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Veröffentlicht am 28.03.2019

Mit dem Kopf direkt ins Ultranetz

Die Gescannten
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Im Jahr 2048 ist Jaro aufgeregt und gespannt, als er in die Zentrale der Gilde gebracht wird, die sich ganz nah an der Stadt befindet. Seine Eltern gehören schon lange zur Gilde, einer Widerstandsorganisation. ...

Im Jahr 2048 ist Jaro aufgeregt und gespannt, als er in die Zentrale der Gilde gebracht wird, die sich ganz nah an der Stadt befindet. Seine Eltern gehören schon lange zur Gilde, einer Widerstandsorganisation. Deshalb ist Jaro auf dem Land aufgewachsen, wo es kein Netz gibt und von dem die Stadtbewohner glauben, dass es sich um eine verseuchte Zone handelt. Niemand von ihnen würde auf die Idee kommen, nachzuschauen, denn dank Ultranetz finden sie es gut dort, wo sie sind. Nun wurde Jaro vom Gründer der Gilde ausgesucht, um in der Stadt eine wichtige Mission zu erledigen. Was wird er dort vorfinden?

Nachdem mir vor einigen Jahren die Dystopie „Die Scanner“ sehr gut gefallen hat, war ich neugierig auf diese Fortsetzung. Sie spielt ein gutes Jahrzehnt nach dem ersten Band. Der Megakonzern Ultranetz hat weiter an Macht gewonnen bestimmt das Leben der Stadtbewohner durch und durch. Über einen sogenannten Denker-Port am Hinterkopf sind sie inzwischen direkt mit dem Netz verbunden. So kann man mit allen Sinnen erleben, was man selbst – oder das Ultranetz – will. Der Konzern hat daraus ein umfassendes Geschäftsmodell gemacht. Für die Kontaktpflege und aufregende Erlebnisse muss man nicht mehr vor die Tür, sondern kann alles bequem von zu Hause erleben. Das kostet natürlich. Und wer nicht genug Geld hat, der muss eben regelmäßig Werbung schauen.

Jaro ist in einem netzfreien Gebiet aufgewachsen, denn seine Elterngehören zum Widerstand. Er weiß, warum diese das Ultranetz höchst kritisch sehen. Trotzdem stellt er sich für einen Einsatz in der Stadt gern zur Verfügung, da er das Ultranetz einfach mal erleben möchte. Aus seiner Perspektive erfährt man alles darüber, wie das Ultranetz funktioniert und welche Konsequenzen es hat. Viele Ideen klingen in der Tat im ersten Moment aufregend. Doch schnell wird klar, dass die Stadtbewohner sich komplett abhängig vom Ultranetz gemacht haben, das sie nahtlos überwacht und kontrolliert. Der Autor skizziert hier, was passieren könnte, wenn die Möglichkeiten nahtloser Überwachung und der Zugriff auf sämtliche persönliche Daten in die falschen Hände geraten. Kombiniert mit der futuristischen Funktion, seinen Kopf direkt ans Netz anzuschließen, ergibt sich eine dystopische Version der Zukunft, die in vielen Punkten erschreckt.

Jaro und Nana als Charaktere sind vor allem dazu da, den Leser die Welt aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten zu lassen. Aus der Handlung hätte man noch mehr machen können. Die Seiten sind vor allem mit Beschreibungen gefüllt, wie die dystopische Welt funktioniert, und nicht so viel Zwischenmenschlichem. Zum Ende hin gibt es noch einige überraschende Enthüllungen, die ins Nachdenken bringen und mir gut gefallen haben. Insgesamt ist „Die Gescannten“ wie sein Vorgänger eine gelungene Dystopie, die sich mit der zunehmenden Überwachung und der wachsenden Macht der Internetkonzerne beschäftigt.

Veröffentlicht am 27.03.2019

Willkommen in Blackwood

Blackwood
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Gesine, genannt Ge, muss nach dem Unfalltod ihrer Mutter von Wien zu ihrer Tante Wanda nach Irland ziehen. Wanda lebt im kleinen Örtchen Blackwood in einem von Felsen umschlossenen Steinhaus. Doch trotz ...

Gesine, genannt Ge, muss nach dem Unfalltod ihrer Mutter von Wien zu ihrer Tante Wanda nach Irland ziehen. Wanda lebt im kleinen Örtchen Blackwood in einem von Felsen umschlossenen Steinhaus. Doch trotz der gemütlichen Postkartenidylle will Ge am liebsten sofort wieder zurück nach Wien. Bei ihrer nächtlichen Fluchtaktion wird sie schon nach wenigen Metern von Arian aufgegabelt, der ihr danach nicht mehr aus dem Kopf geht. Vielleicht soll sie es doch mal mit Blackwood und seinen Bewohnern versuchen? Zu Ges Enttäuschung ist Arian vergeben, und bei Wanda tritt sie mehrfach ins Fettnäpfchen. Doch zum Glück gibt es da auch noch die Cafébesitzerin Mimi, die Ge mit buttriger Nervennahrung versorgt, und ihren Klassenkameraden Sam, der als angehender Reporter stets den neuesten Tratsch kennt. Schließlich staunt Ge nicht schlecht, als sie an einem schlechten Tag einen Brief an sich selbst schreibt und in den Schreibtisch legt – und am nächsten Tag eine Antwort erhalten hat! Gibt es in Blackwood etwa tatsächlich Magie?

Zu Beginn des Buches erfährt der Leser von Bran Foley, Reporter des Radio Blackwood, dass die Gemeinde einen Neuzugang in Form der fünfzehnjährigen Ge zu verzeichnen hat. Damit weiß jeder Bescheid, denn das Radio ist in Blackwood die Informationsquelle, über die alle Neuigkeiten ausgetauscht werden. Dabei hat Ge kein großes Interesse daran, im Mittelpunkt zu stehen. Sie trauert um ihre Mutter und will wieder zurück nach Wien zu ihren Freunden. Gut konnte ich nachvollziehen, wie entwurzelt sich Ge trotz des herzlichen Empfangs vorkommt.

Nach ihrer ersten Begegnung mit Arian beschließt Ge, Blackwood eine Chance zu geben und den Schulbesuch vorzeitig zu beginnen. Doch die Schule ist kein Zuckerschlecken. Lilian, die wie Arian aus reichem Hause stammt, ist die unangefochtene Königin der Klasse und von Ges Anwesenheit nicht sonderlich begeistert. Ein Lichtblick ist das bald stattfindende Theaterstück, doch die Rolle, die sie erhält, macht alles noch komplizierter. In lockerem Tonfall und mit einem Augenzwinkern wird von Ges Versuchen berichtet, in Blackwood anzukommen und Ärger aus dem Weg zu gehen, was mit ihrer tollpatschigen Art eher schlecht als recht gelingt.

Mit Blackwood hat die Autorin einen wunderbaren Ort geschaffen, in den ich am liebsten sofort gezogen wäre. Über allem liegt eine heimelige Atmosphäre und als Leser erhält man genügend Zeit, um sich dort an Ges Seite ausführlich umzuschauen und die interessanten, liebevoll ausgearbeiteten Bewohner kennenzulernen. Es gibt herzliche Charaktere, die man sofort ins Herz schließt, aber auch klare Unsympathen und solche, die Rätsel aufwerfen. Aus der Interaktion mit ihnen entwickelt sich eine lebendige Geschichte, in der Ge Herausforderungen bewältigen und Krisen meistern muss, wobei es nach Rückschlägen meist schnell wieder bergauf geht und es nie allzu dramatisch wird.

Nach rund 120 Seiten war es dann endlich so weit, und der erste lang erwartete Brief aus der Zukunft trifft ein. Diese Idee reizte mich von Beginn an besonders. Die Briefe greifen jedoch nicht so stark in die Handlung ein, wie ich gedacht hätte. Sie geben Ge vor allem emotionalen Halt statt eines Wissensvorsprungs, denn dazu ist die Ge aus der Zukunft viel zu vernünftig. So darf man als Leser wie Ge gespannt bleiben, ob sie ihr Glück finden wird. Zum Ende hin spielen die Briefe schließlich doch noch eine entscheidende Rolle, denn sie lösen eine unerwartete und dramatische Wende aus, die mich mitfiebern ließ, wie sich Ge entscheiden muss.

„Blackwood: Briefe an mich“ nimmt den Leser mit nach Irland in einen kleinen Ort, wo Neuankömmling Ge ihren Platz sucht. Ich fühlte mich an diesem verwunschenen Fleckchen Erde gleich wohl und begleitete Ge durch Höhen und Tiefen. Die Briefe aus der Zukunft geben der Geschichte einen magischen Touch und kommen anders zum Zug, als ich erwartet hätte. Spannungsmomente wurden für meinen Geschmack oft ein wenig zu schnell aufgelöst. Insgesamt ist das Buch eine echte Feelgood-Geschichte, die den Leser mit offenen Armen empfängt und zum Schmökern einlädt.

Veröffentlicht am 17.03.2019

Fünf Frauen, die man durch die Höhen und Tiefen des Lebens begleitet

Die Liebe im Ernstfall
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Die fünf Frauen Paula, Judith, Brida, Malika und Jorinde stehen mitten im Leben und haben doch immer wieder das Gefühl, den Halt zu verlieren. Paulas Leben ist aus den Fugen geraten, als sie das jüngere ...

Die fünf Frauen Paula, Judith, Brida, Malika und Jorinde stehen mitten im Leben und haben doch immer wieder das Gefühl, den Halt zu verlieren. Paulas Leben ist aus den Fugen geraten, als sie das jüngere ihrer beiden Kinder verloren hat. Judith sucht seit Jahren über Online-Plattformen nach immer neuen Männern. Brida versucht, einen gemeinsamen Urlaub mit ihren Kindern, ihrem Ex-Mann und dessen neuer Freundin durchzustehen. Malika steht schon immer im Schatten ihrer Schwester Jorinde. Doch auch deren Leben ist alles andere als perfekt.

In fünf Kurzgeschichten von etwa gleicher Länge taucht der Lesen ein in die Leben von ganz verschiedenen Frauen, deren Geschichten sich an einigen Stellen kreuzen. Sie alle haben in ihrem Leben schon so einiges erlebt: Liebe, Freude und Erfolg, aber auch Trennungen und Verluste. Sie alle haben schon einmal erlebt, wie es ist, in ein Loch zu fallen und sich wieder aufrappeln zu müssen. Und sie alle haben dabei nie den Willen verloren, sich selbst treu zu bleiben.

Ich habe jede der Geschichten in hohem Tempo gelesen, da der Aufbau jeweils neugierig darauf macht, mehr über das Schicksal der jeweiligen Protagonistin erfahren zu wollen. Es gibt immer sowohl eine Handlung in der Gegenwart als auch zahlreiche Rückblicke, sodass man Einblicke in diverse Episoden erhält, welche die Protagonistin nachhaltig geprägt haben. Dabei muss ich sagen, dass für meinen Geschmack in diesem Buch zu viel fremdgegangen wurde und die deutliche Mehrheit der Männer in keinem guten Licht dasteht. Ich habe mich schwer damit getan, mich emotional auf die fünf Protagonistinnen einzulassen.

Großzügige Zeitsprünge sorgen dafür, dass man die Konsequenzen gewisser Entscheidungen miterleben kann. Alle müssen ihr Leben schließlich neu ordnen und entscheiden, wie es für sie weitergehen kann. Dabei endet jede Geschichte relativ offen und überlässt die Beantwortung einiger Fragen der eigenen Fantasie. Ein Buch für alle Leserinnen, die Lust darauf haben, fünf ganz unterschiedliche Frauen durch die Höhen und Tiefen des Lebens zu begleiten.

Veröffentlicht am 12.03.2019

Ganz verschiedene Träume in Angola

Die Gesellschaft der unfreiwilligen Träumer
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Der angolanische Journalist Daniel Benchimol lebt schon lange getrennt von seiner Frau Lucrécia. Der Bruch erfolgte, weil er kritische Artikel zur politischen Lage im Ausland veröffentlichte und Lucrécia ...

Der angolanische Journalist Daniel Benchimol lebt schon lange getrennt von seiner Frau Lucrécia. Der Bruch erfolgte, weil er kritische Artikel zur politischen Lage im Ausland veröffentlichte und Lucrécia sich auf die Seite ihres Vaters, eines reichen Unternehmers, stellte. Daniel strebt nach journalistischen Erfolgen und führt seine Interviews nicht nur in der Realität, sondern auch im Traum. Doch Lucrécias Vater stellt sich seiner Karriere aktiv in den Weg, und nun ist auch die Scheidung vollzogen. Als Daniel kurz darauf schwimmen geht, findet er einen Fotoapparat mit Aufnahmen einer ihm unbekannten einer Frau, die schon mehrfach in seinen Träumen vorkam. Seine Recherche bringt Erstaunliches zutage…

Als ich mit der Lektüre begann, war ich vor allem neugierig auf das Setting des Romans. Ich habe bislang kein Buch über Angola gelesen und kannte mich auch mit der politischen und gesellschaftlichen Situation vor Ort nicht detailliert aus. Dieses Wissen hilft jedoch, um gewisse Dynamiken im Buch zu verstehen, weshalb ich mich parallel zur Lektüre damit beschäftigte. Die wichtigsten Ereignisse findet man als Leser auch hinten im Buch.

Daniel ist ein Charakter, der durch sein Schreiben etwas bewegen will, sich mit Taten aber gleichzeitig zurückhält. Dass er ständig von Interviews träumt beschäftigt ihn, vor allem, als er Fotos einer Frau findet, die ihm bislang nur im Traum begegnet ist. Es handelt sich um Moira, die sich selbst intensiv mit ihren Träumen beschäftigt und diese in Kunstwerken verarbeitet. Auf Daniels Kontaktaufnahme reagiert sie mit Interesse.

Wie der Titel schon sagt spielen Träume in diesem Buch eine zentrale Rolle. Daniel flieht oft aus der Stadt zu seinem Freund, dem Hotelbetreiber Hossi. Dieser erinnert sich nie an seine Träume, doch er selbst erscheint immer wieder in den Träumen von Menschen in seiner Umgebung. Seine Zeit als Guerillo holt ihn gedanklich immer wieder ein, und er hat das Gefühl, dass gewisse Personen noch immer nach ihm suchen. Daniels Tochter, die behütet und von Reichtum umgeben bei ihrer Mutter aufgewachsen ist, träumt von einer anderen Zukunft, seit sie sich mit der Situation im Land auseinandergesetzt hat. Sie wird bei einer Protestaktion gegen den Präsidenten festgenommen und trifft eine folgenschwere Entscheidung.

Der Roman beleuchtet die Situation in Angola sowohl der letzten Jahrzehnte als auch heute. Er spielt sich im wohlhabenderen Umfeld ab und thematisiert vor allem die politische Situation, während die extreme Armut eher eine Nebenrolle spielt. Die vergangenen Bürgerkriege und der Traum von echter Freiheit bewegt die Handelnden. Sie alle haben ein Thema, das sie in besonderem Maße antreibt: Selbstverwirklichung und Wahrheitssuche, das Aufarbeiten der Vergangenheit, Klarheit erlangen über den weiteren Weg und selbst ein Zeichen setzen für eine bessere Zukunft.

Während die Geschichte mehrfach die Perspektive wechselt und durch die Zeit springt bleibt Daniel der Dreh- und Angelpunkt der Handlung. Dennoch fiel es mir immer wieder schwer, den roten Faden zu finden, denn die Kapitel hängen nur lose zusammen und die Handlung bewegt sich mal hierhin, mal dorthin. Dabei sammelt man als Leser Informationen, die man selbst zusammensetzen muss, um einen Blick aufs große Ganze zu erhaschen. Die Geschichte steckt voller Symbolik, die sich mir nur langsam erschloss. Insgesamt fand ich den Ansatz spannend, sich über das Thema Träume mit der politischen und gesellschaftlichen Lage in Angola zu beschäftigen!

Veröffentlicht am 21.02.2019

Gegen das Vergessen: Liens Geschichte

Das Mädchen mit dem Poesiealbum
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Bart van Es wusste schon immer, dass seine Großeltern während des Zweiten Weltkriegs in den Niederlanden jüdische Kinder versteckt haben. Doch nach den Einzelheiten hat er nie gefragt, und niemand erzählte ...

Bart van Es wusste schon immer, dass seine Großeltern während des Zweiten Weltkriegs in den Niederlanden jüdische Kinder versteckt haben. Doch nach den Einzelheiten hat er nie gefragt, und niemand erzählte sie ihm. Der Tod seines Onkels bringt ihn schließlich ins Nachdenken. Er möchte mehr über seine Großeltern herausfinden, vor allem aber über die Geschichte des Mädchens, das sie versteckten: Lien. Über seine Mutter erhält er ihre Mailadresse und trifft sie kurz darauf in Amsterdam. Der Professor für englische Literatur lauscht ihren Erinnerungen, beginnt zu recherchieren und begibt sich auf eine Spurensuche.

Im Prolog des Buches berichtet der Autor von seinem allerersten Treffen mit Lien in Amsterdam. Er ist neugierig auf die Frau, die scheinbar lange ein Teil seiner Familie war und zu welcher der Kontakt vor fast dreißig Jahren abgebrochen wurde. Ein Mailaustausch ging dem Treffen voraus, und Lien ist bereit, ihre Geschichte mit ihm zu teilen. Auch einige Fotos hat sie aufbewahrt, und einen ganz besonderen Schatz: Ihr altes Poesiealbum.

Liens Geschichte wird in diesem Buch chronologisch erzählt und beginnt im Jahr 1941 in Den Haag. Zu dieser Zeit ist der Krieg in den Niederlanden angekommen und Lien erfährt als jüdisches Mädchen die ersten Schritte der Ausgrenzung: Sie muss einen Judenstern tragen, auf eine jüdische Schule gehen und darf die meisten öffentlichen Orte nicht mehr betreten. Als sich die Lage immer weiter zuspitzt, möchten ihre Eltern sie retten und geben sie fort. Sie soll bei einer anderen Familie und an einem anderen Ort leben kann, wo niemand weiß, dass sie Jüdin ist.

Liens Geschichte ist ein Beispiel für das Schicksal vieler jüdischen Kinder, die während des Zweiten Weltkriegs in den Niederlanden versteckt wurden. Im Gegensatz zur bekanntesten von ihnen, Anne Frank, muss Lien während des Krieges mehrfach das Versteck wechseln. Zum Glück findet sich immer jemand, der bereit ist, ihr Unterschlupf zu gewähren. Doch die Familien, die sie aufnehmen, gehen ganz unterschiedlich mit ihr um. So gibt es in den Kriegsjahren manche schöne, aber auch beklemmende und höchst traumatische Erlebnisse.

Die Rückblicke werden immer wieder unterbrochen durch Kapitel, in denen Bart van Es von seiner Recherche erzählt. Er besucht zahlreiche Orte, an denen Lien sich aufgehalten hat, und berichtet, wie es dort heute aussieht. Außerdem versorgt er den Leser mit Hintergrundinformationen zur Situation der Juden in den Niederlanden zu Beginn und während des Krieges, dem Kriegsverlauf und kurzen Einblicken in die Schicksale von weiteren Opfern, Helfern und Tätern. So lernt man zum einen die sehr persönliche Geschichte einer Überlebenden kennen, zum anderen erfährt man mehr über das Schicksal der niederländischen Juden im Allgemeinen. Mir hat diese Mischung gut gefallen, allerdings fand ich Abschnitte, in denen die geschichtlichen Fakten dargestellt werden, etwas überladen.

Der Autor versucht, möglichst neutral über Liens Schicksal zu berichten. Seine Großeltern stellt er nicht als unantastbare Helden hin, sondern setzt sich auch mit ihrer Rolle kritisch auseinander. Der Tonfall ist eher nüchtern, man merkt, dass er sonst wissenschaftliche Artikel verfasst und keine rührenden Storys. Für mich passte das gut zu dem, was er berichten möchte. Gleichzeitig machten die abgedruckten Fotos und Einträge aus Liens Poesiealbum ihre Geschichte für mich noch greifbarer.

In „Das Mädchen mit dem Poesiealbum“ erzählt der Professor Bart van Es die Geschichte der Jüdin Lien, die als Kind während des Zweiten Weltkriegs in den Niederlanden unter anderem von seinen Großeltern versteckt wurde. Dabei erhält der Leser sowohl Einblicke in Liens persönliches Schicksal als auch in die Geschichte der niederländischen Juden während des Krieges. Der Schreibstil ist nicht perfekt, doch ich bin froh, dass der Autor Liens Geschichte aufbereitet und aufgeschrieben hat. Ein gutes und wichtiges Buch gegen das Vergessen, dem ich noch viele Leser wünsche.