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Veröffentlicht am 25.03.2018

Eher kein Agatha Christie für Einsteiger aufgrund der Entstehungsgeschichte

Die großen Vier
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O: The Big Four. Der siebte Roman von Agatha Christie, dabei
der vierte Roman mit Poirot,
der dritte mit seinem Helfer Arthur Hastings,
der zweite mit Inspektor Japp

Darüber hinaus sind noch zwei Anthologien ...

O: The Big Four. Der siebte Roman von Agatha Christie, dabei
der vierte Roman mit Poirot,
der dritte mit seinem Helfer Arthur Hastings,
der zweite mit Inspektor Japp

Darüber hinaus sind noch zwei Anthologien der Autorin zu vermerken, eine mit Lyrik, eine mit Hercule-Poirot-Kurzgeschichten (die vorher einzeln in 1923 im Magazin Sketch veröffentlicht worden waren - die Relevanz erklärt sich noch anhand einer weiteren derartigen Anthologie)
• „The Mysterious Affair at Styles“ 1920 / „Das fehlende Glied in der Kette“ D 1929 mit Poirot (1), Hastings (1) Japp (1)
• „The Secret Adversary“ 1922/ "Ein gefährlicher Gegner" D 1932 mit den Beresfords (1)
• “The Murder on the Links” 1923/ “Mord auf dem Golfplatz” D 1927 mit Poirot (2) Hastings (2)
Dazwischen
o 1924: Lyriksammlung: „The Road of Dreams”
o Short Stories: Poirot investigates 1924 /“ Poirot rechnet ab“ Poirot
o Achtung: einzeln veröffentlichte Kurzgeschichten gab es später erst als Anthologie – vgl. Trivia, wichtig ist hier „Double Sin“ 1928/“Die Doppelsünde“
• “The Man in the Brown Suit” 1924/ “Der Mann im braunen Anzug” D 1963mit Anne Beddingfeld Colonel Race (1)
• „The Secret of Chimneys“ 1925 / „Die Memoiren des Grafen“ D 1929 mit Anthony Cade Eileen „Bundle“ Brent (1) Superintendent Battle (1)
• „The Murder of Roger Ackroyd“ 1926/ „Alibi“ bzw. „Roger Ackroyd und sein Mörder“ D 1928 mit Poirot (3)
• „The Big Four“ 1927 / „Die großen Vier“ D 1963 mit Poirot (4) Hastings (3) Inspektor Japp (2)

Meine Ausgabe ist vom Scherz Verlag, 11. Auflage 1984 in der Übersetzung von Hans Mehl – es gibt von 2015 eine Neuübersetzung von Giovanni Bandini, Hamburg: Atlantik. Nö, ich kaufe mir dann lieber die Facsimile-Ausgabe.

Hastings ist nach 18 Monaten in Argentinien auf Besuch in Europa – und will den Meisterdetektiv Hercule Poirot überraschen im früheren gemeinsamen Wohnsitz (wir erinnern uns: in „Das fehlende Glied in der Kette“ hatte Hastings seine große Liebe getroffen und mit ihr ausgewandert). Poirot nun hockt auf gepackten Koffern und war gerade drauf und dran, seinerseits Hastings einen Überraschungsbesuch abzustatten – mit einem derart üppig entlohnten Auftrag des US-Millionärs Ryland, dass er selbst eine Seereise nicht ablehnen konnten (für Neulinge: Poirot hat eine Phobie vor der Seekrankheit). Doch plötzlich bemerken die Freunde ein Geräusch in Poirots Schlafzimmer, ein fremder Mann! Bald gibt es die erste Leiche, eine zweite folgt, Poirot und Hastings sind fortan auf einer wilden Jagd nach der Verbrecherorganisation „die Großen Vier“, wobei nicht immer klar ist, wer Jäger ist und wer Gejagter.

Der Roman wartet auf mit einem Hastings undercover, einem hübschen Mädchen mit kastanienbraunem Haar (armer Hastings – er hat da gewisse Neigungen), einem dreifachen Bluff in einem Steinbruch, einem Läufer als Mordwerkzeug, diversen Mordanschlägen, …ziemlich viel. Allerdings fand ich bei meinem Re-Read nach langer Zeit auch diverse Logiklücken und Stolpersteine: was passierte mit der gefesselten und geknebelten Dame im begehbaren Safe in Paris? Hat Poirot sie verhungern lassen – doch sie taucht später wieder auf, wie das? Dazu gibt es etwas viele Personen, die man austauschen kann, weil ihre Verwandten sie lange nicht gesehen haben. Und der nicht wirklich lange verheiratete Hastings, der seine Frau innig liebt, ist nach seiner Ankunft im Juli nach einem Jahr immer noch bei Poirot, obwohl sich so viel dann doch nicht wirklich ereignet beziehungsweise immer mit sehr großen Pausen.

Das hier wurde lange davor geschrieben, aber irgendwie erinnert der Grund-Plot sehr an Blofield bei James Bond. Es gibt keinen üblichen Whodunnit, dafür die große Weltverschwörung mit Mitverantwortung selbst für Trotzki und Lenin und dem Bau irgendeines Radium-Energie-Strahlen-Zerstörungs-Dings, dazu eine geheime Kommandozentrale in einem Berg (ernsthaft, da haben Fleming und die Filmemacher recht viel geklaut, wenn ich das zeitlich richtig einordne). Ja, ich weiß – aber, ernsthaft – bei James Bond hat sich das auch wirklich jeder angesehen – und das hier ist von 1927, also bitte ich um Nachsicht. Wobei, wir haben März 2018, ein Giftanschlag in London, ein Beteiligter ist aus Russland – vielleicht möchte man es sich einfach nicht vorstellen.

Nun ja – KEINE Empfehlung für Christie-Einsteiger, sie scheint es selbst nicht so gemocht zu haben. Wikipedia hilft aus: Der Roman wurde kompiliert aus zwölf zuvor erschienenen Kurzgeschichten. Mrs. Christie brauchte 1926 Geld, weil Mr. Christie erst sehr viel Golf spielte mit seiner Golfpartnerin, dann wohl nur noch mit ihr (diese Ehe hielt dann bis zu seinem Lebensende). Dazu war Agatha Christies Mutter gestorben. Und die Autorin konnte in dieser Situation nicht schreiben – interessanterweise kam der Vorschlag gerade vom Bruder ihres Noch-Mannes, von Campbell Christie, der auch die Einzelgeschichten mit „zusammenformte“. Ich fasse zusammen nach Wikipedia:
Erste Veröffentlichung der Kurzgeschichten
Alle Kurzgeschichten, aus denen The Big Four zusammengestellt ist, wurden zuerst 1924 im The Sketch Magazine mit dem Untertitel The Man who was No. 4 (Der Mann der Nr. 4) wie folgt (ohne Illustrationen) veröffentlicht:
• The Unexpected Guest (Ein unerwarteter Gast): 2. Januar 1924, Ausgabe 1614. Grundlage für Kapitel 1 und 2: - The Unexpected Guest / The Man from the Asylum (Ein unerwarteter Gast / Der Mann aus dem Asyl).
• The Adventure of the Dartmoor Bungalow (Das Abenteuer des Dartmoor Bungalow): 9. Januar 1924, Ausgabe 1615. Grundlage für Kapitel 3 und 4: We hear more about Li Chang Yen / The Importance of a Leg of Mutton (Wir hören mehr über Li Chang Yen / Die Bedeutung der Hammelkeule).
• The Lady on the Stairs (Die Frau auf der Treppe): 16. Januar 1924, Ausgabe 1616. Grundlage für Kapitel 5 und 6: Disappearance of a Scientist / The Woman on the Stairs (Das Verschwinden des Wissenschaftlers / Die Frau auf der Treppe).
• The Radium Thieves (Der Raub des Radiums): 23. Januar 1924, Ausgabe 1617. Grundlage für Kapitel 7 mit demselben Titel.
• In the House of the Enemy (Im Haus des Feindes): 30. Januar 1924, Ausgabe 1618. Grundlage für Kapitel 8 mit demselben Titel.
• The Yellow Jasmine Mystery (Das Geheimnis des gelben Jasmins): 6. Februar 1924, Ausgabe 1619. Grundlage für Kapitel 9 und 10: The Yellow Jasmine Mystery / We investigate at Croftlands (Das Geheimnis des gelben Jasmins / Wir ermitteln auf einem kleinen Bauernhof).
• The Chess Problem (Das Schachproblem): 13. Februar 1924, Ausgabe 1620. Grundlage für Kapitel 11 mit dem leicht veränderten Titel A Chess Problem (Ein Schachproblem).
• The Baited Trap (Eine Falle mit einem Köder): 20. Februar 1924, Ausgabe 1621. Grundlage für Kapitel 12 und 13: The Baited Trap / A Mouse walks in (Eine Falle mit einem Köder / Die Maus tappt hinein).
• The Adventure of the Peroxide Blond (Das Abenteuer der Wasserstoffblondine): 27. Februar 1924, Ausgabe 1622. Sie bildet die Grundlage für Kapitel 14 mit dem leicht veränderten Titel The Peroxide Blond (Die Wasserstoffblondine).
• The Terrible Catastrophe (Eine schreckliche Katastrophe): 5. März 1924, Ausgabe 1623. Sie bildet die Grundlage für Kapitel 15 mit dem gleichen Titel.
• The Dying Chinaman (Der sterbende Chinese): 12. März 1924, Ausgabe 1624. Sie bildet die Grundlage für Kapitel 16 mit dem gleichen Titel.
• The Crag in the Dolomites (Der Kletterfelsen in den Dolomiten): 19. März 1924, Ausgabe 1625. Sie bildet die Grundlage für Kapitel 17 und 18: Number Four wins the trick / In the Felsenlabyrinth (Nummer Vier gewinnt einen Trick / Im Felsenlabyrinth). Diese Geschichte war auch die letzte Poirot Geschichte die Christie für das Sketch Magazine schrieb.


Trivia:
Nicht wichtig für das Verständnis der Handlung, jedoch interessant für die Chronologie ist das Auftauchen zweier Personen im Roman:
Joseph Aarons, Theateragent. Er taucht nach dem Debüt “The Murder on the Links”/ “Mord auf dem Golfplatz” hier zum zweiten Male auf und tritt auch später in Erscheinung – so in der Kurzgeschichte von 1928 “Double Sin”/”Die Doppelsünde”, veröffentlicht in Poirot's Early Cases 1974/Poirots erste Fälle sowie in “The Mystery of the Blue Train 1928 /“Der blaue Express“ D 1930

Vera Rossakoff: Wie Joseph Aarons taucht auch sie in der Kurzgeschichte von 1928 auf “Double Sin”/”Die Doppelsünde”, veröffentlicht in Poirot's Early Cases 1974/Poirots erste Fälle. Mit ihr wird der Vergleich zu Conan Doyle rund: so ist Watson für Sherlock Holmes, was Hastings für Poirot ist, und ebenso ist Vera Rossakoff für Poirot, was Irene Adler für Holmes ist - wir wissen ja, wohin die bösen Mädchen kommen, während die guten nur den Himmel zur Auswahl haben... Vera wird ein drittes und letztes Mal in Erscheinung treten in The Capture of Cerberus (in the Labours of Hercules) Sie benutzt dort wie in diesem Roman das Pseudonym Inez Véroneau.

Man ist viel unterwegs im Buch (weite Reisen sind nicht ungewöhnlich in AC’s Romanen, aber es gibt eher selten so viele – wohl geschuldet der ursprünglichen Veröffentlichungsform als einzelne Kurzgeschichten, ebenso wie die hohe Personenanzahl):
Von Poirots Appartment in London, Farraway Street, 14, fast nach Southampton und zurück, dann irgendwohin in Devon, nahe Dartmoor. Darauf nach Surrey, ins Dorf Chobham, nach Paris, Passy, ins fiktive britische Hatton Chase, dann Market Hanford, Worcestershire, wieder London, dort in Londons Chinatown. Dazu ein Restaurant in Soho, dann nach Belgien. Zwei Schiffsreisen. Dann von London nach Paris und zuletzt ins italienische Südtirol.

Zeitgeist:
Wieder bekommt man bei Schock einen Brandy, bei schwereren Fällen spritzt der Hausarzt Strychnin. Hält der Zug auf freier Strecke, können Passagiere munter herausklettern und die Reise unterbrechen (zweimal). Selbst ein versoffener Ex-Seemann kann sich einen Diener leisten (Whalley), einem des Mordes verdächtigen Chinesen kann die Polizei heidnische Rachgier unterstellen und überhaupt hat der gute Hastings, der hier als Ich-Erzähler der Geschichte fungiert, so seine Vorbehalte, gegenüber Asiaten, Slawen, Künstlern,…

Man merkt die Brüche zwischen den Einzelteilen der Handlung – das geht, wenn dazwischen die Woche bis zu nächsten Ausgabe von Sketch liegt, im Buch wirkt es als seltsam abrupte Handlungsstränge mit extrem vielen Personen. Dazu die reichlich überdrehte Verschwörungsgeschichte – im Film kaufe ich so etwas tatsächlich immer leichter. Dennoch gefällt mir das Konstrukt besser als die „echten“ Kurzgeschichtensammlungen wie „Poirot investigates“/ „Poirot rechnet ab“.

3 1/2 Sterne - ich mag nicht aufrunden.

Veröffentlicht am 18.03.2018

Sisyphos oder von der Unausweichlichkeit des Scheiterns

Skandinavisches Viertel
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Matthias Weber, wir begleiten ihn als Leser durch seine Kindheit bis ins Erwachsenenalter, von Ostberlin durch die Welt zurück nach Ostberlin, in den Kiez seiner Kindheit. Aus dem phantasiebegabten Kind, ...

Matthias Weber, wir begleiten ihn als Leser durch seine Kindheit bis ins Erwachsenenalter, von Ostberlin durch die Welt zurück nach Ostberlin, in den Kiez seiner Kindheit. Aus dem phantasiebegabten Kind, das im skandinavischen Viertel für sich jene Straßen umbenennt, die keine passenden Namen haben, und Grenzer zu verwirren trachtet, wird als Erwachsener ein Makler, der rein in seinem Viertel tätig ist und dort die Wohnungen nicht jedem anvertrauen will. Der Wechsel in den jeweiligen Kapiteln ist gut nachzuvollziehen, dabei wirft die Familiengeschichte lange viele Fragen auf.


Köstlich die Anekdoten zu Beginn, wie der Makler die „Maden“ täuscht und schließlich abblitzen lässt, anderen aber zu ihrem Glück verhilft. Im Gegensatz dazu stehen die Kapitel aus dem Leben des Jungen Matthias, dessen familiärer Hintergrund wohl die Entwicklung seiner Beziehungen bedingt. „Und er spürt wieder diese Erstarrung, die ihn besser schützt als alles andere.“ S. 194 Dazu Einblicke in die Realität der späten DDR, Abiturzulassung, Denkverbote – davon hätte ich mehr gewünscht, zu weit ist das für viele heute entfernt.


Schütteln möchte man die Protagonisten dieses Buches, geradezu anschreien. Sie alle flüchten sich geradewegs in die Unausweichlichkeit des Scheiterns. Jeder hat sein Päckchen zu tragen, seine Defizite, seine Erinnerungen. Hoffnungslos? Nein. Autor Torsten Schulz schreibt das so liebevoll, so voller Verständnis dafür, wie wir uns wohl gelegentlich alle im Wege stehen. Dennoch hatte das Buch für mich einige Längen, gerade in der immer gleichen Wiederholung des Beziehungsschemas (man versteht das schon schneller), war mir der Beginn deutlich lieber als mittlere Teile der Handlung.

3,5 Sterne.

Veröffentlicht am 28.02.2018

Was zu beweisen war

Das Joshua-Profil
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„Dreizehn Leichen, elf vergewaltigte Frauen, sieben Verstümmelungen, ebenso viele Entführungen und zwei an ein Heizungsrohr angekettete Schwestern, die qualvoll verhungern würden, sollte man sie nicht ...

„Dreizehn Leichen, elf vergewaltigte Frauen, sieben Verstümmelungen, ebenso viele Entführungen und zwei an ein Heizungsrohr angekettete Schwestern, die qualvoll verhungern würden, sollte man sie nicht rechtzeitig finden.“ S. 13. Neiiiiiin, kein gestörter Massenmörder, so sieht nur am frühen Nachmittag die Bilanz eines Krimi- und Horrorautors aus. So sieht die Bilanz von Max Rhode aus. Und er ist eigentlich ein ganz lieber, wenn auch nicht sehr erfolgreicher Autor, denn nach seinem Erstlingserfolg „Die Blutschule“ waren seine Folgewerke eher Kassengift. Dafür hat er eine tolle Pflegetochter, die zehnjährige Jola, eine erfolgreiche Ehefrau, Pilotin Kim und…nun ja, Kim. Da gibt es einige Probleme, aber die beiden wollen es versuchen. Also nichts Besonderes. Nur die Angst bei Benzingeruch.

Nichts Besonderes? Max hat einen Bruder, Cosmo, der als verurteilter Pädophiler in einer geschlossenen Anstalt sitzt und zu dem er keinen Kontakt mehr hat. Und dann wird er zu einem Unbekannten Fast-Selbstmörder in ein Krankenhaus gerufen und hört Seltsames: „…Joshua hat sie auserwählt.“ S. 24 Und danach bricht sein Leben zusammen, wie er es kannte. Es beginnt mit seiner geliebten Jola. Aber wäre Max wirklich zu den Taten fähig, die man ihm bald vorwirft?

Hm. Also, ich habe hier und in anderen Foren so einiges an „Fitzek-Bashing“ erlebt, mochte aber einige seiner frühen Bücher sehr. Das hier habe ich in ziemlich kurzer Zeit inhaliert, war aber so nach 150-200 Seiten etwas überfordert: Als Film würde mich die Handlung begeistert haben, so ein reißerischer Action-Kracher à la „Die Hard“, wenn auch nicht ganz so lakonisch, aber als Buch fand ich es teils etwas „zu“. Unfair, ja, aber zu viel, zu das auch noch, zu viele Akteure, Täter, Handlungsstränge. Das dann aber als perfekte Unterhaltungsliteratur mit einem durchaus originellen Grund-Plot. Oder mehreren?

Für Sensible: es wird geprügelt, es wird ge- und erschossen, es wird entführt, es explodiert, es wird angezündet, bedroht, betrogen, Tiere sind Opfer…und, ja, Cosmo ist ein überführter Pädophiler. Damit ist auch DAS Thema immer zumindest im Hintergrund präsent. Mich störte tatsächlich eher, dass die „Guten“ wirklich reichlich Schmerzen, Brüche, blutende Wunden, Faustschläge und so weiter erleiden mussten. Auch hier etwas „zu viel“ für mich. Aber spannend. 3 1/2 Sterne.

Nachsatz: Ich kann ja „Cover-Käufer“ nicht nachvollziehen. Aber dieses hier, mit den Fäden zwischen den Fingern der Hände, wobei die Hände dank Lack plastisch wirken, das hat schon was…Es steht nur "Fitzek" drauf, der Vorname dann nur drinnen, naja. Und dem HC hat man ein Lesebändchen gegönnt!

Folgebuch: folgerichtig wäre Max Rhode (also, eigentlich Herr Fitzek selbst): Die Blutschule
Oder Philip K. Dick: Minority Report

Veröffentlicht am 22.11.2017

Ziemlich kranke Verbrechen

Ich bin der Zorn
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Da verübt ein früherer Verbrecher keine neuen Verbrechen, will sogar dabei helfen, seinesgleichen zu fassen. Einzigartig kann er sich in sie hineinversetzen, was für eine Chance: Inzwischen nutzen Behörden ...

Da verübt ein früherer Verbrecher keine neuen Verbrechen, will sogar dabei helfen, seinesgleichen zu fassen. Einzigartig kann er sich in sie hineinversetzen, was für eine Chance: Inzwischen nutzen Behörden tatsächlich solche „Insider“, siehe Internetkriminalität oder Betrug. Doch warum zögern sie bei Francis Ackerman junior? Er ist wirklich perfekt geeignet zur Bekämpfung von Serienmördern, Gewaltverbrechern, Sadisten, denn das ist auch sein Profil. Er verübt gerade unter anderem deshalb keine neuen Verbrechen, weil er in einem Hochsicherheitsgefängnis einsitzt. Doch seine Stunde wird kommen.

In einem anderen Hochsicherheitsgefängnis fallen plötzlich Schüsse, ein Wärter tötet und flieht. Dazu kommen weitere Handlungsstränge mit einem Täter, der sich Judas nennt, sowie mit einem weiteren namens Demon. Beide sind Meister der Manipulation.

Dieser vierte Band der Shephard-Trilogie strotzt nur so vor Personal, einiges aus den vergangenen Bänden, natürlich die Agenten Marcus Williams, Maggie Carlisle (meistens auch Marcus' Freundin, wenn er es nicht gerade wieder verbockt) und Andrew Garrison, dazu ihr Chef, der "Director" der streng geheimen Shepard-Organisation, sowie der zuständige Attorney General Trevor Fagan und Psychologin Emily. Hinzu kommt eine Vielzahl von Personal von beiden Seiten der Gitter der Gefängnisse beziehungsweise des Rechtssystems; in den bisherigen Büchern war das übersichtlicher. Wie schon in den ersten beiden Bänden (den dritten fand ich da angenehmer) hatte ich wieder das Gefühl, in einem Film gelandet zu sein, sehr actionlastig und Perspektivwechsel genau dann, wann ein Actionfilm einen Szenenwechsel setzen würde, inklusive Product-Placement „Maggie schaute auf ihre Apple Watch.“ S. 318, getoppt noch von den Leistungen der iPhones S. 427 (ich BIN Fan und finde es seltsam, soviel dazu).

Wieder im Gegensatz zum in jeglicher Hinsicht angenehmeren dritten Band gibt es hier auch wieder höchst brutale Slasher-Szenen, wesentlich weniger hingegen, die "nur" psychisch brutal sind (sie wären wirkungsvoller, wenn die Brutalität einmal eine Pause zuließe). Toll ist die Rolle von Ackerman junior, der als einziger professionell wirkt. Genervt haben mich wieder die Anklänge von seltsamer Erblehre-Anhängerschaft, davon, dass es Menschen gebe, die zum Jagen geboren seien (S. 40), sowie eines sehr US-lastigen „Auge-um-Auge“-Verständnisses vom Christentum – bis zur Bergpredigt scheint dort niemand zu lesen. Immerhin ist die allgemeine Selbstjustiz-Neigung einer etwas differenzierteren Betrachtung gewichen, Ackerman sei Dank. Und wieder die Titelübersetzung: „The Judas Game“ wird „Ich bin der Zorn“. Jaaaa, die einheitlich gestalteten Titel und Cover haben etwas (ich liebe die Cover der Serie, wenngleich mir sonst Cover völlig gleich sind), aber ich kann die Originaltitel mit der jeweiligen Handlung zusammenbringen, die deutschen Titel sind nichtssagend. Und irgendwie habe ich im Verlauf der Handlung den Überblick verloren über die diversen Handlungsstränge von Bösen (Gladiator, Taker, Judas, Demon, ULF, …). Somit wieder für mich ein Rückschritt unter das Niveau vom letzten Band 3, aber weit über Band 2. 3,5 Sterne

Veröffentlicht am 19.10.2017

Wer bin ich?

Außer sich
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Die Zwillinge Ali und Anton sind noch Kinder, als sie mit dem Vater zurück fahren, das erste Mal zurück nach Russland, von wo die Familie als jüdische „Kontingentflüchtlinge“ nach Deutschland ausgewandert ...

Die Zwillinge Ali und Anton sind noch Kinder, als sie mit dem Vater zurück fahren, das erste Mal zurück nach Russland, von wo die Familie als jüdische „Kontingentflüchtlinge“ nach Deutschland ausgewandert war, so lässt Sasha Marianna Salzmann ihren Roman mit einem kurzen Prolog beginnen. In den folgenden Kapiteln ist es die Perspektive von Ali, eigentlich Alissa, zuerst im „Heute“ in Istanbul, auf der Suche nach Zwilling Anton, dazwischen eingeblendet der Rückblick auf das Leben der Familie in Russland, das Leben der Eltern Valja und Kostja, der Großeltern, der Urgroßeltern. Zwischendurch wechselt die Perspektive vom auktorialen Erzähler zum Ich-Erzähler aus der Sicht Alis - doch die Autorin weiß noch mit einem weiteren Perspektivwechsel zu überraschen.

Das Buch ist anspruchsvoll, will man als Leser nicht die Spur verlieren zwischen den verschiedenen Handlungszeiten, Personen und Orten, dazu ist der Stil sehr bildhaft, teils wie in Traumsequenzen nebulös, assoziativ. Zum einen gibt es da den Handlungszweig der Familiengeschichte, immer mit der Komponente, was es in der jeweiligen Zeit bedeutete, Jude zu sein, was Bindungen bedeuteten, die Geschlechterrollen, Macht und Gewalt, Emigration, Zugehörigkeit. Nach dem Umzug nach Deutschland spätestens nimmt das Gefühl der Auflösung zu, die Familie gehört nirgends mehr richtig hin. Das setzt sich fort in den Identitäten der Zwillinge, wer ist wer, welche sexuelle Ausrichtung, welche Geschlechterzuordnung gilt.

Die Sprache – nun, da gibt es Bilder, die ich mag, wie über die älteren Männer in der Türkei „…dachte sie daran, dass alle Männer …diese Anzüge trugen, die aussahen, als wären sie in ihnen auf die Welt gekommen, als hätten sie in ihnen geschlafen und getrunken, gevögelt und sich geprügelt, wären damit in die Berge gegangen, um dort zu den Waffen zu greifen.“ S. 29 Das sind Bilder, die ich umsetzen kann. Dazu kommt noch eine teils verschlungen-verschachtelte Sprache, aber dann auch Sätze, Bilder, die für mich eher in den Nebel führen wie die (alb)traumhaften Sequenzen mit den fingergroßen Katzen.

Das Buch lässt mich ähnlich zerrissen zurück wie Ali, einerseits fällt mir immer mehr über das Buch ein, je länger ich darüber nachdenke, ich gehe Schritte zurück, lese nach, vergleiche; mir fällt auf, dass die erste Szene im Buch zweimal erlebt wird. Andererseits sind es mir etwas zu viele Geschichten auf einmal, Familiengeschichte, Russland, Migration, Integration, Identität, Zugehörigkeit, Vorurteile, Türkei, Deutschland. Ideal auf jeden Fall, das Buch in einer Gruppe zu lesen – bei den vielen Fragen, gerade bezüglich Anton, stellte ich mir irgendwann die Frage, die für mich zur Kernfrage des Buches wurde: ist das überhaupt wichtig? Ist es wichtig, ob Ali ein Mann sein will, Frauen liebt, die Männer sein wollen oder wo sie lebt; macht DAS ihre Identität aus? Und wenn es das nicht ist, was dann, was macht unsere Identität aus?

Dankbar war ich für das erste Kapitel in Istanbul, hätte das Buch mit dem zweiten begonnen, in Russland, hätte ich wohl abgebrochen (nicht gleich erschrecken, der Abschnitt ist wirklich nur kurz). Frauen werden verprügelt und vergewaltigt (nein, man ist nicht dabei, es wird als „üblich“ erwähnt, auch einiges andere wird so abgehandelt), von Tierquälerei wird berichtet, Eltern saufen, dazu Judenhass, Abtreibungen als Familienplanung – ich konnte schon „Das kalte Licht der fernen Sterne“ deshalb nicht leiden. Ernsthaft? Bei dem „kalten Licht“ wurde ich damals von anderen als zu verzärtelt oder unwissend tituliert; würde man jedoch über irgendein anderes Land oder eine andere Gruppe derart schreiben, bekäme man als Autor Rassismus, Chauvinismus oder ähnliches unterstellt, also was ist es nun?! Bücher zur Thematik Flüchtlinge sind mir zur Zeit meist zu naiv-optimistisch (mit Ausnahme von „Exit West“), geht es jedoch um Russland, empfinde ich sie geradewegs als das Gegenteil, selbst wenn es auch dort wie hier um Zuwanderung geht (nur zur Klarstellung; es geht nicht um persönliche Betroffenheit).

Das mag jetzt wenig politisch-korrekt sein, aber ich habe so eine Aversion gegen gehypte Themen, hier nervt mich diese Gender-Fixiertheit. Das Thema begann mal als erweiterte Feminismus-Debatte, dann ging es um den Kampf gegen Homophobie, alles noch Themen, die ich wichtig fand und denen ich folgen konnte, doch dann folgte eine immer neue Begrifflichkeit, eine immer stärkere Ausweitung von Begrifflichkeiten, transgender, genderfluid…. Bei mir stellen sich da Igel-Stacheln auf, ähnlich wie bei „Flexitarier“, Begriffe, die unbedingt irgend ein Fluidum greifen wollen, unbedingt nicht verletzen wollen, aber mir zu inhaltsbefreit sind im Versuch, jeglichen Inhalt zu begreifen. Lasst die Leute doch einfach leben. Ja, ich weiß, DAS genau ist das Problem, aber mit überfrachteten Anglizismen wird das kaum besser. Oder kann sich jemand einen, konkret, Schwulenhasser vorstellen, der dieses Buch zuende bringt?

Im Fazit komme ich am besten mit dem Buch klar, wenn ich es aus dem Blickwinkel sehe, dass es zwar Salzmanns Romandebüt ist, sie jedoch eine renommierte Bühnenautorin ist: ich nehme es am „griffigsten“ wahr in seinen Szenen und Bildern, die mir präsentiert werden, sehr „modernes Theater“, nicht auf „Gefälligkeit“ gepolt. Das hat für mich 5-Sterne-Anteile hinsichtlich toller Sprachbilder, eines noch nicht so abgearbeiteten Sujets wie dem, Identitätssuche über verschiedene Ebenen durchzuziehen, aber auch 2 bis 3-Sterne-Anteile, wie der Verzettelung über mir zu viele Themen (statt weniger starker), der nach meiner Meinung teils unbedingt provozieren-wollenden sprachlichen Obszönitäten (ist der Leser cool genug??) und des mir teils zu gewollten Melodramas, nicht nur Frau auf der Suche nach ihrem anderen Ich, nein, sie liebt eine Frau, nein, die möchte lieber ein Mann sein, nein, sie auch.

Ich gebe sehr wohlwollende 3,5 Sterne, fragt‘ mich vor 5 Stunden oder in 5 Tagen, es wird jede Wertung zwischen 2 und 5 Sternen möglich sein. Bemerkenswert. Beim Folge-Buch hätte ich’s gern weniger um sich selbst kreisend, weniger dem Hype huldigend. Das ist ein Buch, das man sehr intensiv lesen kann, in der Zeit auch mehrfach – aber weniger eines, das ich in einem Jahr wieder lesen würde.