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Veröffentlicht am 15.09.2016

Der letzte Engel

Der letzte Engel
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"Das Leben ist manchmal voller Zufälle, das Leben ist manchmal voller Absichten." (Seite 371)

Kannst du dir das vorstellen? Du denkst an nichts Böses, und dann bekommst du eine E-Mail, in der steht, dass ...

"Das Leben ist manchmal voller Zufälle, das Leben ist manchmal voller Absichten." (Seite 371)

Kannst du dir das vorstellen? Du denkst an nichts Böses, und dann bekommst du eine E-Mail, in der steht, dass du am nächsten Tag tot bist. Du glaubst, einer erlaubt sich einen Scherz mit dir und lachst, als du dich am nächsten Morgen noch lebendig fühlst. Und doch musst du begreifen, oder zumindest es versuchen, dass MOTTE, der du bisher warst, tatsächlich tot im Bett liegt und nicht mehr atmet. Und dass dir auf deinem Rücken Flügel wachsen.

Da vergeht dir echt das Lachen, und Verwirrung macht sich in dir breit. Denn deine Zukunft sieht nicht rosig aus: Du wirfst keinen Schatten, dein Herz schlägt nicht, und am nächsten Pinkelwettbewerb darfst du nicht teilnehmen, weil dir das Werkzeug fehlt. Da ist es ein schwacher Trost, dass dich dein bester Freund Lars sehen kann. Denn dein Vater kann es nicht.

Jetzt bist du DER LETZTE ENGEL.

Und es ist der Anfang von etwas Neuem.
Oder das Ende?
Oder das Mittendrin?
Jedenfalls ist es ein Hin und Her.
Eine Irrfahrt. Für dich. Für den Leser.
Zwischen die Zeiten.
Zwischen die Welten.
Zwischen die Interessen.

In ein Haus nach Irland, in dem acht Mädchen und ihre Gouvernanten gemeuchelt werden. Es gibt nur eine einzige Überlebende: MONA, die Erinnerungen der Person abrufen kann, die sie berührt. Und sich einen weiteren ENGEL damit an Land zieht: ESKO. Das ist der, der später die E-Mail schreibt. Aber das nur am Rande. Verantwortlich für das Massaker zeichnet LAZAR, ein Söldner, der aussieht wie Christopher Walken, ein schwer bis gar nicht zu durchschauender Typ.

Der Leser lernt viele weitere Protagonisten kennen, unter anderem zwei Gräfinnen, die Brüder Grimm und den Zaren in Sankt Petersburg. In einem Moment ist es 1815, dann wieder heute, und erneut wandert der Leser in die Vergangenheit. Fliegende Wechsel allenthalben. Daneben abstruse Experimente, viele sterbende Jungen, die meisten davon tun dies nicht freiwillig, eine Bruderschaft, die (sogenannte) Familie, über deren Zweck und Ziele der Leser wenig Klarheit erhält. Gleichzeitig lässt sich die Frage nach Gut oder Böse nicht beantworten. Eine ständige Ungewissheit liegt über dem Geschehen.

Die vielen unerwarteten Zeitsprünge und Positionswechsel und die Informationsdichte verlangen hohe Aufmerksamkeit vom Leser. Gekonnt werden nicht nur Zeitepochen und Schauplätze und Zeitformen, sondern auch das biblische ENGELsmotiv mit fantastischen Fäden verwoben. Denn Zoran Drvenkar greift die Thematik der Existenz von ENGELN auf eine besondere Weise auf. Seine ENGEL sind männlich, gleichwohl (im wahrsten Sinne des Wortes) geschlechtslos.

So erscheint die Geschichte des letzten ENGELS zwar äußerst komplex und unübersichtlich. Trotzdem reizen die zügigen Wechsel den Leser zum Weiterlesen, bannen ihn ans Buch und lassen ihn hoffen, einen angefangenen Faden verfolgen zu können. Allerdings hält er oft ein loses Ende in der Hand, so dass sich der Sinn (noch) nicht begreifen lässt.

Dadurch bleibt die Charakterisierung der Figuren manchmal etwas auf der Strecke, der Leser entwickelt zum Teil nur andeutungsweise Sympathie und Ablehnung.

Mit MOTTE trifft der Leser auf einen Jungen einnehmenden Wesens, mit dem er sich identifizieren kann, weil er vielleicht ein wenig träge, aber trotzdem mit seiner Zuversicht versehen ist, dass er alles packen wird, was auf ihn zukommt. Ihm zur Seite steht Lars, sein bester Freund, nicht der Mutigste, der erst wegrennt, den aber danach sein Ego schüttelt und fragt, ob er denn vollkommen ohne Ehre und Würde wäre. Das ist er natürlich nicht. Und auch Rike muss erwähnt werden, das Mädchen, bei dem Motte von Liebe spricht, und die es wert ist.

Äußerst geschickt positioniert der Autor historische Personen in der Geschichte und haucht diesen gleich den fiktiven Figuren Leben ein, spielt mit dem ihm dadurch gegebenen Möglichkeiten.

Zoran Drvenkars Erzähltempo ist durchaus rasant und anspruchsvoll, dürfte den jugendlichen Leser jedoch nicht überfordern. Wer sich darauf einlässt, den erwartet ein mitreißendes Abenteuer, dessen offenes Ende und ungelösten Fragen zugegebenermaßen einerseits nicht befriedigt, andererseits jedoch zum Lesen der Fortsetzung verlockt.

"Sucht den Schlüssel, der das Tor zu den Engeln öffnet. Und suchen müsst ihr, denn der Schlüssel ist verborgen im Kern des Lebens, verborgen tief in den Gebeinen. Denn wie das Wasser die Erde erweckt, werden es vier Engel sein, die uns erwecken." (Seite 212)

Veröffentlicht am 15.09.2016

Marked. Ein teuflische Liebe

Marked - Eine teuflische Liebe
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Lucinda de Salle, genannt Lucky ist 28, hat keine Familie und bis auf eine Ausnahme auch keine Freunde. Auf Grund ihrer Fähigkeit, Geister zu sehen, gilt sie als sonderbar und fühlt sich von der Gemeinschaft ...

Lucinda de Salle, genannt Lucky ist 28, hat keine Familie und bis auf eine Ausnahme auch keine Freunde. Auf Grund ihrer Fähigkeit, Geister zu sehen, gilt sie als sonderbar und fühlt sich von der Gemeinschaft ausgeschlossen und von vielen schikaniert. Andererseits wird sie immer dann gerufen, wenn irgendwo unerklärliche Dinge geschehen, als deren Ursache Geister verdächtigt werden.

Nach allem ist es nicht verwunderlich, dass Luckys einzige Freundin Kayla ein Geist ist. Sie kennt Kayla schon ihr ganzes Leben und vertraut ihr. Doch Kayla hat ein Geheimnis, und es offenbart sich, dass sie nicht die ist, für die Lucky sie bislang gehalten hat.

Als in Luckys Schule nämlich wieder einmal Geister auftauchen, soll Lucky dafür sorgen, dass diese Ruhe geben. Die Geister wären ein kleines Problem im Gegensatz zu dem, was Lucky tatsächlich erwartet: Henri le Dent, seines Zeichens ein Dämon aus der Anderwelt, eine völlig andere Erscheinung, massiver, realer, gefährlicher, furchteinflößend' und mit einer Botschaft für Kayla.

Mit der Ruhe in Luckys Leben ist es nun vorbei. Und das nicht nur, weil im Anschluss daran weitere Personen aufkreuzen, die ihre Hilfe zu benötigen scheinen...

Letzten Endes gerät Lucky in das außergewöhnlichste Abenteuer ihres Lebens, in dem alles über den Haufen geworfen wird, woran sie bisher glaubte. Niemand ist der, der er vorgibt zu sein. Niemand.

Mit einmal wird Lucky hineingezogen in politischen Machtkämpfe der Unterwelt um den Königsthron. Sie sieht erschreckende und wunderbare Dinge, die sie sich niemals vorstellen konnte, und sie entdeckt auf ihrem Weg nicht nur ihre eigenen Fähigkeiten, auch wenn sie parallel dazu immer wieder versucht, wieder nach Hause in die Oberwelt zu gelangen.

Dabei unterscheidet sich die Unterwelt in gewisser Weise nicht von Luckys Welt und übt eine gewisse Faszination aus. Während in der einen Welt die Menschen nach Reichtum und Macht gieren, existieren in der anderen ebenso oberflächliche Dämonen. Aber auch welche anderen Kalibers, gefährlicher und bedrohlicher. Darum braucht Lucky eine 'Schutztruppe', um in der Unterwelt bestehen zu können. Neben Mr. Kerfuffle und Mr. Shenanigans findet sich Lucky zwischen zwei weiteren außerordentlich unterschiedlichen Dämonen wieder: dem charismatischen Todbringer Jinx und dem Wächter Jamie. Komplettiert wird die Mannschaft von Pyrites, dem Drachen, der seine Größe den Umständen anpassen kann...

Die interessante Geschichte, die ein fantastisches, gleichwohl kluges Konstrukt der Unterwelt entwirft, in der es genauso wie bei den menschlichen Kämpfen um Macht und Einfluss geht, weist einen frischen und anschaulichen Schreibstil auf. Sie nimmt langsam Fahrt auf, steigert sich und variiert im Verlauf der Handlung im Tempo. Lucky erzählt selbst, weswegen der Leser stets nah dran an ihren Eindrücken und Gefühlen ist. So gibt es neben unterhaltsamen, amüsanten auch dramatische Szenen sowie durchaus ein paar dämonisch schauerliche Momente.

Sue Tingey hat zum großen Teil bemerkenswerte und überzeugende Charaktere geschaffen.

Da ist zunächst Lucky, sympathisch, gutherzig, wenn auch etwas verrückt. Sie ist es gewohnt, dass sie einst als komisches Kind und durchgeknallter Teenager galt und ihr nun als Frau immer noch das Siegel 'seltsam' anhaftet. Hierbei bewahrt sie sich ihren wunderbar trockenen Humor ("Männer waren wie Busse in meinem Leben: monatelang kam keiner, dann drei auf einmal...' Seite 66) und vermittelt den Eindruck, mit ihrem Leben zufrieden zu sein. Trotz aller Seltsamkeit kommt sie gut damit zurecht. Deshalb gefällt es ihr gar nicht, dass alles bizarr und durcheinander gewirbelt wird und sie in Gefahr gerät. Und es zeigt sich, dass ihre Freundin Kayla daran nicht ganz unschuldig ist. Obwohl die Zuneigung zwischen ihnen ein festes Band knüpft, steht ihre Freundschaft unerwarteterweise auf den Prüfstand, und mit Lucky gerät der Leser das eine oder andere Mal in Zwiespalt.

Denn wenngleich sie bislang stets vom Gegenteil ausging, sieht es jetzt so aus, als ob sie tatsächlich Schutz bedarf. Allerdings können sich ihre Leibwächter wahrlich sehen lassen. Besonders Jinx und Jamie fallen auf, stellen sie doch zwei Seiten einer Münze dar, gegensätzlich und trotzdem eins: Jinx sieht aus wie der Teufel, mit Hörnern und ein Schwanz erweckt er das Bild des Bösen, Jamie dagegen trägt Flügel, und der Gedanke an einen Engel liegt nicht fern. Beide gehören zu den mächtigsten Dämonen ihrer Welt und besitzen das Recht, sich in das Leben anderer einzumischen.

Auf den ersten Blick bietet sich natürlich Jamie eher für eine Romanze mit Lucky an. Jedoch ist Jinx sehr direkt, was sein Interesse an Lucky betrifft. Außerdem haben beide Dämonen der jungen Frau ihr Zeichen aufgedrückt, sie "markiert". Die Dreiecksbeziehung bleibt in 'Eine teuflische Liebe' erfreulicherweise dezent und wird nicht in den Vordergrund gerückt, verspricht so auch in den Folgebänden der Triologie kurzweilig zu werden.

Insgesamt bietet sich eine atmosphärische Geschichte mit hohem Unterhaltungswert, die einen das weitere Geschehen mit Vergnügen erwarten lässt.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Die Tochter des Medicus

Die Tochter des Medicus
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Im Jahr 2013 erbt Gideon von seinem verstorbenen jüdischen Großvater, zu dem er seit Jahren keinen Kontakt mehr hatte, weil er entgegen der Familientradition nicht Arzt, sondern Buchhalter und Controller ...

Im Jahr 2013 erbt Gideon von seinem verstorbenen jüdischen Großvater, zu dem er seit Jahren keinen Kontakt mehr hatte, weil er entgegen der Familientradition nicht Arzt, sondern Buchhalter und Controller geworden und seinen eigenen Weg gegangen ist, neben dessen Haus in Regensburg einen alten Holzkoffer. Den Koffer wider das Vergessen. Mit dem Inhalt dokumentiert Gideons Familie seit Jahrhunderten ihr Leben, ihr Wirken und ihre Traditionen und findet darin Trost und Halt. Nun ist es an Gideon, den Koffer sicher aufzubewahren, ihn mit Achtung zu behandeln und irgendwann selbst Zeugnis über sich abzugeben, indem er etwas, das ihm viel bedeutet, für seine eigenen Nachfahren in den Koffer legt.

Unter den Erinnerungsstücken entdeckt Gideon ein Tagebuch, das er nicht lesen kann, weil er kein Hebräisch beherrscht. Mit Hilfe der Studentin Paula gelingt es ihm jedoch, die Geschichte seiner Vorfahrin Alisah zu ergründen. Das Schicksal der jungen Frau lässt ihn auch sein eigenen Leben überdenken...

1519 werden die Juden in Regensburg gezwungen, innerhalb weniger Tage die Stadt zu verlassen, ihr gesamtes Wohnviertel und ihre Synagoge zerstört. Im Zuge dieses Pogroms wird der jüdische Arzt Daniel Friedmann ermordet. Infolgedessen erleidet seine Tochter Alisah, die ihrem Vater bei der Behandlung seiner Patienten sonst hilfreich zur Seite steht, ein Trauma und verliert ihre Stimme. Als einzige Überlebende der Familie findet sie Zuflucht in Frankfurt und versucht, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten. Allerdings ist ihr der Beruf des Mediziners eigentlich verwehrt, weil es Frauen verboten ist, zu studieren. Nur wenn Alisah ein doctor medicinae in Heilkunde unterweisen würde, wäre es ihr gestattet, als Chirurgin oder Hebamme zu arbeiten. Und so verfolgt Alisah zielstrebig ihren Traum...

Die Geschichte der "Tochter des Medicus" auf zwei Zeitebenen, die gelungen miteinander verknüpft werden, weist eine detaillierte und fundierte Recherche auf. Die Autoren Iris Klockmann und Peter Hoeft, die unter dem Pseudonym Gerit Bertram schreiben, haben nicht nur den historischen Hintergrund ausführlich dargestellt, sondern machen den Leser auch in umfassender Weise mit dem jüdischen Glauben und Leben und der Kultur vertraut. Das ist interessant und wissenserweiternd. Im Übrigen tragen ein ausführliches Glossar und Nachwort ebenfalls hierzu bei.

Der Erzählton zeigt sich in der Regel unaufgeregt, ruhig und entschleunigt, doch sehr einfühlsam. Dies vermittelt ein angenehmes Lesegefühl, das das nahe Erleben des Geschehens möglich macht.

Die Protagonisten fügen sich gut in das Geschehen ein, sind mit erkennbarem Engagement charakterisiert worden und durchlaufen im Verlauf der Handlung eine nachvollziehbare Entwicklung.

Die in der Vergangenheit im Mittelpunkt stehende Alisah zeichnet sich durch Herzenswärme aus, sie ist geistvoll und klug. Nach dem Tod und dem Verlust der Stimme verlässt sie den ihr vorbestimmten Lebensweg, da sie begierig ist, zu lernen und zu helfen. Ein Leben daheim, wie es die vorgeschriebenen Gesetze seit jeher verlangen, ist ihr nicht genug. Sie möchte stattdessen auf den Spuren jüdischer Ärztinnen wie Rebekka in Salerno, Floreta und Ceti, die sogar im Dienst spanischer Königinnen standen, folgen. Sie eignet sich medizinische Fähigkeiten an und beeindruckt durch ihre Art und Weise, Menschen kenntnisreich und beherzt zu behandeln.

Gideon in der Gegenwart ist temperamentvoller Italiener, nicht besonders fromm, weshalb er gut wie nie die Synagoge besucht. Anfangs schenkt Gideon seinen jüdischen Wurzeln wenig Beachtung. Einst hatte er sich gegen die Familientradition für einen anderen Beruf entschieden. Im Laufe der Zeit ist er aber auch mit diesem nicht glücklich, ihm fehlt das Gefühl von Erfüllung und das sichere Wahrnehmen, die richtige Position gefunden zu haben. Zudem hat er viele Jahre an einem Ort gelebt, der nie zu einem Zuhause wurde. Während er Alisahs Geschichte erfährt, verändert er sich, verliert seine Lässigkeit, verspürt zunächst Trauer und legt eine Verletzlichkeit an den Tag, die den Leser für ihn einnimmt und freut, an seinem Wachsen und seiner Selbstfindung teilzuhaben.

Alles erzählt "Die Tochter des Medicus" von Gerit Bertram vom Schicksal der Menschen an Wendepunkten ihres Lebens und eröffnet dem Leser dadurch nicht nur die Möglichkeit, sich mit jüdischem Glauben und der Kultur vertraut zu machen, sondern bietet ebenso einen Blick auf die medizinischen Gegebenheiten im Mittelalter.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Symbiose

Nahtod
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Als der Architekt und Kunstmäzen Oscar Furtner im Schlaf stirbt, gehen alle von einem natürlichen Tod durch Herzversagen aus. Doch kurze Zeit später stürzt seine Frau, die bekannte Schriftstellerin Nora ...

Als der Architekt und Kunstmäzen Oscar Furtner im Schlaf stirbt, gehen alle von einem natürlichen Tod durch Herzversagen aus. Doch kurze Zeit später stürzt seine Frau, die bekannte Schriftstellerin Nora Furtner, die Kellertreppe herunter und rückt den Tod ihres Mannes in ein anderes Licht. Untersuchungen ergeben, dass er mit einem Mittel, das bei totkranken Tieren Verwendung findet, regelrecht eingeschläfert wurde, was wiederum auf eine mögliche Beteiligung des Tierarztes Dr. Gustav Lemberger hindeutet oder hindeuten soll.

Chefinspektor Viktor Grimm und sein Freund, der ehemalige Journalist Christian Wolf, haben zunächst zwei Morde zu lösen. Dabei wird es jedoch nicht bleiben...

Mit „Nahtod“ kehrt J. J. Preyer zurück nach Steyr, jener Stadt in Oberösterreich, die bereits in „Mörderseele“ und „Hassmord“ Schauplatz zahlreicher Verbrechen wurde.

Abermalig vermag es der Autor, dem Leser ein umfassendes und illustratives Bild der örtlichen Gegebenheiten zu vermitteln, in dem er zahlreiche Schauplätze mit realen Vorbildern vor Ort und in der nahen Umgebung verwendet, die Einheimische und Kenner der Region wahrscheinlich auf den ersten Blick erkennen werden.

Preyer weiß erneut mit seinem ruhigen Schreibstil zu unterhalten. Die psychologische Geschichte lebt von vielen Gesprächen, durch die der Autor intensiv das komplexe Seelenleben seiner Protagonisten, insbesondere das Verhältnis zwischen Opfern und Täter auslotet, Tiefen ergründet.

Wie auch schon in den vorhergehenden Bänden der Reihe, steht neben der Ermittlung in den Mordfällen, die lebenslange Freundschaft von Christian Wolf und Viktor Grimm im Mittelpunkt. Noch immer kann diese sich auf ein stabiles Fundament stützten, ist allerdings etwas abgekühlt, seit sich Grimm mehr oder weniger offiziell zu seiner Homosexualität bekannt hat und eine Beziehung mit dem Psychotherapeut David Gründler führt.

"... Es ist einerseits möglich, dass Liebe blind macht, dass man lange Zeit etwas nicht wahrhaben möchte, weil man den Menschen, von dem Böses ausgeht, liebt..." (Seite 252)

David erscheint Wolf mehr als Alter Ego seines Freundes Grimm. Der Psychotherapeut ist wie jener korpulent, lächelt oft und umständlich und ist scheinbar zu keiner Aggression fähig, jedoch mit einem gefährlichen Glitzern in den Augen, sobald ihm etwas zuwiderläuft. Es ist offensichtlich, dass sich Grimm und Gründler sich in das jeweilige Spiegelbild verliebt haben und nun eine symbiotische Partnerschaft bilden.

Und genau durch die Beziehung zu David gerät Viktor in Zwiespalt. Einerseits ist er David zugetan, weil er so außergewöhnlich ist und sich scheinbar keine Schranken setzt, keine Grenzen kennt. Andererseits erwartet er Ehrlichkeit, und ist enttäuscht, als dieser wegen der Behandlung von Dominik, dem Sohn der ermordeten Furtners, vor Lügen nicht Halt macht und nicht nur deswegen verschlossen reagiert. Letzten Endes führt genau dies dazu, dass der Psychotherapeut selbst in Verdacht gerät, etwas mit den Morden zu tun zu haben.

„Der Kapitän muss das Schiff steuern, damit nicht die Ratten das Kommando übernehmen." (Seite 149)

Grimm zieht die Reißleine und sich selbst zurück. Er hadert mit sich und fällt in ein tiefes Loch. Eigentlich will er für immer Ruhe haben, aber vor den mit dem Sterben verbundenen Anstrengungen – Angst und Schmerz – schreckt er zurück, und er schiebt es auf. Er wird sich bewusst, dass er – dem eigentlich nur die Begegnung mit Menschen genügt, die Betrachtung der Natur und das Sammeln von Eindrücken und Gegenständen, den falschen Beruf gewählt hat, er nicht die Wahrheit finden und keine Fälle lösen will.

Und so überlässt er Wolf die Ermittlungen. Diesem wiederum liegt das Sammeln von Details nicht, er findet die Beschäftigung damit ermüdend. Deshalb bedauert er, dass Grimm verschwunden ist und diesen Teil der Ermittlungen nicht wie üblich übernommen hat. Bislang hatten die zwei eine Arbeitsteilung. Grimm versorgte Wolf unermüdlich und mit innerer Ruhe gegen unvorhergesehene Entwicklungen gewappnet mit einer Vielzahl an Beobachtungen und Erkenntnissen, und Wolf sichtete und ordnete diese.

Um nicht zu scheitern, unternimmt er alles, um Grimm zurück an den Platz zu bringen, an den er gehört. Bis dahin bekommt er dieses Mal unter anderem auch Hilfe von Grimms Sekretärin, Yvonne Beranek, die beispielsweise Gelegenheit hat, ihre (verdeckten) Ermittlerfähigkeiten in einem Swingerclub unter Beweis zu stellen.

In diesem Zusammenhang sei ein Manko des Romans erwähnt: Es wird ständig getrunken, zu jeder Gelegenheit und bei jedem Treffen. Nicht nur Frau Beranek benötigt immer einen Tropfen Alkohol, damit sich ihre Zunge löst. Es zieht sich wie ein roter (Rotwein)Faden durch die Handlung und stößt beim Lesen leider negativ auf.

"Ich glaube an das, was ist, und sehe, dass es nirgendwo nur Gutes oder nur Schlechtes gibt. Es gibt nicht die absolute Helligkeit oder das absolut Finstere, nur Übergänge zwischen den fiktiven Extremen." (Seite 243)

Wolf fällt es schwer, in diesem Fall klar zu sehen. Immer wieder steht er wie vor einer Wand, die er mit dem Kopf nicht einrennen kann. Stattdessen muss er ein paar Schritte zurücktreten, um nach einer Tür zu suchen, die ihn der Lösung des Falles näher bringt. Denn neben der Aufklärung des mörderischen Geschehens beschäftigt Wolf noch etwas anderes:

Als er Maria Schadend der Schwester der toten Nora Furtner, begegnet, ist ihm die große, beinahe priesterlich wirkende Frau, deren ruhiger Blick Intelligenz und menschliche Tiefe verrät, sofort sympathisch. Sie hat eine starke Wirkung auf ihn und verwirrt ihn gleichzeitig. Ihr Lächeln macht ihn unruhig, und er ist im Begriff, sich in sie zu verlieben, weil sie ihm ein Gefühl von Heimat vermittelt und bei ihr an ein Ziel zu gelangen scheint, das er sich nicht mehr vorstellen konnte.

So sind letzten Endes auch Wolf und Grimm gezwungen, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, welche Bedeutung eine Beziehung in ihrem Leben zukommt, wie symbiotisch diese sein darf, und welche Gefahren von zu viel Nähe ausgehen kann. J. J. Preyer gelingt diesbezüglich eine glaubhafte und nachhaltige Darstellung.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Der Schlüssel für die Vergangenheit

Mörderseele
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Bei einer Explosion eines Mehrfamilienhauses im oberösterreichischen Steyr werden zehn Frauen und Männer erdrückt, erstickt und verbrannt. Unter ihnen befinden sich der Taxifahrer Mario Heuberger und seine ...

Bei einer Explosion eines Mehrfamilienhauses im oberösterreichischen Steyr werden zehn Frauen und Männer erdrückt, erstickt und verbrannt. Unter ihnen befinden sich der Taxifahrer Mario Heuberger und seine Frau Gerlinde. Obwohl Heuberger kurz zuvor auf der Suche nach einer ganz bestimmten Person das Haus umrundet hatte, konnte er das Unglück nicht mehr verhindert.

Noch zwei Kilometer entfernt ist die Erschütterung zu spüren, so dass auch Christian Wolf, seines Zeichens Journalist, davon etwas mitbekommt und auf das Geschehen aufmerksam wird.

Hat der junge Peter Reich vielleicht etwas mit der Detonation zu tun? Er ist psychisch krank, leidet am Savant-Syndrom und hatte zuvor eine Zahlenreihe an die Wand des betroffenen Hauses gesprüht und dieses Vorgehen später an anderer Stelle wiederholt. Sind diese Ziffern eventuell ein Schlüssel zur Identität des Täters?

Dieser scheint sein Ziel jedoch nicht erreicht zu haben, denn es gibt weitere Tote: eine Frau verstirbt an einem vermeintlichen Insektenstich, eine andere Frau wird Opfer eines Brandanschlags, zudem nimmt sich Wolfs Hausarzt Dr. Schuller ganz unerwartet das Leben. Aber noch immer sind es nicht die letzten Toten...

J. J. Preyer legt mit „Mörderseele“ einen „musikalisch-literarischen Psychothriller“ vor, der in seiner Heimatstadt angesiedelt ist. Von Anfang an wird deutlich, dass sich der Autor in Steyr bestens auskennt. Seine detaillierten Beschreibungen machen es dem Leser möglich, sich die Örtlichkeiten vorzustellen und den Wegen der Protagonisten zu folgen.

Preyer hat einen bedächtigen und entschleunigten Erzählstil. Zwar explodiert es gleich zu Beginn gewaltig und mehrere Tote folgen im weiteren Verlauf der Handlung. Doch verlässt der Autor nicht den eingeschlagenen Weg, baut verhalten und behutsam Spannung auf und legt vor allem Augenmerk auf die Gestaltung und das (Seelen)Leben seiner Figuren. Er bietet dem Leser nicht nur Einblicke in die Gedankenwelt von Christian Wolf, sondern außerdem in die des Täters. Warum er allerdings TÄTER und FALL immer in Großbuchstaben schreibt, erschließt sich nicht in Gänze. Es ist nur zu vermuten, dass dies eine besondere Bedeutung für Wolf darstellen soll. Denn den Journalisten Christian Wolf rückt der Autor in den Mittelpunkt der Geschichte und schildert ausführlich dessen Überlegungen und Empfindungen.

Der 58-Jährige folgt einem hohen Berufsethos: Danach muss man zwar wissen, wie man an Informationen herankommt, muss diese dann wie ein Arzt seine Patienten sorgfältig behandelt. Er steht kurz vor seiner (ungewollten) Pensionierung, ein potentieller Nachfolger wurde ihm bereits an die Seite gestellt. Es fällt auf, dass Wolf – wenn er sich einmal eine Meinung über einen Menschen gebildet hat – nur schwer von dieser abrücken kann. So ist Joachim Waidinger für ihn anfänglich der Typ „smarter“ Journalist, zwar gutaussehend, aber wendig und mit zwei großen Fehlern ausgestattet: Er hat keinen Charakter, und er leidet an einer Art Hautkrankheit, kratzt er sich doch ständig an seinen entzündeten Unterarmen und Handrücken. Wolf kann Waidinger gar nicht leiden, und als er miterlebt, wie dieser Kontakte zu seiner Tochter Lotte knüpft, ist es für ihn wahrscheinlich auch ein Grund dafür, ihn in den Kreis der Tatverdächtigen aufzunehmen und über die Vorgeschichte seines Kollegen zu recherchieren.

„Der Schlüssel zu allem liegt in der Vergangenheit.“ (Seite 111)

Nicht nur mit der Tatsache, beruflich aufs Abstellgleis geschoben zu werden, hat Wolf zu kämpfen. Ihn plagen zudem private Probleme: Vor zwei Jahren verschwand sein Vater spurlos, seine Mutter – eine bekannte Schriftstellerin – starb ein halbes Jahr später. Nun findet Wolf unter ihren Werken ein bislang unveröffentlichtes Manuskript. Beim Lesen stellt Wolf fest, dass dieses autobiografische Szenen aus seiner Kindheit und seinem Leben enthält. Er begreift, dass sich alles veränderte, als sein Bruder Klaus geboren wurde. Nicht nur seine Eltern hatten von diesem Tag an Schwierigkeiten im Umgang miteinander. Auch die Beziehung der Brüder ist bis in die Gegenwart problematisch, Wolf selbst stört die bloße Existenz von Klaus.

Nun drängt sich mit Macht die Vergangenheit in sein Leben, und Wolf will unter anderem endlich herausfinden, was mit seinem verschwundenen Vater geschah.

"Zwillinge im Geiste" (Seite 155)

Wirklich wichtig ist Wolf die seit den Kindertagen bestehende Freundschaft zu Viktor Grimm, der bei der Steyrer Polizei arbeitet.

Die beiden unterscheidet einiges. Grimm scheint kein Mann für Frauen zu sein, sein Freund hat ihn jedenfalls noch nie in weiblicher Begleitung gesehen.

Wolf ist Witwer und pflegt eine lockere Beziehung zu Lena Konrad, einer Freundin von Wolfs verstorbener Frau, mit der er sich wöchentlich trifft, für die er jedoch keine tieferen Gefühle entwickelt, weil sie im Grunde nicht zusammenpassen. Und hier findet sich endlich das musikalische Element des Romans. Lena spielt Cello und verwendet einen sogenannten „Wolfstöter“ als Dämpfer, um unerwünschte Töne, die Wolfstöne, zu unterdrücken, wenn sie mit ihrem Instrument Stücke spielt, die eigentlich für das Arpeggione (eine Mischung aus Gitarre und Streichinstrument) geschrieben wurden.

Chefinspektor Grimm hat ein Desorganisationsproblem und hortet – in seinem Haus in der Regel unbrauchbares – Material. Wolf hat von seinem Vater dagegen gelernt, dass Ordnung hilft, im Chaos des Lebens zu bestehen. Ein Grund für Grimm, ihn immer wieder um Mithilfe bei der Lösung von Fällen zu bitten. Denn Grimm sammelt nicht nur Müll in seinem vier Wänden, sondern auch Informationen, die ihn irgendwann überwältigen, so dass er nicht mehr zwischen Wichtig und Unwichtig unterscheiden kann. Dafür benötigt er seinen Freund Wolf. Von Vorteil ist außerdem, dass Wolf, wenn er einmal eine Spur aufgenommen hat, nicht lockerlässt. Schlussendlich bilden die beiden so ein hervorragendes Team bei der Aufklärung von Fällen.

Obwohl sich die beiden also gar nicht ähnlich sind, weder im Aussehen noch im Wesen, wirken sie wie Zwillingsbrüder, die einander ergänzen. Hier hat der Autor den Zusammenhalt seiner Protagonisten auch namentlich manifestiert: Wolf und (Ise)Grim(m).

"Wenn man meint, jemanden zu durchschauen, schaut man tatsächlich durch ihn hindurch." (Seite 182)

Wolf dringt immer tiefer in den Fall ein. Er verdächtigt viele Personen, bis er sich ziemlich klar ist, wer der Täter ist, weil er ihn bis in den Kern seiner Persönlichkeit zu kennen glaubt, ihm nahe ist. Dem Leser ist es dank seiner zum Teil philosophischen Überlegungen, die manchmal unnötig in die Tiefe gehen, und mit Hilfe der Gedankensplitter des Täters möglich, auf eine angenehme und kluge Art und Weise Schlussfolgerungen zu ziehen und selbst ein Täterbild zu schaffen.