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Veröffentlicht am 23.10.2018

Kummerkastenbriefe statt Kriegsreportagen

Liebe Mrs. Bird
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Emmeline Lakes großer Traum ist es, Kriegsreporterin zu werden. 1940 befindet sich die Welt im Krieg, und das ist auch in London spürbar. Als sie eine Anzeige sieht, in der ein Verlag des London Evening ...

Emmeline Lakes großer Traum ist es, Kriegsreporterin zu werden. 1940 befindet sich die Welt im Krieg, und das ist auch in London spürbar. Als sie eine Anzeige sieht, in der ein Verlag des London Evening Chronicle eine Gehilfin sucht, sieht sie ihre Chance gekommen. Nach einem kurzen Bewerbungsgespräch, in der sie nur gefragt wird, ob sie mit einer zänkischen alten Frau zusammenarbeiten kann, ist sie eingestellt. Und zwar so schnell, dass sie nicht gefragt hat, was sie überhaupt tun soll. An ihrem ersten Tag ist die Überraschung und Ernüchterung groß, als sie feststellt, dass sie bei einer Frauenzeitschrift arbeitet, die zum Verlag gehört, und dort die Kummerkastenbriefe vorsortieren soll. Ihre Chefin Mrs. Bird hat strenge Vorgaben, was sie beantwortet. Liebe? Beziehung? Bloß nicht! Doch Emmy berühren die Briefe so sehr, dass sie beginnt, auf eigene Faust zurückzuschreiben…

Das Buch beginnt mit einer Zeitungsanzeige, die das Leben von Emmeline Lake, kurz Emmy, gehörig auf den Kopf stellen wird. Als Emmy die Anzeige entdeckt, ist ihre Aufregung groß, denn endlich sieht sie ihre Chance gekommen. Sie berichtet all ihren Freunden von ihrer Bewerbung und dass sie die Stelle tatsächlich bekommen hat. Insofern konnte ich gut nachvollziehen, wie peinlich ihr die Offenbarung an ihrem ersten Arbeitstag ist, dass sie jetzt Kummerkastenbriefe vorsortieren soll.

Emmy ist eine Frau, die zu Kriegszeiten anpacken und ihren Beitrag leisten will. Seit dem Beginn des Blitzkrieges hat sie angefangen, als Freiwillige bei der Hilfsfeuerwehr zu arbeiten. Drei Nächte in der Woche nimmt sie seither Telefonanrufe entgegen. Doch sie will noch mehr tun, weshalb sie davon träumt, Kriegsberichte zu schreiben, die zahlreiche Menschen erreichen. In ihrem neuen Job arbeitet sie nun zwar im selben Gebäude wie viele wichtige Journalisten, ist ihrem Traum ansonsten aber nicht näher gekommen. Doch Emmy ist niemand, der einfach aufgibt. Sie versucht, das Beste aus ihrer Lage zu machen.

Die Kummerkastenbriefe und die Vorgabe ihrer Chefin Mrs. Bird, alle unzüchtigen Briefe zu zerschneiden, machen ihr zu schaffen. Denn nach Mrs. Birds Kriterien sind das fast alle. Emmy liest die verzweifelten Zeilen und kann sich nicht vorstellen, nichts zu tun. Es kommt wenig überraschend, dass sie bald beginnt, Briefe aus dem Büro zu schmuggeln und selbst zu antworten.

Die Geschichte rund um die Kummerkastenbriefe gerät im weiteren Handlungsverlauf etwas in den Hintergrund. Stattdessen rücken zwei andere Themen in den Vordergrund. Zum einen wird die Stadt heftig bombardiert und Emmy hat Angst um den Feuerwehrmann William, den Freund ihrer besten Freundin Bunty, der sich zum Retten von Menschenleben immer wieder in die Trümmer stürzt. Rund um die Angriffe gibt es viele dramatische Momente und die Geschichte wird zunehmend emotional. Zum anderen geht es auch um Emmys eigenes Liebesleben, bei dem Bunty nachhelfen will.

Zwar war klar, dass die Geschichte während des zweiten Weltkriegs spielt, aufgrund der Buchbeschreibung hatte ich aber erwartet, dass die Geschichte rund um die Kummerkastenbriefe mehr Raum einnimmt. Das ist jedoch nicht der Fall, hier gibt es keine großen Überraschungen und irgendwann passiert genau das, womit ich gerechnet habe. Die Geschichte rund um Emmys Liebesleben bleibt auf halber Strecke in der Luft hängen mit ungewissen Ausgang. Trotz schöner und unterhaltsamer Momente wird die Atmosphäre des Buchs durch die Bombardierungen und deren Konsequenzen immer bedrückender. Angst, Trauer und der weite Weg, bis neuer Mut geschöpft werden kann, stehen bis zum Schluss im Vordergrund.

„Liebe Mrs. Bird“ bietet Humor, Liebe und viel Drama, das die Stimmung des Buches zunehmend bestimmt. Ich fand es schade, dass die Geschichte rund um die Kummerkastenbriefe so vorhersehbar abgehandelt wird. Stattdessen erhält der Leser eine eher klassische Kriegsgeschichte, in der die Bombardierung Londons beschrieben wird und wie die Bevölkerung damit umgeht. Emmy ist eine sympathische Person, die helfen will und damit ein gelungenes fiktives Beispiel für die vielen Frauen ist, die zu jenen dramatischen Zeiten mit anpackten. Doch auch hier braucht man nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, was passieren wird. Das Buch ist ein gutes Debüt über ein Frauenschicksal während des zweiten Weltkriegs, das mich jedoch nicht so recht packen konnte.

Veröffentlicht am 23.10.2018

Ein neuer Fall für die zwei ungleichen Ermittler

Bluthaus
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Die Polizistin Frida hat sich nach den traumatischen Erlebnissen vor einigen Monaten vom Dienst beurlauben lassen und ist von Hamburg in ihre Heimat in der Elbmarsch zurückgekehrt. Auf dem Obsthof ihrer ...

Die Polizistin Frida hat sich nach den traumatischen Erlebnissen vor einigen Monaten vom Dienst beurlauben lassen und ist von Hamburg in ihre Heimat in der Elbmarsch zurückgekehrt. Auf dem Obsthof ihrer Eltern nimmt sie sich Zeit, um sich darüber klar zu werden, ob sie nach wie vor in der Mordkommission arbeiten möchte. Dort erhält sie Besuch von ihrer Freundin Jo, die etwas zu beschäftigen scheint. Am Abend des selben Tages findet die Polizei Jo am Schauplatz eines Mordes. Sie ist sich sicher, dass ihr jemand etwas in die Schuhe schieben will. Während Bjarne Haverkorn den Fall offiziell übernimmt mischt sich auch Frida in die Ermittlungen ein, um Jo zu helfen. Doch einiges spricht dafür, dass Jo nicht zufällig am Tatort war.

Das Buch startet mit einem kurzen und schockierenden Prolog. Im Jahr 1997 an der Ostseeküste möchte Miriam mit einer Freundin abhauen und schleicht sich dazu mit gepacktem Rucksack aus dem Haus. Doch ihre Freundin taucht nicht am vereinbarten Treffpunkt auf. Als die Ausreißerin wütend zu ihren Eltern zurückkehrt, findet sie diese und ihren kleinen Bruder ermordet im Wohnzimmer. Ich war gespannt, wie die Protagonisten Frida und Bjarne in der Elbmarsch Verbindungen zu diesem Fall herstellen.

In der Gegenwart trifft man Frida auf dem Obsthof ihrer Eltern wieder, wo sie sich nach den Ereignissen des ersten Bandes für einige Monate zurückgezogen hat. Wann sie in den aktiven Polizeidienst zurückkehrt, ist für sie noch unklar. Doch dann entdeckt ihre Freundin Jo eine erstochene Frau und ist weit und breit die einzige Person am Tatort. Als sie Frida um Hilfe bittet, ist dieser klar, dass sie etwas tun muss. Bjarne Haverkorn nähert sich dem Fall als offizieller Ermittler rational und sachlich, während bei Frida von Anfang an eine starke emotionale Komponente mitschwingt.

Jo zu helfen stellt sich schnell als schwieriger heraus als gedacht. Mit ihrer geringen Gesprächsbereitschaft und Aussagen, die sich als Lüge herausstellen, macht sie sich verdächtig. Ein neuer Zwischenfall erhöht schließlich die Dringlichkeit, Licht ins Dunkel zu bringen, und stellt auch die Verknüpfung zur eingangs geschilderten Ostsee-Kulisse her. Trotz Auszeit ist Frida rasch wieder voll in ihrem Element und sucht nach dem entscheidenden Hinweis.

Frida und Haverkorn nähern sich dem Fall wie im ersten Band aus zwei verschiedenen Richtungen und kooperieren miteinander, um von den Erkenntnissen des anderen zu profitieren. Dabei erfährt man wieder ein wenig mehr über die beiden. Frida kämpft noch immer mit der Aufarbeitung ihres erlittenen Traumas. Haverkorn hingegen muss sich eingestehen, dass seine Ehe endgültig gescheitert ist.

Die Handlung nimmt langsam, aber konstant Tempo auf und lässt die Protagonisten erste Anhaltspunkte finden. Man erfährt mehr über die Tote und erlebt einige Überraschungen, als neue Verbindungen offenbar werden. Ein Hinweis führt zum nächsten, ohne dass es nennenswerte Alternativen gegeben hätte. Funklöcher spielen mehrfach eine entscheidende Rolle, was mich störte, insbesondere nachdem im ersten Band schon ein vergessenes Handy der Knackpunkt war. Zudem wird Spannung künstlich erzeugt, indem das Geschehen in die Länge gezogen wird und das Verhalten einer entscheidenden Personen fand ich schwer nachvollziehbar. Dadurch konnte ich mich auch beim Showdown nicht ganz auf die Geschichte einlassen.

„Bluthaus“ ist der zweite Fall für Frida Paulsen und Bjarne Haverkorn. Obwohl sie sich vom Dienst hat beurlauben lassen steckt Frieda bald mitten in Ermittlungen in einem Mordfall, denn eine Freundin hat die Leiche gefunden und scheint die einzige am Tatort gewesen zu sein. Ich fand es interessant, dass das Geschehen erneut mit einem Altfall verknüpft wurde. Beim Handlungsverlauf stolperte ich über einige Dinge, durch die mich die Geschichte nicht so recht mitreißen konnte. Für mich ist „Bluthaus“ ein solider Kriminalroman, für den ich drei Sterne vergebe.

Veröffentlicht am 23.10.2018

Ein spurlos verschwundener Ehemann und ein Neuanfang in Paris

Ich erfinde dir Paris
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Leah lebt in Wisconsin und arbeitet als Redenschreiberin, nachdem sie ihr Studium der Filmwissenschaft aufgegeben hat. Sie hat das Land noch nie verlassen und träumt davon, eines Tages Paris zu erkunden, ...

Leah lebt in Wisconsin und arbeitet als Redenschreiberin, nachdem sie ihr Studium der Filmwissenschaft aufgegeben hat. Sie hat das Land noch nie verlassen und träumt davon, eines Tages Paris zu erkunden, denn dort spielt ihr Lieblingsfilm, „Der rote Luftballon“. Ihren Mann Robert hat sie kennengelernt, als sie das Buch zum Film klauen wollte, weil sie knapp bei Kasse war, und er es für sie bezahlt hat. Er ist Schriftsteller und sehnt sich ebenso nach Paris wie sie. Fast zwei Jahrzehnte später sind die beiden verheiratet und haben zwei Töchter im Teenageralter, da verschwindet Robert plötzlich spurlos. Der einzige Hinweis: Vier Flugtickets nach Paris. Leah macht sich mit ihren beiden Töchtern auf den Weg nach Frankreich und bleibt doch länger als gedacht. Doch wird Robert sie dort tatsächlich finden? Und wann sollte man die Suche und Hoffnung aufgeben?

Zu Beginn des Buches lernt der Leser Leah kennen, die schon seit einer Weile in Paris lebt und dort eine Buchhandlung besitzt und ihren Mann sucht. Danach springt die Geschichte erst einmal in die Vergangenheit und erzählt, die Leah und Robert sich kennengelernt haben. Die beiden verbindet von Beginn an ihre Leidenschaft für Paris, wobei sie unterschiedliche Favoriten haben. Leah verehrt als Filmstudentin „Der rote Luftballon“ von Albert Lamorisse, Robert als Kinderbuchautor die Madeleine-Reihe von Ludwig Bemelman. Doch die Stadt ihrer Sehnsüchte scheint unerreichbar, denn beiden fehlt das Geld für einen Flug. Stattdessen machen sie Ausflüge nach Paris, Wisconsin, das es gleich zwei Mal gibt, verlieben sich und heiraten, nachdem Leah Robert um einen Antrag gebeten hat.

Doch Robert ist ein labiler Charakter, der ständig an sich selbst und seinem Tun zweifelt und immer wieder unangekündigt auf „Schreibfluchten“ flüchtet. Jedoch hinterlässt er immer eine Nachricht. Das ist anders, als er eines Tages spurlos verschwindet und deutlich länger wegbleibt als je zuvor. Leahs Entschluss, die Flugtickets zu nutzen und ihn in Paris, Frankreich zu suchen, wurde für mich nachvollziehbar gemacht, auch wenn das Ticket, das Robert für sich selbst gebucht hat, ungenutzt zurückbleibt.

Leah hängt oft ihren Erinnerungen an Robert nach. Sie denkt an all die schönen Momente zurück, die die beiden gemeinsam erlebt haben und sucht gleichzeitig nach Anzeichen und Hinweisen, die sein Verschwinden erklären. In der französischen Hauptstadt lebt sie sich bald ein, sucht aber nicht so aktiv nach Robert wie ihre Töchter. Sie ist in vielerlei Hinsicht unentschlossen: Soll sie weiter nach Robert suchen? Oder ihn aufgeben? Will sie dieses Leben in Paris? Was soll sie ihren Töchtern sagen? Sie beschäftigt sich hauptsächlich mit sich selbst und fühlt sich von Robert im Stich gelassen. Sie auf ihren Gedankenwegen zu begleiten zog sich für mich zunehmend in die Länge. Ich fand keinen richtigen Zugang zu ihr als Protagonistin. Auch mit den ständigen Verweisen auf Lamorisse und Bemelmann konnte ich wenig anfangen, da ich beide Werke nicht kenne.

Leahs Töchter Ellie und Daphne haben mir deutlich besser gefallen. Sie werden im Buchverlauf immer eigenständiger und gewöhnen sich bald an ihr neues Pariser Leben. Der Leser wird häufig mitgenommen auf Spaziergänge durch Paris, auch abseits der beliebtesten Ecken, was sich vor allem für Fans der Stadt lohnt. Doch die Geschichte kommt lange nicht wirklich voran und verharrt im Status Quo. Erst zum Ende hin überschlagen sich die Ereignisse. Sie konnten mich trotzdem nicht so recht packen und einiges traf bei mir auf Unverständnis.

In „Ich erfinde dir Paris“ zieht Leah mit ihren beiden Töchtern von Wisconsin in die französische Hauptstadt, nachdem ihr Ehemann spurlos verschwunden ist und außer Flugtickets keinen Hinweis hinterlassen hat. Das Buch ist eine schöne Hommage an die Stadt. Leider kannte ich die Werke nicht, auf die ständig verwiesen wird, und die Geschichte rund um die zweifelnde, verlassene und unentschlossene Leah kam nicht richtig in Schwung. Für mich eine durchwachsene Lektüre, die interessanter sein könnte für Paris-Liebhaber, die auch die oben genannten Werke kennen.

Veröffentlicht am 21.08.2018

Eine Gesellschaft, die Frauen zurück an den Herd drängt – mit nur 100 Wörtern pro Tag

Vox
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In Amerika ist die „Bewegung der Reinen“ an die Macht gekommen. In kurzer Zeit hat die erzkonservative Bewegung die Frauen aus sämtlichen Machtpositionen gedrängt und sie schließlich vollständig unterdrückt: ...

In Amerika ist die „Bewegung der Reinen“ an die Macht gekommen. In kurzer Zeit hat die erzkonservative Bewegung die Frauen aus sämtlichen Machtpositionen gedrängt und sie schließlich vollständig unterdrückt: Die Pässe wurden ihnen weggenommen und sie werden gezwungen, Wortzähler zu tragen, mit denen sie nur 100 Wörter pro Tag sprechen können. Jean war früher kognitive Linguistin. Sie stand kurz vor einem Durchbruch in ihrer Forschung rund um die Heilung der Wernicke-Aphasie, einer Sprachstörung. Jetzt bleibt ihr nur noch die Versorgung ihres Manns und ihrer vier Kinder und jede Menge Wut, für die sie kein Ventil hat. Doch dann verunglückt der Bruder des Präsidenten - und ausgerechnet Jean soll helfen…

Die Ausgangslage dieser dystopischen Geschichte ist erschreckend: Eine erzkonservative Bewegung hat das Land fest im Griff und Frauen nicht nur aus der Öffentlichkeit zurückgedrängt, sondern sie nahezu mundtot gemacht. Wie konnte das passieren, und wie reagieren die Betroffenen und Nicht-Betroffenen darauf? Erzählt wird die Geschichte von Jean, die wie alle Frauen zum Opfer geworden ist und weiß, dass sie zu wenig getan hat, um all das aufzuhalten. Während ihre frühere Mitbewohnerin Jackie jahrelang Proteste organisierte, hielt sie sich zurück, ging nicht einmal wählen. Nun ist es zu spät, um etwas zu sagen, denn die hundert Worte am Tag müssen sorgfältig ausgewählt werden. Besonders schmerzt es sie zu sehen, wie Sonia, ihr jüngstes Kind und einziges Mädchen, aufwächst. Mit ihren Kenntnissen hat Jean sie gezielt konditioniert, sodass Sonia weit weniger als hundert Wörter täglich sagt, um möglichst weit weg zu bleiben von dieser gefährlichen Grenze, dessen Überschreiten starke Stromstöße zur Folge hat.

Immer wieder werden kurze Rückblicke eingeschoben, die dem Leser verständlich machen, wie es so schnell dazu kam, dass die „Bewegung der Reinen“ die Macht übernommen hat. Das Gedankengut der Bewegung weist Ähnlichkeiten zu dem realer erzkonservativer Bewegungen auf, die eingesetzten Methoden erinnern an den Nationalsozialismus. Frauen gehören an den Herd und jeder soll möglichst schnell eine Familie gründen. Wer nicht spurt, der wird mit einem Wortkontingent von Null ins Lager gesteckt. Mit Entsetzten liest man sich durch die Seiten. Dabei wird stark auf die emotionale Tube gedrückt, während die Handlung kaum voranschreitet.

Durch den Unfall des Präsidentenbruders kommt schließlich mehr Schwung in die Geschichte, denn plötzlich braucht man Jeans Wissen. Endlich hat sie eine Chance, aus ihrem bisherigen Handlungsmuster auszubrechen. Man lernt einige neue Charaktere kennen und erfährt Geheimnisse, die Jean sorgfältig hütet. Ihr Auftrag bringt sie in ein Dilemma und ich war neugierig, wie sie sich entscheiden wird. Gleichzeitig kommt es in ihrem Umfeld zu erschütternden Zwischenfällen, die durch die Bewegung der Reinen verursacht werden. Bei all dem hat mich vor allem eine Sache wirklich gestört: Zwar wird immer gesagt, dass die Bewegung der Reinen das ganze Land kontrolliert, doch das Beziehungsgeflecht wirkt so krampfhaft konstruiert, dass Amerika ein Dorf zu sein scheint. Ihr Mann arbeitet für den Präsidenten, Jean forscht genau an der Krankheit, die den Präsidentenbruder ereilt, ihre ehemalige Mitbewohnerin war die Wortführerin der Rebellion, die Nachbarin landet nach einem Fehltritt sofort im Fernsehen und so weiter. Zum Ende hin wird schließlich auf sich überschlagende, actionreiche Ereignisse gesetzt, bei denen ich irgendwann den Überblick verloren habe, was nun zum Plan gehört und was nicht.

„Vox“ sendet mit der Geschichte von Jean die wichtige Botschaft, das man sich fortlaufend stark machen sollte gegen jede Art von Unterdrückung. Die Umsetzung war für mich jedoch nicht mehr als Mittelmaß. Zu sehr wird auf schockierende und emotionale Szenen gesetzt, zu wenig auf einen authentischen Handlungsverlauf, der das große Ganze im Blick hält.

Veröffentlicht am 11.08.2018

Was ist man bereit, für die Hoffnung auf Heilung zu tun?

Anna
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Vor vier Jahren sind alle Erwachsenen an einer unheilbaren Krankheit gestorben. Anna und ihr kleiner Bruder Astor leben in Sizilien und haben sich seither im Haus ihrer Mutter abgeschottet. Anna verlässt ...

Vor vier Jahren sind alle Erwachsenen an einer unheilbaren Krankheit gestorben. Anna und ihr kleiner Bruder Astor leben in Sizilien und haben sich seither im Haus ihrer Mutter abgeschottet. Anna verlässt das Haus nur, um Lebensmittel und Medikamente zu beschaffen; Astor aus Angst vor Monstern, die Anna heraufbeschworen hat, gar nicht. Doch die Nahrung wird zunehmend knapper, Anna kommt dem Erkrankungsalter immer näher und die Gerüchte über eine mögliche Heilung in der Ferne häufen sich. Als eine umherstreifende Bande Astor mitnimmt, verlässt Anna ihre Heimat, um ihren Bruder wiederzufinden.

Bücher über eine Welt, in der alle Erwachsenen gestorben sind, gibt es zuhauf. Ich war deshalb gespannt, wie Niccolò Ammaniti dieses Thema umsetzt und mit welchem Elementen er dem Thema seinen eigenen Stempel aufdrückt. Nach einem kurzen Prolog aus der Zeit kurz nach dem Ausbruch der Krankheit trifft der Leser erstmals auf Anna. Diese muss immer weitere Wege auf sich nehmen, um Lebensmittel zu beschaffen. Vor allem das Übernachten unterwegs ist gefährlich, und auch tagsüber wird sie immer wieder von wilden Hunden verfolgt. Diesmal kann sie einem besonders aggressiven Exemplar nur knapp entkommen.

Nach einem ersten Eindruck davon, was seit der tödlichen Pandemie aus der Welt geworden ist, lernt man Anna und ihren Bruder besser kennen und erfährt einiges über die Hintergründe ihrer aktuellen Situation. Ihr Vater gehörte zu den ersten Toten, doch ihre Mutter hielt lange genug durch, um ein Notizbuch mit vielen Anweisungen zu füllen, wie sich die Geschwister verhalten sollen. Das ist auch vier Jahre später noch die Grundlage für ihr Tun. Dabei hat Anna die Rolle der Beschützerin inne, die ihrem Bruder bewusst unheimliche Geschichten über Monster außerhalb ihres Grundstücks erzählt hat, damit er nicht wegläuft.

Bewegung kommt in die Geschichte, als in Annas Abwesenheit eine Bande ihr Haus plündert und Astor mitnimmt. Nun muss auch sie den sicheren Hafen in Richtung Berge verlassen. Dorthin gehen immer mehr Kinder, denn eine „Kleine Riesin“ soll die Krankheit heilen können, die in ihnen allen schlummert und im Teenageralter ausbricht. Anna begegnet anderen Kindern, die mit ihrem Schicksal auf ganz verschiedene Weise umgehen, erlebt abergläubische Rituale und muss sich entscheiden, wem sie ihr Vertrauen schenkt.

Die Geschichte kommt nur langsam in Schwung und ich vermisste eine länger andauernde Spannung. Anna gerät immer wieder in brenzlige Situationen, die sich schnell auflösen. Ich konnte mich gut in ihre Lage hineindenken und nachvollziehen, warum sie ihren kleinen Bruder übermäßig beschützt und den Gerüchten über mögliche Heilungen mit gemischten Gefühlen lauscht. Der Fokus der Geschichte liegt auf dem Überleben in einer dystopischen Welt und was Kinder in Hoffnung auf eine Heilung für die in ihnen allen schlummernde Krankheit tun. Für mich ist „Anna“ eine schnell gelesene, gute Dystopie, die jedoch nicht genügend überraschende und neuartige Elemente bietet, um aus der Masse von Geschichten mit der gleichen Thematik herauszustechen.