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Veröffentlicht am 31.10.2016

Der "Notgroschen"

Das Nest
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Die vier Plumb-Geschwister Leo, Jack, Bea und Melody haben eines gemeinsam: Sie leben zwar alle weit über ihre Verhältnisse, aber immer noch unter ihrem Niveau.
Wie gut, dass es im Hintergrund einen Treuhand-Fonds ...

Die vier Plumb-Geschwister Leo, Jack, Bea und Melody haben eines gemeinsam: Sie leben zwar alle weit über ihre Verhältnisse, aber immer noch unter ihrem Niveau.
Wie gut, dass es im Hintergrund einen Treuhand-Fonds (liebevoll "Das Nest" genannt) gibt, denn der verstorbene Vater der vier eingerichtet hat und der an Melodys 40. Geburtstag zu gleichen Teilen an die Geschwister ausgezahlt werden soll. Leider macht Leo, der Erstgeborene, seinen Geschwistern einen Strich durch die Rechnung: er reitet sich in einen riesigen Schlamassel, der den Ruf der Plumbs gefährdet, was Mutter Francie dazu veranlasst, den Löwenanteil des Nests zur Ehrenrettung der Familie einzusetzen. Diese Entscheidung stellt vor allem Jack und Melody vor große Probleme...

Cynthia D'Aprix Sweeney hat mich mit ihrem Debütroman begeistert, sie hat einen vielschichtigen Plot gebastelt, in dem die lebensnahe Zeichnung der vier Geschwister überzeugt. Ihr ist ein authentischer Familienroman gelungen, in dem der Leser zwischen den völlig unterschiedlichen Sichtweisen der Protagonisten ständig hin- und hergerissen ist. Ein richtiger Sympathieträger ist eigentlich nicht dabei: Leo, Jack, Bea und Melody haben einige negative Charaktereigenschaften, die in ihrer angespannten finanziellen Situation überdeutlich hervortreten. Dennoch kann man sich als Leser in ihre Lage versetzen und hinterfragt sich auch selbst, ob man in ihrer Situation tatsächlich anders reagieren würde.

Daneben gibt es auch noch einige Randfiguren, die vor allem dazu dienen, die Protagonisten von außen zu betrachten, die aber dennoch ihre eigene Hintergrundgeschichte mitbringen. Da gibt es beispielsweise einen pensionierten Feuerwehrmann, der auf den Antiquitätenhändler Jack trifft; eine junge Latina, die für einen Fehler einen hohen Preis bezahlt hat; Leos On-/Off-Beziehung, die ihn bei sich einziehen lässt; oder auch den Herausgeber einen kleinen Literaturzeitschrift, der gleich mit mehreren Plumb-Geschwistern in Kontakt steht.
Diese Figuren haben ihre eigenen Kapitel, in denen sie dem Leser immer wieder neue Erkenntnisse über die Plumbs präsentieren, aber auch ihre eigenen Geschichten erzählen, was dem Roman sehr viel Tiefe und Facettenreichtum verleiht.

Die Autorin überzeugt aber nicht nur durch die gelungene Charakterzeichnung, sondern auch durch den Verlauf der Handlung, der durch die häufigen Perspektivwechsel und unerwarteten Wendungen das Interesse des Lesers durchgehend wachhält. Die komplexen Gefühlslagen werden dabei mal bissig, mal melancholisch, aber immer treffend und nachvollziehbar vor dem Leser ausgebreitet, was dazu führt, dass man jederzeit nah an den Figuren und nah am Geschehen ist.

Ich versuche eigentlich, kein "Cover-Käufer" zu sein (mal mehr, mal weniger erfolgreich), aber bei diesem Buch fand ich die Umschlaggestaltung schon auf den ersten Blick faszinierend - das Cover weckte sofort mein Interesse und ich wollte wissen, welche Art Geschichte sich dahinter verbirgt.
Und nachdem ich diese Geschichte nun kenne, möchte ich dem Klett-Cotta-Verlag mein Kompliment für dieses wunderbare, treffende Cover aussprechen - es passt hervorragend zum Roman und ist sogar schöner und gelungener als das Cover der amerikanischen Originalausgabe.

"Das Nest" war definitiv eines meiner Lese-Highlights in diesem Jahr, und ich möchte dieses Buch allen Lesern ans Herz legen, die gerne Geschichten über Familien lesen - aber auch allen, die einfach meisterhaft erzählte Geschichten lesen möchten.
Dieses erstaunliche Debüt macht Cynthia D'Aprix Sweeney zu einer Autorin, die man im Auge behalten sollte.

Veröffentlicht am 10.10.2016

Eine unkonventionelle Familie

Brüder für immer
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Quentin und Julian Bell wachsen zusammen mit ihrer kleinen Schwester Angelica in den 20er Jahren in Charleston - einem Landhaus in Sussex - bei ihrer berühmten Mutter, der Malerin Vanessa Bell, auf. Ihre ...

Quentin und Julian Bell wachsen zusammen mit ihrer kleinen Schwester Angelica in den 20er Jahren in Charleston - einem Landhaus in Sussex - bei ihrer berühmten Mutter, der Malerin Vanessa Bell, auf. Ihre ebenso berühmte Tante, die Schriftstellerin Virginia Woolf, und auch die anderen Mitglieder der "Bloomsbury Group" sind häufig zu Gast - in ihrem Zuhause herrscht eine für die damalige Zeit ungewöhnlich freigeistige Stimmung. Der Umgang mit diesen kreativen und modern denkenden Intellektuellen prägt die Kindheit des Bell-Nachwuchses. Sie hören zwar immer wieder von Außenstehenden, dass ihre Familie seltsam sei, doch die Kinder hinterfragen ihre Familienverhältnisse nicht. Für sie ist es normal, dass der Vater in London lebt und regelmäßig mit anderen, neuen Freundinnen zu Besuch kommt, und dass ihre Mutter lieber mit Duncan zusammenlebt als mit ihrem Vater.
Doch eines Tages kommt ein Geheimnis ans Licht, das diese kleine, idyllische Welt in den Grundfesten erschüttert.

Rindert Kromhout hat ein anrührendes Jugendbuch geschrieben. Selbst in heutiger Zeit würde diese Familie nicht als "normal" durchgehen, wie mag das erst in den 20er- und 30er-Jahren auf die englische Landbevölkerung gewirkt haben? Und dennoch beschreibt der Autor die jungen Jahre der Bell-Kinder als unbeschwert und behütet, vielleicht gerade, weil ihre Mutter Vanessa nicht der "Engel im Haus" sein muss, sondern ihrer Leidenschaft freien Lauf lassen kann und dennoch ihren Kindern eine gute und liebende Mutter ist.

Obwohl es sich hier um ein Jugendbuch handelt, und dieses Buch auch definitiv für die empfohlene Altersgruppe geeignet ist, habe ich auch als Erwachsene meine Freude daran gehabt. Man findet viele intelligente Dialoge, in denen oft philosophische Fragen aufgeworfen werden. Es geht um die Familie, das Erwachsenwerden, wie man seinen eigenen Weg findet und wie man sich eine eigene Meinung bildet. Und auch um die Erkenntnis eines Jugendlichen, dass auch Eltern sich nicht immer an ihre eigenen Ratschläge halten, dass auch sie nur Menschen sind und nicht immer alles richtig machen.
Ein jugendlicher Leser liest "Brüder für immer" sicher mit anderen Eindrücken als ein Erwachsener, aber trotzdem liefert dieses Buch mit Sicherheit viele interessante Denkanstöße für alle Altersgruppen. Außerdem zeichnet der Autor auch ein gelungenes Bild der damaligen Zeit, greift politische und gesellschaftliche Umbrüche, wie beispielsweise den Aufstieg des Faschismus und die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise, auf. Diese ernsten, geschichtlichen Hintergründe verpackt er aber altersgerecht und bereitet die Themen deutlich interessanter auf, als es im Geschichtsunterricht der Fall ist.

Obwohl fast alle Figuren dieses Romans reale Personen sind, handelt es sich natürlich trotzdem um einen Roman und nicht um eine Biografie - worauf der Autor auch im Nachwort noch einmal deutlich hinweist. Natürlich hat er viel über diese außergewöhnliche Familie recherchiert, und hinterlässt damit beim Leser auch den Eindruck, dass die Ereignisse sich so (oder zumindest ähnlich) abgespielt haben könnten. Die Charakterzüge und Eigenheiten dieser Personen hat er glaubwürdig dargestellt, alle wichtigen Figuren wirken äußerst lebensecht.

Von mir gibt es eine klare Leseempfehlung - und das nicht nur für jugendliche Leser. Eine gut erzählte Familiengeschichte, die alles Wichtige mitbringt: Verbundenheit und Freundschaft unter Geschwistern, nostalgische und berührende Momente und auch große Konflikte.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Gourmet-Zeitreise

Die Geheimnisse der Küche des Mittleren Westens
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Eva Thorvald ist die gefragteste Köchin Amerikas, für einen Platz bei einem ihrer Pop-up-Dinner blättern die Menschen eine Menge Geld hin, und müssen vorher trotzdem jahrelang auf einer Warteliste Platz ...

Eva Thorvald ist die gefragteste Köchin Amerikas, für einen Platz bei einem ihrer Pop-up-Dinner blättern die Menschen eine Menge Geld hin, und müssen vorher trotzdem jahrelang auf einer Warteliste Platz für Platz nach vorne rücken, um sich endlich an Evas Tafel niederlassen zu dürfen.
Dabei fing ihr Leben gar nicht schillernd an: Ihre Mutter Cynthia verließ sie im zarten Alter von drei Monaten, um sich ihren Traum zu erfüllen und Sommelière zu werden. Ihren perfekten Geschmackssinn hat Eva von ihrem Vater Lars geerbt, der schon in jungen Jahren für seinen norwegischen Lutefisk berühmt war.

Als ich das wunderschöne Cover dieses Buches gesehen habe, war ich sofort verliebt. Die Gestaltung ist sehr retro, und sieht nach den 50er-Jahren aus. Man kann dem Diogenes Verlag nur zu der Entscheidung gratulieren, dass dieses Cover von der amerikanischen Ausgabe übernommen wurde, auch wenn es auf den ersten Blick vielleicht wenig trendy wirkt. Gerade dadurch wird es sich in den Buchhandlungen von anderen Titeln abgrenzen und Interesse wecken.
Nachdem ich "Die Geheimnisse der Küche des mittleren Westens" zu Ende gelesen habe, habe ich erfreut festgestellt, dass das Cover nicht nur hübsch ist, sondern auch die wichtigsten Schlüsselelemente der Handlung widerspiegelt. Darum passt es so perfekt, und ich könnte mir kein hübscheres Kleidchen für dieses wunderbare Buch vorstellen.

Obwohl Eva Thorvald die Protagonistin ist, wird das Buch fast komplett aus der Sicht anderer Figuren erzählt, teils von Familienmitgliedern, manchmal aber auch von Figuren, die Eva nur kurz begegnet sind. Das erste Kapitel "Lutefisk" wird beispielsweise aus der Sicht von Evas Vater Lars geschildert: Man erfährt, wie Lars seine Kindheit verlebt hat, wie er Koch geworden ist, seine Frau Cynthia kennengelernt hat und Vater geworden ist. Das zweite Kapitel "Chocolate Habanero" ist das einzige Kapitel des Buches, in dem wir die Dinge aus Evas Perspektive betrachten können. Die folgenden Episoden sind aus ihrem weiteren oder näheren Umfeld, es gibt sogar ein Kapitel, in dem Eva nur in etwa drei oder vier Sätzen erwähnt wird. Zwischen den einzelnen Abschnitten liegen manchmal mehrere Jahre, es wird also nicht Evas ganzes Leben vor dem Leser ausgebreitet, sondern nur die wichtigsten Wendepunkte.
Diese Erzählweise wirkt sehr ungewöhnlich, und das ist sie auch. Die einzelnen Kapitel sind jedes für sich wie eine Kurzgeschichte, denn der Leser muss sich zu Beginn immer an einen anderen Erzähler gewöhnen, und oftmals auch einige Seiten Geduld haben, bis die Verbindung zu Eva hergestellt wird. Die verschiedenen Figuren stellen sie - je nach Blickwinkel - sehr unterschiedlich dar, und gerade das macht den Charme des Buches aus, denn Eva bleibt wenig greifbar. Evas Entwicklung und Werdegang sind trotz (oder vielleicht auch wegen?) dieser Erzählweise sehr gut nachvollziehbar.

Genau wie man es anhand des Buchtitels erwartet, sind die einzelnen Kapitel immer einem Gericht (Lutefisk) oder einer Zutat (Chocolat Habenero) gewidmet, und natürlich ist Kochen und Essen der rote Faden in diesem Buch. Manchmal gibt es sogar die Rezepte zu den Gerichten, und nachdem der skurrile Lutefisk den Anfang macht, geht es über recht einfache Gerichte wie Chili oder Erdnussbutter-Riegel zu sehr ausgefallenen Menüs, die man gerne probieren möchte.

Wenn man das Buch auf das Wesentliche reduzieren möchte, müsste man sagen: Es erzählt Familiengeschichten. Viele kleine Episoden, mal fröhlich und lustig, mal traurig oder auch tragisch. Aber immer schillernd und unterhaltsam.
Nach dem Lesen bin ich immer noch verliebt, J. Ryan Stradal ist definitiv ein Autor, der auf meinem Radar nun einen Stammplatz hat.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Sex, Drogen, Blutrausch

The Girls
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Kalifornien, 1969: Die 14-jährige Evie Boyd verbringt ihre endlos scheinenden letzten Sommerferien bevor sie ins Internat geschickt wird. Sie muss gerade einiges wegstecken: Ihr Vater hat die Familie verlassen, ...

Kalifornien, 1969: Die 14-jährige Evie Boyd verbringt ihre endlos scheinenden letzten Sommerferien bevor sie ins Internat geschickt wird. Sie muss gerade einiges wegstecken: Ihr Vater hat die Familie verlassen, ihre Mutter ist auf einem Selbstfindungstrip, dann verkracht sie sich auch noch mit ihrer einzigen Freundin Connie - dadurch fühlt Evie sich einsam und von aller Welt verlassen. Da begegnet sie den "Girls": eine Gruppe Mädchen, alle ein wenig älter als Evie, die von zuhause ausgerissen sind und sich dem charismatischen Russel angeschlossen haben, mit dem sie auf einer heruntergekommenen Farm als Kommune hausen.
Evie, die behütete Tochter aus gutem Hause, ist völlig fasziniert von dieser neuen, freien Welt voller Sex und Drogen, und sie verfällt Suzanne, der Anführerin der Mädchen, mit Haut und Haar. So bemerkt Evie nicht, in welch unheilvolle Richtung ihr Leben driftet.

Emma Cline lässt ihre Ich-Erzählerin Evie auf zwei Zeitschienen ihr Leben schildern. In beiden Fällen ist es die erwachsene Evie, die einmal die Ereignisse aus dem Jahr 1969 im Rückblick schildert, während der Leser auch in kürzeren, eingeschobenen Passagen erfährt, wie die Evie in den mittleren Jahren in der Gegenwart ihr Leben zubringt.
Innerhalb der Rückblenden in Evies Zeit mit den Girls verläuft die Erzählung nicht linear, es ist eher so, als würde Evie die Geschichte bei ein paar Drinks erzählen. So erfährt der Leser schon auf den ersten Seiten, dass die Gruppe sich nicht einfach aufgelöst hat, sondern dass eine schreckliche Tat das Ende des Hippie-Lebens auf der Farm einläutete. Oftmals analysiert Evie auch die Hintergründe oder rechtfertigt sich, und schildert darum auch Begebenheiten, die sich vor oder nach dem schicksalhaften Sommer ereignet haben.
Diese Erzählweise ist gut gelungen, denn die Spannung wird bis zum Ende aufgebaut und gehalten, aber "The Girls" ist kein Buch, das man an sich vorbeiplätschern lassen kann - man muss als Leser wirklich bei der Sache sein, um nicht den Faden zu verlieren.

Da die Protagonistin Evie als Ich-Erzählerin eingesetzt wird, kommt sie dem Leser natürlich am nächsten, und sie lässt mich ein wenig zwiegespalten zurück, was wohl auch die Absicht der Autorin ist. Es gelingt ausgezeichnet, dem Leser diese verwirrenden frühen Teenager-Jahre wieder vor Augen zu führen: Evie ist eine typische 14-jährige. Sie steckt voller Komplexe, sieht sich als völlig unattraktives Mädchen, das niemand je lieben wird. Sie will um jeden Preis irgendwo dazugehören und hungert nach der Aufmerksamkeit anderer Menschen. Ihre Eltern sind unglücklicherweise zu sehr mit sich selbst und ihrer Scheidung beschäftigt um zu bemerken, dass Evie keine Freunde mehr hat, und haben keine Ahnung, mit welchen Leuten sich ihre Tochter herumtreibt. Wenn sie nachts wegbleibt, nimmt ihre Mutter einfach an, sie hätte bei Connie geschlafen.
Manchmal fühlte ich mich der jungen Evie sehr nah, manchmal war ich aber auch geradezu von ihr abgestoßen.
Die anderen Figuren treten - je nach Evies Blickwinkel - mal mehr, mal weniger in den Vordergrund. So hab ich zum Beispiel von Suzanne ein sehr klares Bild, während Russel (der eigentliche Mittelpunkt der Gruppe, für Evie aber eher ein Hintergrundrauschen) recht verschwommen bleibt.

Manchmal ist das Buch ziemlich verstörend, besonders wenn das Leben auf der Farm mit all den Drogen- und Sexexzessen recht bildhaft geschildert wird. Ich hatte beim Lesen ständig im Hinterkopf, wie jung Evie doch ist - ich glaube, für Eltern mit Töchtern im Teenager-Alter ist das noch schwerer auszuhalten.
Trotzdem ist die Geschichte absolut fesselnd und entwickelte sich für mich zu einem Pageturner. Emma Cline lässt die beginnende Hippie-Ära lebendig werden, und führt dem Leser nicht nur die weichgespülten Klischees von bekifften, aber harmlosen Fans der freien Liebe vor Augen, sondern zeigt auch abgründige und hässliche Facetten, die man mühelos in die Gegenwart übertragen kann. Ich konnte das Buch gar nicht mehr weglegen, und von daher gibt es von mir auch eine klare Empfehlung: auf jeden Fall lesenswert!

Veröffentlicht am 15.09.2016

Rahoteps letzter Fall

Anchesenamun - Das Buch des Chaos
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Theben, im 4. Jahr der Herrschaft von Eje: Rahotep ist Zaungast an einem spektakulären Tatort. Fünf nubische Jungen, vermutlich auf der untersten Hierarchiestufe einer der umtriebigen Opiumhändlerbanden. ...

Theben, im 4. Jahr der Herrschaft von Eje: Rahotep ist Zaungast an einem spektakulären Tatort. Fünf nubische Jungen, vermutlich auf der untersten Hierarchiestufe einer der umtriebigen Opiumhändlerbanden. Sie wurden geköpft, und auf einer Straße in einem Elendsviertel in Reih und Glied abgelegt - ihre Köpfe zu ihren Füßen. Im Mund eines Leichnams findet Rahotep ein Papyrus mit einem achtzackigen Stern. Zaungast ist Rahotep deshalb, weil sein Vorgesetzter bei den Medjai ihn inzwischen völlig aufs Abstellgleis geschoben hat, Rahotep konnte schon seit Jahren keinen richtigen Fall mehr aufklären.
Da kommt ihm das Angebot Anchesenamuns gerade recht: Eje ist dem Tode nahe und es gibt keinen Thronfolger. Anchesenamun braucht einen starken, neuen Ehemann, der an ihrer Seite Ägypten mitregiert und hoffentlich mit einem gemeinsamen Sohn und Thronfolger die Dynastie sichert.
Darum wird sich der oberste ägyptische Botschafter, Rahoteps alter Freund Nacht, auf den Weg zum Hethiterkönig Schuppiluliuma machen und ihn um einen seiner Söhne bitten. Rahotep soll Nacht begleiten und für seine persönliche Sicherheit sorgen. Diese Mission ist streng geheim, schließlich sind die Hethiter seit Jahrzehnten Ägyptens Erzfeinde, und dieser Schachzug der Königin ist ebenso riskant wie genial.

Im letzten Band seiner Ägypten-Trilogie begibt sich Nick Drake historisch gesehen auf dünnes Eis, denn als Hauptthema dieses Bandes hat er die sogenannte Dahamunzu-Affaire auserkoren. Auf dem Gebiet des heutigen Anatolien, wo sich früher das Reich Hatti befand, wurden Bruchstücke von Tontafeln gefunden, unter anderem Fragmente von Briefen einer Dahamunzu (= Gemahlin des Pharao), in denen sie den König der Hethiter um einen Sohn bittet, da sie kinderlos und verwitwet ist. Da die Tafeln in Keilschrift und nicht in ägyptischen Hieroglyphen verfasst sind, enthalten sie nicht den richtigen Namen der betreffenden Pharaonin. Bis heute ist umstritten, wer die Absenderin dieser Tontafeln war, sowohl Nofretete als auch ihre Tochter Anchesenamun kämen in Frage.
Die Historiker, die Anchesenamun für wahrscheinlicher halten, begründen dies hauptsächlich damit, dass Nofretete höchstwahrscheinlich vor Echnaton verstorben ist.
Die entgegengesetzte Partei hängt der Theorie an, dass Nofretete identisch ist mit Semenchkare, der nach Echnaton und vor Tutanchamun für kurze Zeit Ägypten regiert haben könnte. Ebenfalls ein Kapitel, das sehr im Dunkel der Geschichte verschwunden ist, denn es gibt nur sehr wenige Funde, die überhaupt auf Semenchkare hinweisen.
Solch lückenhafte historische Fakten sind natürlich für einen Autor geradezu eine Einladung, diese Lücken mit einer eigenen Geschichte zu füllen. Nick Drake hat sich nun für die Anchesenamun-Variante entschieden, und wenn man diesen Ansatz als gegeben annimmt, hat er für dieses mysteriöse Kapitel des Neuen Reiches eine stimmige und runde Deutung gefunden, die mir sehr gut gefallen hat.

Rahoteps Fall ist dagegen völlig fiktiv, er ermittelt inoffiziell gegen die Opiumhändler, die Theben neuerdings mit der Droge überschwemmen. Eine Art antikes Drogenkartell, das als Vorlage das organisierte Verbrechen neuerer Zeiten hat. Ebenfalls ein sehr interessanter Ansatz, zu dem der Autor einen raffinierten Fall rund um Opiumanbau, Lieferwege und Bandenkriege konstruiert hat.

Der Abschlussband der Ägypten-Trilogie ist um einiges düsterer und brutaler als die beiden Vorgängerbände Nofretete - Das Buch der Toten und Tutanchamun - Das Buch der Schatten. Eine nachvollziehbare Entwicklung, da Rahotep seit seinem ersten Fall in Echnatons Auftrag einige persönliche und berufliche Tiefschläge einstecken musste. Insgesamt sind zwischen dem Beginn des ersten und dem Ende des dritten Bandes etwa zwanzig Jahre verstrichen. Rahotep ist also ein etwas brummeliger, älterer Herr geworden, der zudem politisch und gesellschaftlich gesehen auch noch einer recht düsteren Zukunft entgegenblickt. Dies schlägt sich klar auf die Stimmung des Buches nieder, der Ich-Erzähler hat den natürlichen Optimismus der Jugend irgendwo auf der Strecke verloren.

Das Buch ist wieder mit einem sehr interessanten Nachwort des Autors sowie einer Literaturliste versehen. Auch die bereits aus dem letzten Buch bekannte Karte ist wieder auf beiden Umschlaginnenseiten abgebildet. Allerdings wäre es doch schöner gewesen, wenn man zumindest auf einer der beiden Abbildungen Nachts und Rahoteps Reiseweg hätte nachvollziehen können, statt einfach die alte Ägypten-Karte doppelt zu recyceln, die nun bei einer Reise ins Ausland nicht wirklich informativ war.

Bei einem letzten Band kommt man nicht umhin, im Grunde die komplette Reihe zu bewerten. Mich hat Nick Drake mit seiner Ägypten-Trilogie vollends überzeugt, ich habe es immer wieder genossen, mich mit Rahotep in seinen Medjai-Alltag, hauptsächlich bestehend aus recht brutalen Mordfällen und Palastintrigen, zu stürzen.
Die Bücher sind auffällig gut recherchiert, und in den Details auch auf dem neuesten Stand der historischen Forschung. Trotzdem sind sie keinesfalls trocken, sondern im Gegenteil mit spannenden Kriminalfällen und witzig-ironischen Dialogen höchst fesselnd und unterhaltsam. Definitiv ein Schmankerl für alle Leser, die gerne mal ins antike Ägypten abtauchen möchten.