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Veröffentlicht am 21.10.2023

Ein Kind seiner Zeit

Das Rad der Zeit 1
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Der 900 starke Auftakt zu das "Rad der Zeit" wurde von Robert Jordan zu Beginn der 90er Jahre erstmals verlegt. Persönlich habe ich das Buch vor einer Weile schonmal gelesen, es nun aber noch einmal getan ...

Der 900 starke Auftakt zu das "Rad der Zeit" wurde von Robert Jordan zu Beginn der 90er Jahre erstmals verlegt. Persönlich habe ich das Buch vor einer Weile schonmal gelesen, es nun aber noch einmal getan - weil die Zeit dafür reif war.
Diese Rezension erhält keine beabsichtigen Spoiler - Andeutungen habe ich nach Kräften zu vermeiden versucht!

Inhalt

Rand al'Thor führt in Emondsfelde im Gebiet der Zwei Flüsse ein beschauliches Leben als Schäfer und Tabakbauer. Der dunkle König ist eingeschlossen in Shayol Ghul - seine Schattengestalten, Blasse und Trollocs, existieren für Rand, seine Freunde Mat und Perrin und seine Versprochene Egwene nur in Schauergeschichten und sind längst zu Sagengestalten geworden. Zumindest bis zur Winternacht vor Beltine. Da treten diese plötzlich aus dem Schatten der Nacht und Märchen, um das Dorf heimzusuchen.

Sie kamen aus der Fäule auf der Suche nach Rand, Mat und Perrin, weiss die Aes Sedai Moiraine, die ebenfalls in Emondsfelde weilte. Eine Aes Sedai - magisch begabte und in Tar Valon ausgebildete Frauen - sagen immer die Wahrheit. Dass sie dennoch gefährlich sind und diese Wahrheit manchmal so ihre Ecken und Kanten hat, ist bekannt. Dennoch fliehen die drei Jungen, begleitet von der eigenwilligen Egwene und dem Gaukler Thom Merrilin, mit der Aes Sedai und ihrem Behüter Lan. Das Ziel: Tar Valon, wo die Burschen erfahren sollen, weshalb sie gejagt werden und Egwene zur Aes Sedai ausgebildet werden soll. Wenig später schliesst sich ihnen Nynaeve an, die Dorfheilerin aus Emondsfelde, die sich selbst ausgeschickt hat, die Kinder zurück zu holen. Dazu kommt später der Ogier Loial, der die drei Jungen als Ta'veren erkennt - jene Menschen, um die herum das Rad sein Muster webt.

Eine wilde Flucht beginnt, auf der jeder der Heldinnen eigene Prüfungen zu bestehen hat, Schattenfreunde an jeder Ecke lauern, die Gruppe getrennt wird und die Häscher des Dunklen Königs ihnen immer ganz nah auf den Fersen sind. Der Showdown des ersten Bandes führt die Gruppe schliesslich auf unerwarteten Wegen zu einem unvorhergesehenen Ziel, an dem unerhörte Entdeckungen, eine Prophezeihung und viele weitere Fragen warten.

Erzählstil

Das Buch startet in Emondsfelde, wo Leser
innen den Protagonistinnen in ihrer Heimat begegnen - wer auf schnelle Action hofft, wird hier enttäuscht. Natürlich ist die Frage berechtigt, wieso man ein ganzes Dorf kennen lernen soll, dass anschliessend als Schauplatz verlassen und nicht wieder aufgegriffen wird. Meine Antwort darauf enthält zwei Aspekte.

Zum einen ist Emondsfelde, die Heimat der meisten Protagonist
innen. Das Eintauchen in diese Heimat bietet für mich die Chance, in den Kern der Charaktere einzutauchen. Hier wurden sie erzogen und sozialisiert, dieses Leben prägt ihr Wesen. Und da dieser Hintergrund ihr späteres Denken, Entscheiden und Handeln stark beeinflusst, habe ich diesen "langatmigen" Einstieg auch im späteren Verlauf der Geschichte schätzen können. Diese durch den Einstieg erzeugte Verbundenheit zu den Zwei Flüssen verbindet mich als Leserin mit den Figuren und ermöglicht es mir, ihre Entwicklung und Geschichte zu verstehen und einzuordnen.

Zum anderen bietet dieses gemächliche und ausführliche Verweilen in der "normalen Welt" tiefe Einblicke in die Gesellschaftsstruktur und herrschenden Geschlechterrollen. Auf der eingangs vermittelten Basis wird dann später aufgebaut

Liegt aber Emondsfelde erst einmal hinter der fliehenden Gruppe, nimmt die Geschichte schnell rasante Fahrt auf. Die Heldinnen stürzen aus einer Gefahr in die nächste und kommen wirklich nie zur Ruhe. Immer wartet die nächste Katastrophe. Gemindert wird diese Spannung durch einen weiteren Zankapfel, an dem sich die Geister der Leserinnen scheiden. Jordan neigt zu ausführlichen Beschreibungen der Landschaft und Personen/Kleider - und dazu, diese auch mitten in die Handlung zu pflanzen. Ja, auch ich finde, dass dies den Lesefluss und das Eintauchen durchaus manchmal stören. Man kann diese natürlich überfliegen, muss dann aber auch auf gewisse Tiefe im Setting verzichten.

Lobend hervorheben möchte ich noch kurz die individuellen Stimmen der Perspektivcharaktere. Wenn etwas aus Rands Perspektive geschrieben ist, dann habe ich wirklich das Gefühl, ja, das passt, so würde die Figur Rand darüber denken und sich ausdrücken.

Zu erwähnen ist auch, dass die Erzählperspektive grundsätzlich auktorial ist, wenn auch stellenweise nahe am personalen. Dies und die verschiedenen Perspektiven (vereinzelt auch die der Antagonisten) führt dazu, dass man als Leserin mitunter einen Wissensvorsprung auf die Protagonistinnen hat. Das sollte man beachten, bevor man eine Handlung oder Überlegung als "dumm" einstuft.


Setting und die Akteure

Wir haben es hier mit einer eindeutig (mittel)europäisch-mittelalterlich geprägten Welt zu tun. Dennoch versteht es Jordan etwas Eigenes zu erschaffen und erstaunlich viele gängige Klischees zu vermeiden. Die Welt ist komplex und lebt von einer detailreichen Geschichtsschreibung bis zum Zeitalter der Legenden und darüber hinaus. Sie ist voll legendärer Helden mit klingenden Namen, halb vergessener Begebenheiten und Prophezeihungen. Den Charakteren wie auch den Lesern ist nicht immer klar, was nun ins Reich der Legenden gehört und welche Geschichten eben doch mehr Wahrheit enthalten, als von den Menschen erinnert wird.

Während glaubwürdig scheint, dass sich die Akteure auf ihrer Reise durch das Königreich Andor noch gut verständigen können, tut sich hier später für mich ein Fragezeichen aus. Spätestens in Schienar - und im Folgeband noch weiter weg - sollten sich wohl sprachliche Gräben öffnen. Aber Jordan ist nicht der einzige Autor, der dieses Hindernis klanglos übergeht.

Wie bereits die Welt sind auch die Protagonistinnen komplex und überzeugend. Sie alle verfügen über einen unverkennbaren, individuellen Charakter, der ihr Denken, Entscheiden und Handeln prägt. Dabei sind sie aber nicht überzeichnet, haben ihre Stärken und Schwächen, Hoffnungen und Ängste. Jeder macht im Verlaufe der Geschichte eine Entwicklung durch, die aber mit dem Kern eines jeden Charakters in Einklang steht. Eine enttäuschende Ausnahme dazu stellt für mich die Dorfheilerin Nynaeve dar. Ihre Motivation für ihre Gefühle und ihr Handeln bleibt für mich fadenscheinig und sie wirkt auf mich überzeichnet deplatziert. In geringerem Masse gilt dies auch für den Behüter Lan - hier kann ich mir aber vorstellen, dass seine Undurchsichtigkeit beabsichtigt ist und sein Charakter erhält später im Buch mehr Hintergrund. Die zwischenmenschliche Beziehung dieser beiden Figuren ist für mich daher auch völlig aus der Luft gegriffen und nicht nachvollziehbar.

Im allgemeinen aber wartet das Buch mit starken Figuren auf, die Initiative ergreifen und sich aus Schwierigkeiten durch Einsatz ihrer Stärken, Talente und stimmigen Charaktereigenschaft herauswinden. Oder durch ihre Schwächen erst hinein geraten. Jedenfalls ist Glück und Dusel nur selten und in einem “normalen” Masse involviert und niemals massgebend.

Grenzwertig oder zumindest ambivalent sind für mich die nicht menschlichen Wesen. Während ich die Blassen so hinnehmen kann, rollen sich mir bei jeder Erwähnung der Trollocs die Zehennägel hoch - und zwar nicht auf die gute oder vom Autor beabsichtigte Weise. Diese Wesen - halb Mensch, halb Tier - sind in meiner Vorstellung nicht zum Leben erwacht. Das betrifft die physische Erscheinung, aber auch die Charakteristik. Für mich scheinen sie nur für die Bedürfnisse des Plots zu bestehen, nicht aus der Welt gewachsen.

Und noch ein Wort zur treiben Thematik des Kampfes um Gut und Böse. Natürlich ein altbekanntes Fantasy Trope, hunderte Male beackert. Aber natürlich (noch) nicht in dem Masse, als dieses Buch erschien. Die Bösen sind so richtig böse - von Schattenfreunden über Blasse bis zum Dunklen König selbst. Sie strebe nach Macht und Unsterblichkeit und danach, über andere zu regieren - was auch sonst? Mehr Graustufen sind hingegen auf der Seite des Lichts zu finden. Da gibt es nämlich unterschiedliche Gruppierungen und Ansichten, wie dem Licht am besten gedient ist und wer dem Schatten angehört. Und für manche, aber längst nicht alle, heiligt der Zweck auch mal die Mittel. Damit droht dem Heldentrio und seiner Entourage nicht nur Gefahr aus dem Schatten, sondern mitunter auch aus den eigenen Reihen.


Schlusswort

“Das Rad der Zeit” ist ein umfassendes und komplexes Werk - bereits im ersten Band. Und es gäbe noch vieles mehr zu sagen. Ausufernd viel mehr.

Dieses epische Werk hat bestimmt seine Schwächen, aber es ist eben auch episch und bietet die Gelegenheit zum tiefen Abtauchen in eine fein gearbeitete Welt und - wie für die Folgebände zu hoffen ist - wohl durchdachte Plotstruktur.

Um diese Reihe zu geniessen, hilft es sicher, sie vor dem Hintergrund ihrer zeitlichen Entstehung und der damaligen Schreibtradition zu verstehen. Denn es handelt sich hier nicht um einen schnellen Bestseller im Blockbusterformat, wie es die heutige, von Fernseh und Film geprägte Leserschaft mitunter erwarten mag.

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Veröffentlicht am 03.04.2024

Spannend, aber nicht mein Thema

Die falsche Schwester - Verschließ die Augen vor der Lüge
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“Die falsche Schwester” ist der dritte Band der Reihe “Wem vertraust du? Psychologische Thriller von Rose Klay”. Es scheint sich dabei aber eher um eine thematische Reihe zu handeln, denn dieser Band ist ...

“Die falsche Schwester” ist der dritte Band der Reihe “Wem vertraust du? Psychologische Thriller von Rose Klay”. Es scheint sich dabei aber eher um eine thematische Reihe zu handeln, denn dieser Band ist ein abgeschlossener Einzelband, der keinerlei Vorkenntnisse der anderen Bücher erfordert. Erschienen ist das Buch bei beTHRILLED - vielen Dank an den Verlag und das Team von Lesejury für das Rezensionsexemplar. Meine Meinung ist natürlich trotzdem meine eigene.

Vor 25 Jahren ist Mila verschwunden - die älteste Tochter der Boskamps, einer schwerreichen Unternehmerfamilie. Obwohl keine Kosten und Mühen gescheut wurden, blieb das Mädchen verschwunden und die Familie traumatisiert zurück. Als es nun endlich einen neuen Hinweis zu geben scheint, verschwindet wieder ein Kind der Familie. Effies Tochter Lulu wird aus dem Kindergarten entführt. Das kann einfach kein Zufall sein! Und Effie ist überzeugt: Will sie Lulu wiederbekommen, muss sie herausfinden, was damals mit ihrer älteren Schwester Mila passiert ist. Und dabei öffnet sich mehr als nur ein dunkler Abgrund.

“Die falsche Schwester” lebt natürlich hauptsächlich von der Spannung zweier verschwundener Kinder. Obwohl die erste Entführung schon so lange her ist, ist der Verlust von Mila sowohl in der Familie als auch durch Effies Nachforschungen sehr präsent und aufwühlend. Hinzu kommt eine Sammlung interessanter Charaktere, die mit der Zeit an Tiefe und Facetten gewinnen. Und immer dubioser werden. Und ja, das trifft auch auf die Ich-erzählende Hauptfigur zu. Eine Vielzahl neuer Spuren und scheinbar unscheinbarer Nebenschauplätze und Auftritte halten die Spannung zusätzlich hoch und laden zum fiebrigen Miträtseln ein. Der Plot ist auf jeden Fall gut konstruiert und wurde von der Autorin ebenso geschickt wie sprachlich mitreissend umgesetzt. Der grosse Showdown und die Auflösung zum Schluss waren für mich dann allerdings etwas zu konstruiert und zu viel des Guten. Hat meinem Gesamteindruck des Buches aber nicht erheblich geschadet.

Weniger gefallen hat mir die thematische Richtung, die das Buch nach einer Weile einschlägt. Trotz der umsichtigen und dezenten Umsetzung konnte ich die Lektüre immer weniger geniessen. Und einige Kapitel und Enthüllungen waren für mich wirklich schwierig zu lesen. Da bin ich einfach sehr empfindlich. Und doch etwas ärgerlich war die unschöne Häufung von Schreibpatzern, die dem Lektorat offenbar entgangen sind.

Insgesamt war “Die falsche Schwester” für mich eindeutig ein Pageturner, der alle Elemente eines guten psychologischen Thrillers aufweist und der dazu nach meinem Geschmack gut geschrieben ist. Allerdings haben mich gewisse Entwicklungen in meinem Leseeifer dann doch etwas ausgebremst und meine Freude am Buch nachhaltig geschmälert.

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Veröffentlicht am 29.02.2024

Eine Abenteuerreise ins Reich der Fabelwesen

Fast verschwundene Fabelwesen. Die sagenhafte Expedition des Konstantin O. Boldt
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“Fast verschwundene Fabelwesen - Die sagenhafte Reise des Konstantin O. Boldt” stammt aus der Feder von Florian Schäfer und wurde von Elif Siebenpfeiffer illustriert. Es handelt sich um das Expeditionstagebuch ...

“Fast verschwundene Fabelwesen - Die sagenhafte Reise des Konstantin O. Boldt” stammt aus der Feder von Florian Schäfer und wurde von Elif Siebenpfeiffer illustriert. Es handelt sich um das Expeditionstagebuch des Naturforschers Konstantin O. Bolt, der 1862 mit einer wagemutigen Truppe aus Mythozoologen und -Ethnologen, einem Magier und einer Nonne zur legendären und abenteuerlichen Letho Expedition aufbricht, um dem Schwinden der Fabelwesen auf die Spur zu kommen. Das Buch ist damit ein (fiktives) Zeitzeugnis einer alternative History.

Die Geschichte wird in Form von Tagebucheinträgen erzählt. Ergänzend dazu ist jede Seite mit Bildern, Zeichnungen, Skizzen, Feldnotizen, Zeitungsausschnitten und/oder Brieffragmenten illustriert. Nicht fehlen dürfen natürlich die Beschreibungen der Fabelwesen, der die Expedition auf ihrer zweijährigen Reise durch Europa begegnet. Auf jeder liebevoll gestalteten Seite gibt es viel zu entdecken - auch wenn die Handnotizen und die altdeutsche Schrift der angefügten Dokumente nicht immer einfach zu entziffern sind.
Die Expedition führt durch ganz Europa und folgt dabei lokalen Märchen, Legenden und eben Fabelwesen. Viele von ihnen sind im Verschwinden begriffen - nicht zuletzt durch die aggressive Expansion des Menschen, dessen exzessive Nutzung verfügbarer Ressourcen und seiner Kriegstreiberei. Damit hält das Buch auch gleich einige politische und philosophische Denkanstösse bereit. Grundsätzlich geht es aber um die Erforschung und Katalogisierung dieser Wesen und darum, einige Exemplare für ein Refugium zu fangen. Die Handlung wird gewürzt durch gefährliche Begegnungen mit Fabelwesen und Menschen - Verluste inklusive. Trotz kleinerer Flauten fand ich die Geschichte dann doch überraschend mitreissend und sogar spannend.

Die Fabelwesen sind teils etwas enttäuschend “banal” - jedenfalls im Vergleich zu den Fantastischen Tierwesen aus dem Potteruniversum. Dafür sind sie sehr authentisch, denn der Autor hat ja tatsächlich folkloristische Sagen und Wesen aufgegriffen. Überhaupt wirkte die Atmosphäre und die mythozoologische Theorie auf mich sehr “authentisch”, um nicht zu sagen real.

Ich habe die Lektüre von “Fast vergessene Fabelwesen” grösstenteils sehr genossen und fand es sowohl folkloristisch lehrreich als auch belletristisch unterhaltsam. Mir scheint dieses doch eher ungewöhnliche Format in diesem Fall sehr gelungen und reizvoll. Vor allem für Liebhaber von Fabelwesen und Abenteuerromanen im 19. Jahrhundert. Und fürs Auge ist's auch noch was.

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Veröffentlicht am 22.02.2024

Die Wissenschaft, die Frauen und die Männer...

Das verborgene Genie
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In “Das verborgene Genie” erzählt Marie Benedict die Geschichte von Rosalin Franklin, einer brillanten Wissenschaftlerin, die in der Mitte des vorigen Jahrhunderts das Geheimnis des Lebens lüftete. Anerkennung ...

In “Das verborgene Genie” erzählt Marie Benedict die Geschichte von Rosalin Franklin, einer brillanten Wissenschaftlerin, die in der Mitte des vorigen Jahrhunderts das Geheimnis des Lebens lüftete. Anerkennung dafür erhielt sie aber erst postum, während sie zu Lebzeiten von den patriarchalen Strukturen der Wissenschaft und wissenschaftlichen Politik zu einer Randerscheinung degradiert wurde. Die Autorin Marie Benedict lässt Rosalind Franklin- wie schon viele andere vergessene weibliche Pionierinnen - in einer literarischen Hommage erneut aufleben. Und zeichnet das Bild einer Wissenschaftlerin durch die Augen von Freunden und Familie, das so ganz anders anmutet als jenes, das ihre Konkurrenten propagierten. An dieser Stelle einen herzlichen Dank an das Team von Vorablesen und dem Verlag Kiepenheuer&Witsch für das Rezensionsexemplar und damit die Möglichkeit, diese bemerkenswerte Frau und ihre Geschichte kennen zu lernen. Meine Meinung ist natürlich trotzdem meine eigene.

Kleine Vorgeschichte: Mir waren die Grundzüge der Höhepunkte vorab der Lektüre durchaus bekannt. Ich wusste also, dass und wie Rosalind Franklin von ihren männlichen Konkurrenten im Wettlauf um die Enträtselung der menschlichen DNA ausgestochen wurde. Ich wusste um ihr persönliches Schicksal. Und ich kannte das Bild, das James Watson von ihr geprägt hatte. Es war für mich also ersteinmal spannend, dass die Geschichte nicht etwa am Kings College in England, sondern in Paris begann. Und dazu sehr überraschend, dass ich einen Roman im Ich-Präsens vor mir hatte. Natürlich ermöglicht diese Form ein sehr tiefes Abtauchen in eine Figur - und bedeutet damit einen radikalen Perspektivwechsel vom Aussen ins Innen. Das mag den inhaltlichen Umständen und dem thematischen Ziel der Autorin dienen. Ich-Perspektiven bei historischen Figuren fühlen sich für mich jedoch tendenziell anmassend an. Und irgendwie falsch.
Nichtsdestotrotz konnte ich mich durchaus darauf einlassen - vor allem, weil mich die Geschichte sehr gepackt hat. Die Autorin erschafft eine für mich authentisch wirkende Atmosphäre und lässt den Zeitgeist lebendig auferstehen. Ausserdem schafft es Marie Benedict einerseits, die persönliche Geschichte einer faszinierenden und vielschichtigen jungen Frau interessant zu erzählen. Und andererseits die wissenschaftlichen Methoden, Erkenntnisse und Zusammenhänge trotz ihrer Komplexität und interessanter Tiefe verständlich und organisch in die Handlung einzubeziehen. Die Lektüre war für mich somit sowohl inhaltlich spannend, als auch lehrreich und hat bei mir zu einem tieferen Verständnis davon geführt, was und wie Rosalind Franklin eigentlich genau getan hat.
Obwohl ich die von Benedict portraitierte Wissenschaftlerin und Frau äusserst spannend und faszinierend finde, konnte ich mich mit der stilistischen Darstellung - vor allem der Gedankenwelt - eher weniger anfreunden. Das mag an der Erzählperspektive oder dem Stil der Autorin allgemein liegen. Jedenfalls wirkten die Gedanken und Selbstwahrnehmung der Protagonistin für mich seltsam überreflektiert und zugleich schockierend naiv. Diese Mischung führte oft dazu, dass der Charakter von Rosalind (von ihr selbst) analytisch erzählt wurde. Und eben nicht durch die Handlungen und Interaktionen gezeigt. Gerade ihre schroffe und brüske Art, ihre unüberlegten und voreiligen verbalen Erwiderungen - all das, was mitunter zu ihrem Anecken und zu Ablehnung führte - blieb für mich somit irgendwie nicht erfahrbar. Und Rosalinds entsprechende Gedanken schienen mir seltsam unpassend.

“Das verborgene Genie” trifft stilistisch nicht ganz meinen Geschmack. Inhaltlich hat mich aber sowohl der wissenschaftliche Krimiaspekt, als auch die persönliche Geschichte der brillanten, ehrgeizigen und von einer Männerwelt missverstandenen Rosalind Franklin sehr fasziniert. Ich glaube, dass es eine ehrenwerte und wichtige Aufgabe ist, derer sich Marie Benedict in ihren Romanen annimmt: Den Verdienst der vergessenen und übergangenen Frauen an unserer Welt und Geschichte in das ihnen gebührende Rampenlicht zu rücken. “Das verborgene Genie” schafft nicht nur das, sondern ist eben auch ein empfehlenswertes Portrait einer jener starken Frauen, die uns Folgenden den Weg geebnet haben.

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Veröffentlicht am 09.02.2024

Ein Plädoyer für mehr Pragmatsmus

Bindung ohne Burnout
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“Bindung ohne Burnout” stammt aus der Feder von Nora Imlau. Anliegen und Thema dieses - wie auch früherer Bücher - ist eine auf Respekt und Vertrauen basierende Eltern-Kind-Beziehung und ein liebevoll ...

“Bindung ohne Burnout” stammt aus der Feder von Nora Imlau. Anliegen und Thema dieses - wie auch früherer Bücher - ist eine auf Respekt und Vertrauen basierende Eltern-Kind-Beziehung und ein liebevoll gelingendes Familienleben.

Dreh- und Angelpunkt ist bei Nora Imlau die bindungsorientierte Erziehung. In “Bindung ohne Burnout” räumt die Autorin allerdings mit den Perfektionsansprüchen und Dogmen auf, welche dieses Thema umschwirren. Pragmatisch wird dargelegt, dass auch Eltern Menschen sind. Menschen mit Bedürfnissen, Stärken und Schwächen und vor allem begrenzten Ressourcen. Totale Aufopferung nützt schlussendlich niemandem - auch nicht unseren Kindern. “Es geht um die Grundhaltung, nicht um jeden einzelnen Moment”.

Imlau gibt den Leser:innen mit dem Ampelsystem ein niederschwelliges Tool an die Hand, um im Alltag die eigenen Kräfte und Ressourcen im Auge zu behalten. Und veranschaulicht mit verblüffend einfachen Beispielen, wie bereits kleine Tricks grosse Wirkung entfalten können - ohne Schaden anzurichten. Im Weiteren plädiert sie für einen pragmatischen Erziehungsalltag und die Entmoralisierung moralisch aufgeladener Lebensbereiche (wie etwa den Haushalt).

Ich fand die Lektüre äusserst interessant und entspannend, musste sogar immer mal wieder ertappt über mich selbst schmunzeln. Geschrieben ist “Bindung ohne Burnout” ausserdem in einer sehr zugänglichen und einfachen Sprache, die Aussagen prägnant auf den Punkt bringt. Auch die wissenschaftlichen Fakten. Manchmal war es mir aber auch etwas zu banal. Und als Mutter, die getrennt vom Kindsvater - und weit weg von familiärer Unterstützung und dem deutschen Angebot lebt - sind auch viele Tipps für mich persönlich nicht brauchbar. Trotzdem hat mir dieser Ratgeber gefallen. Denn weder Social Media noch die Gesellschaft sollte bestimmen, wie gelingende Elternschaft aussieht. Wichtig sind wir: Ich und mein Kind - und das, was uns beiden gut tut.

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