auch nach dem Krieg ist in Weißensee keine Ruhe eingekehrt. Autorin Antonia Blum schildert einige zentrale Probleme der damaligen Gesellschaft wie politische Unruhen, den Kampf gegen die Spanische Grippe oder die Schwierigkeiten der Frauen, sich zu emanzipierten und zu etablieren. Im Nachwort heißt es „Der Krieg hat keine Gewinner.“ Das zeigt der Roman anschaulich. Auch Männer, die scheinbar körperlich unversehrt aus dem Krieg zurückgekehrt sind, leiden danach unter ihren schrecklichen Erinnerungen und haben wie Max Schwierigkeiten, sich in ihrem alten Leben zurechtzufinden. Überhaupt richtet Antonia Blum ihr Augenmerk auch auf die generellen seelischen Aspekte einer Krankheit. Krankheit hat eben nicht nur physische, sondern auch psychische Dimensionen, was gerade aktuell überdeutlich wird.
Bei all den verstörenden Erlebnissen, den beruflichen und privaten Prüfungen, verlieren Marlene und Emma nie ihre Zuversicht und werden oft - wie zur Belohnung für ihren Optimismus- Zeuginnen kleiner Wunder.
„Jahre der Hoffnung“ ist nicht nur ein historischer Roman, auch die Liebe spielt hier eine große Rolle. Emma und Marlene müssen sich entscheiden, wen sie in Zukunft an ihrer Seite haben wollen und machen dabei auch schmerzliche Erfahrungen: „Sich auf Liebe einzulassen, macht verletzlich“, sagte Marlene und versank in Gedanken. „Liebe kann sehr weh tun.“
Auch wenn das Ende vielleicht ein bisschen zu viel Zuckerguss enthält und etwas kitschig wirken mag, habe ich auch den zweiten Band dieser Reihe sehr genossen. Für mich ein wirklich unterhaltsamer, packender Schmöker mit sympathischen „herzensguten“ Hauptfiguren, zahlreichen interessanten historischen Themen, einer überzeugenden, mitreißenden Handlung und viel Gefühl. Nach dem besonderen Cliffhanger bin ich sehr gespannt, wie es für die beiden Schwestern weitergeht.

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Veröffentlicht am 07.12.2021

Wenn die kleine Welt im Kopf plötzlich lebensgroß wird - phantastische, sehr originelle Geschichte

Die magische Schwelle
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Flo ist zwölf und ziemlich klein und schmächtig für sein Alter. Wenn es im echten Leben mal nicht so läuft, schleicht er sich heimlich auf den Dachboden zu Papas Modelleisenbahnwelt, der „kleinen Freiheit“, ...

Flo ist zwölf und ziemlich klein und schmächtig für sein Alter. Wenn es im echten Leben mal nicht so läuft, schleicht er sich heimlich auf den Dachboden zu Papas Modelleisenbahnwelt, der „kleinen Freiheit“, und denkt sich die wildesten Szenarien aus. Als er im alten Chevy, dem Oldtimer der Familie, eine kleine Auszeit nimmt, passiert es. Flo übertritt eine magische Schwelle. Plötzlich findet er sich in seiner eigenen Traummodelleisenbahnwelt wieder. Flo erkennt bald, dass er bestimmen kann, was in seiner Welt „Miniput“ alles passiert. Natürlich lässt Flo es sich nicht nehmen, die Fäden in der Hand zu behalten und ein wenig Gott zu spielen. Doch bald schon wird es gefährlich und Realität und Fantasie drohen sich immer mehr zu vermischen. Ob Flo da die Orientierung behält?

Autor Kai Pannen schreibt gut verständlich. Anfangs wirkte der Sprachstil auf uns etwas steif und altmodisch, doch nach ein paar Seiten hatten meine Mitleser und ich uns an die individuelle Sprache gewöhnt. Das Cover zeigt Figuren und Gegenstände älterer Modelleisenbahnenanlagen, erscheint ein wenig „retro“ und macht sehr neugierig. Am Anfang eines jeden Kapitels „laufen“ Gleise durch die Seiten und es ist jeweils ein Element aus der „Kleinen Freiheit“ dargestellt, zum Beispiel ein Haus oder eine Kuh. Das Buch ist zum Selberlesen für Kinder ab neun Jahren geeignet, jüngere Kinder dürften teilweise noch Schwierigkeiten mit der Überschneidung von Vorstellung und Wirklichkeit haben und werden daher die Handlung nicht vollständig erfassen können.

Flo ist nicht besonders beliebt, wenig sportlich, eher ein „Hänfling“ und nur ein durchschnittlicher Schüler. Er spielt mäßig Klavier, liest gerne und flüchtet sich immer wieder in seine besonderen Phantasien, um abzuschalten. Mit ihm können sich so manche Leserinnen und Leser sicher gut identifizieren. Als kleiner Bruder einer großen Schwester hat es Flo nicht leicht, er muss sich immer wieder die Sticheleien seiner Schwestern Heidi gefallen lassen.
Die Figuren in Miniput sind natürlich ganz besondere Figuren. Manche verhalten sich, wie Flo das bestimmt und andere verselbstständigen sich zu Flos Leidwesen. Und dann gibt es auch noch Personen, die Flo seltsam bekannt vorkommen. Eine überaus interessante und gelungene Figurenkonstellation.

Wie wäre es, wenn man sich eine Parallelwelt konstruieren könnte, um darin selbst erdachte Abenteuer hautnah am eigenen Leib zu erleben? Was für eine originelle, spannende und wirklich faszinierende Vorstellung!
Extrem kreativ und aufregend, was Flo sich ausdenkt und wie er plötzlich alles doch nicht mehr so unter Kontrolle hat, wie er das eigentlich geplant hatte. Gut gefallen haben uns auch die Anspielungen auf Jonathan Swifts „Gullivers Reisen“, das Flo im Deutschunterricht für die Schule lesen muss. Meine Mitleser im Alter von sechs bis zehn Jahren waren von Flos spezieller Geschichte begeistert, schwelgten nach der Lektüre selbst in ihren eigenen Vorstellungswelten. Dieses Buch motiviert und regt zweifelsohne die Phantasie auf besondere Weise an. Kai Pannen hat mit „Die magische Schwelle“ ein sehr ungewöhnliches, aber absolut lesenswertes Kinderbuch geschrieben, das uns immer wieder überrascht hat, für einige Verwirrung und viel Nachdenken gesorgt hat und uns vor allem ganz prima unterhalten hat. Wir können Lesern mit Sinn für Phantasie nur wärmstens empfehlen, mit Flo die Reise nach Miniput anzutreten,

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