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Veröffentlicht am 27.07.2018

Ein Lied geht hinaus in die Welt

Die Melodie meines Lebens
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Ein Brief aus längst vergangenen Zeiten, der vor über 30 Jahren geschrieben wurde, taucht wieder auf - und das ist ein ganz besonderes Schreiben. Der Arzt Alain erhält von einer Plattenfirma einen Brief, ...

Ein Brief aus längst vergangenen Zeiten, der vor über 30 Jahren geschrieben wurde, taucht wieder auf - und das ist ein ganz besonderes Schreiben. Der Arzt Alain erhält von einer Plattenfirma einen Brief, der seiner Band "Les Hologrammes" einen Vertrag anbietet. Nur: diese Band existiert seit ebenfalls über 30 Jahren nicht mehr, Alain hat zu keinem der Mitglieder noch Kontakt und diese sind zudem in alle Winde verstreut. Und haben sich auseinanderentwickelt: vom Rechtsextremen bis zum Aktionskünstler ist alles dabei. Alain möchte die Kassette finden - ja, die gab es damals noch - mit den Liedern - vor allem mit einem ganz bestimmten, das zum Megahit hätte werden können und beginnt eine Suche nach den ehemaligen Gefährten, die alsbald eine gewisse Eigendynamik entwickelt. Doch an die Kassette von damals zu kommen - das scheint aussichtslos.

Ich würde dieses Buch eher mit einem französischen Film als mit einem französischen Roman vergleichen: ungewöhnlich, manchmal absurd, mit einem ganz besonderen, eben dem französischen trockenen Humor und definitiv mit Pfiff. Manchmal taucht ein - möglicherweise ebenfalls ziemlich französisches - Chaos auf, das der Autor aus meiner Sicht gern hätte bleiben lassen können, aber ohne das geht es wohl nicht. Kenne ich schon aus den erwähnten Filmen - alles wunderbar, aber manchmal dann doch etwas too much.

Aber dass der Autor hier etwas richtig Visionäres eingebaut hat, das im Nachhinein in die Annalen eingehen wird, das konnte er natürlich selbst nicht ahnen, wie denn auch! Ich verrate Ihnen auch nicht, was es ist (im Laufe der Lektüre zeichnet es sich allerdings recht schnell ab) und sie müssen auch schon bis zum Ende lesen, um es in Gänze zu erfahren. Aber das Buch ist nicht dick, ausgesprochen unterhaltsam und die Figuren sind gekonnt und mit einer gehörigen Portion französischen Charmes gezeichnet, selbst der Rechtsradikale, gegen den selbst Marine LePen noch wie eine linke Ratte wirkt. Ach ja, auch Ratten beeinflussen den Verlauf der Geschichte, aber raten Sie nicht, da würden Sie nie drauf kommen!

Auf jeden Fall enthält das Buch eine gehörige Portion Gesellschaftskritik der besonderen Art - Antoine Laurain versteht es eben, diese Dinge auf Französisch zu erledigen. Das Buch wird durchgehend von einer Melodie begleitet, die so richtig auch erst am Ende erklingt, die ganze Geschichte aber erst ins Rollen gebracht hat. Dann geht tatsächlich ein Lied hinaus in die Welt! Absolut ungewöhnlich, klug kombiniert und wirklich nur im Ansatz gelegentlich ein kleines bisschen kitschig. Unbedingt lesenswert - seien Sie gespannt!

Veröffentlicht am 27.07.2018

Fahrradrückgabe

Fahrräder für Utrecht
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Was tun, wenn sich der geliebte Großvater auf dem Totenbett als Naziverbrecher erweist, der an der Judenvernichtung beteiligt war? Als Schreibtischtäter ganz im Westen, nämlich in Holland, was das Ganze ...

Was tun, wenn sich der geliebte Großvater auf dem Totenbett als Naziverbrecher erweist, der an der Judenvernichtung beteiligt war? Als Schreibtischtäter ganz im Westen, nämlich in Holland, was das Ganze aber keinen Deut besser macht. Weswegen Enkel Hauke aber nicht aufhört, ihn zu lieben, den herzlichen Opa, der einsprang, als die Eltern viel zu früh verunglückten. Ist ja auch richtig, beides voneinander getrennt zu betrachten. Und Opa Heinrich ist schon lange kein Nazi mehr, sondern bereut - und bittet Hauke um Wiedergutmachung.

Und zwar aus mehreren Gründen: neben dem oben genannten stellt sich nämlich noch heraus, dass Hauke eine holländische Tante hat. Sie sind neugierig geworden? Dann sollten sie zum Buch greifen, auch wenn es manchmal ein bisschen gewollt schrägt ist und auch gewollt lässig, insgesamt kann man nur sagen: passt schon!

Hauke nimmt nämlich die Verantwortung an und zwar auf seine eigene Art und Weise. Er ist nämlich ein Kind seiner Zeit - ebenso wie der Autor. Außerdem sind es sozusagen auch familiäre Gründe, die ihn dazu bewegen, die Aktion "Fahrräder zurück nach Holland" durchzuziehen. Zumal seine Freunde Safi und Lars wie so oft treu an seiner Seite sind!

Und zwar werden die Fahrräder im Rahmen einer medienwirksamen Fahrradtour nach Holland gebracht - zumindest ist es so geplant. Doch wie so oft im Leben, kommt alles ganz anders. Also eine Mordstour, die da unternommen wird? Nein, eigentlich eher das Gegenteil!

Es ist schon ziemlich klischeehaft und manchmal gewollt lässig, dennoch hatte ich viel Freude an dem Buch. Ja, Geschichte kann uns auch heute noch einholen und das stellt Autor Jochen Baier durchaus eindringlich dar. Sehr sympathisch war mir das Thema vor allem deswegen, weil ich meine ganz eigene familiäre Fahrradhistorie habe. Und die ist inzwischen schon über ein Jahrhundert alt - vielleicht wird sie ja auch mal aufgeschrieben. Aber lesen sie erst mal diese - ein ebenso lohnendes wie unterhaltsames Buch über ein Stück deutscher Geschichte und ein Stück deutscher Gegenwart von der Sorte, wie man sie nicht so oft hört bzw. in diesem Falle liest!

Veröffentlicht am 25.07.2018

In Luft aufgelöst

Das Mädchen, das rückwärts ging
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hat sich offenbar die achtjährige Carmel während eines Ausflugs zu einem Volksfest. Hat Beth, ihre Mutter, die Aufsichtspflicht vernachlässigt? Immerhin geht sie quasi auf dem Zahnfleisch, seit Paul, ...


hat sich offenbar die achtjährige Carmel während eines Ausflugs zu einem Volksfest. Hat Beth, ihre Mutter, die Aufsichtspflicht vernachlässigt? Immerhin geht sie quasi auf dem Zahnfleisch, seit Paul, Carmels Vater, sie wegen einer Jüngeren verlassen hat. Haben ihre Nerven versagt, ist das Kind Opfer eines Triebtäters oder eines Ringes von Kinderhändlern geworden, ist es "aus Versehen" verschwunden und es kam zu einem Unfall? Es findet sich nicht die geringste Spur und Beth ist aufgelöst.

Doch die Geschichte wird quasi zweigleisig erzählt, von Beth und von Carmel selbst. Lebt sie also noch oder ist diese eine jener Geschichten, in denen aus dem Jenseits berichtet wird? Wie auch immer, ich kann versichern, dass die Ereignisse zu keinem Zeitpunkt ins Absurde abdriften. Eifersucht, Selbstzweifel, eine gewisse Art von Fanatismus, Scharlatanerie, Wut, Vertrauen - und natürlich Liebe: dies alles sind Themen, die auf die ein oder andere Weise in dem Buch verarbeitet werden.

So viel kann ich Ihnen verraten: Kate Hamer schreibt fesselnd, auch die Übersetzung liest sich flüssig, eloquent und dem Buch wohnt eine solch subtile Spannung inne, dass man es am liebsten gar nicht aus der Hand legen möchte. Es gibt ja viele Bücher über verschwundene Kinder, die das Geschehene auf die unterschiedlichste Weise auflösen, doch seien Sie versichert: keines ist wie dieses hier. Mir gefällt besonders gut, wie sich die Menschen in den fünf Jahren, bevor der Fall zu einem Abschluss gelangt, verändern - allen voran Beth, deren Weg in dieser Zeit ganz besonders einfühlsam und auch glaubwürdig nachgezeichnet wird.

Doch es gibt Erzählstränge, die hätte ich gerne mehr ausgearbeitet gehabt, da wurde meine Neugier nicht ganz befriedigt. Allein dies ist mein kleiner, absolut subjektiver Kritikpunkt an einem Buch, dessen Lektüre sich unbedingt lohnt.

Veröffentlicht am 25.07.2018

Ein Versprechen, ein Antrag, eine Warnung" (S. 38)

Die Straße der Geschichtenerzähler
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All das übermittelt der jungen Viv der wesentlich ältere Archäologe Tahsin Bey, ein "Kumpel" ihres Vaters nach gemeinsamem Aufenthalt bei Ausgrabungen in Labraunda, wo sie ihn als auch sich selbst das ...

All das übermittelt der jungen Viv der wesentlich ältere Archäologe Tahsin Bey, ein "Kumpel" ihres Vaters nach gemeinsamem Aufenthalt bei Ausgrabungen in Labraunda, wo sie ihn als auch sich selbst das erste Mal in einem anderen Licht als bisher wahrnimmt: als Mann und Frau. Seine Worte sind für sie verheißungsvolle Versprechungen auf dem Weg in eine gemeinsame Zukunft - nach dem Krieg, denn es ist der Sommer 1914 und kurzfristige Absprachen können nicht getroffen werden.

Natürlich kommt alles ganz anders, Viv verschlägt es nach Kriegseinsätzen - ja, auch Frauen hatten welche - 1915 nach Peshawar, wohin sie Jahre später als gestandene Hochschuldozentin der ersten Generation zurückkehrt.

Wieder auf der Suche nach einem Mann: die Motivation scheint eine ganz andere zu sein, ist es aber nur in Teilen. Auch wenn Viv sich selbst durchaus Schuld am größten Verlust ihres Lebens gibt, ist sie immer noch auf der Suche nach sich selbst - und nach der Wahrheit. Die jugendliche Unüberlegtheit der Protagonistin Viv weicht einer gewissen Gelassenheit, die ihr - und der damit der dem Buch zugrundewohnenden Stimmung des Buches eine ganz andere Wendung verleiht. Auch wenn es kleine Längen gibt, auch wenn es manchmal eigene Recherchen erfordert, um die klugen Gedanken der Autorin nachvollziehen zu können - es ist atemberaubend, wie Shamsie den Leser in ihre Welt zieht.

Ja, Kamila Shamsie schreibt historische Romane, aber auf eine ganz besondere Art, auf einem ganz besonderen Niveau - einem sehr, sehr hohen - und mit ganz besonderen Botschaften. Sie taucht ein in die Welt, über die sie schreibt, in ihre Charaktere und bringt uns so - was kaum ein Autor vermag - Nachrichten aus verlorenen, vergangenen Zeiten, über ebensolche Werte. Der Leser ist stets gefordert, denn sie schlägt ihren Bogen um weite Teile der Weltgeschichte, die - wie hier - nicht immer die bekanntesten sind.

Kamila Shamsie, eine Kosmopolitin? Unbedingt, auch wenn ihr Herz immer wieder für Asien schlägt, den Kontinent ihrer Herkunft, dessen Geschichte sie mit Ländern der westlichen Zivilisation, in diesem Falle England und ebenfalls eine Heimat für sie, verwebt. Doch sie tut weit mehr, als Geschichte aufzuarbeiten: sie gibt literarischem Anspruch und Poesie eine ganz neue Wendung, eine andere Bedeutung.

Kamila Shamsies Charaktere sind Suchende, denen diese Suche eine Art Lebenselixir ist, das sie vorantreibt. Die Erfüllung ist nicht das Ziel bzw. das Ende ihrer Geschichten: nein, bei Shamsie gilt wieder und wieder, wenn auch auf ganz besondere Art: der Weg ist das Ziel. Und darin kann sich - wenn er es denn zulässt - ein jeder Leser auf eine gewisse Art und Weise wiedererkennen.

Eine Autorin, die ihre Leser immer wieder fordert, ihnen nur wenig erspart, dabei aber viel schenkt: neues Wissen und neue Erfahrungen. Die muss man sich einiges an Zeit und Kraft kosten lassen, denn in Shamsies Büchern kann man nicht nur schwelgen, man muss sich auf das Geschehen einlassen und sich ihm mit allen Fasern des Geistes und des Körpers widmen. Wenn man dazu bereit ist, ein lohnendes Unterfangen, bei dem man viel mitnimmt.

Veröffentlicht am 25.07.2018

Ein Buch über Verlassene, die zu Verlassenden werden

Länger als sonst ist nicht für immer
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Wenn auch nicht alle - die Bäckersfrau Evi und auch Ira sind immer da, wo man sie braucht bzw. erwartet: im kleinen schwäbischen Dorf, bereit die anderen zu empfangen und aufzunehmen. Drei Protagonisten ...

Wenn auch nicht alle - die Bäckersfrau Evi und auch Ira sind immer da, wo man sie braucht bzw. erwartet: im kleinen schwäbischen Dorf, bereit die anderen zu empfangen und aufzunehmen. Drei Protagonisten sind es - Ira, Lew und Fido, die alle von ihren Müttern verlassen wurden, wenn auch jeder auf unterschiedliche Art und Weise und aus vollkommen unterschiedlichen Gründen. Geliebt wurden sie alle, wenn auch nicht unbedingt von ihren Müttern, doch es gab für jeden von ihnen jemanden, der für ihn da war.

Die Fäden laufen zusammen in Evis Bäckerei - Evi, die sich in den 1970ern Fidos und seines Großvaters angenommen hat, die voller Hoffnung aus dem fernen Serbien kamen und die später auch Ira, als diese es nötig hatte, unter ihre Fittiche nahm.

Auf Lew treffen wir zunächst in einem indischen Dorf, in einer merkwürdigen, geheimnisvollen Umgebung, auf der Suche nach dem Vater, der ihn zusammen mit der mittlerweise verstorbenen Mutter verlassen hat und weggemacht hat aus der DDR damals. Doch hier ist nichts so, wie es scheint. Aber auch findet Zuflucht in der Bäckerei, als die Zeit gekommen ist.

Ira, die schon einen Sohn hat, John, hilft in Evis Bäckerei und begleitet ihren Vater Cornelius auf dessen letztem Weg - Cornelius, der ihr Familie war, als auch sie von ihrer Mutter verlassen wurde.

Ira, Fido und Lew - sie alle sind Verlassene, die auf merkwürdige Weise zusammenhängen. Fido und Lew werden aber auch zu Verlassenden, sie bringen Ira in die Situation einer Wartenden, die ihr schon von Kindesbeinen an vertraut ist. Es ist nichts Grausames dran, nein, Pia Ziefle stellt es in ihrer schönen Sprache eher fatalistisch dar, so als könnte keiner seinem Schicksal entrinnen - der Verlassene ebensowenig wie der Verlassende. Doch ab und an werden die Schilderungen für mich - und ich bin sicher, dass es auch anderen Lesern so geht - schwer greifbar, die Autorin driftet ab in ihr tiefstes Inneres, das so manchen Leser nicht mehr erreicht. Wunderschöne Sätze wie "...als sie älter wurde und zu ahnen begann, dass Tadijas Sätze manchmal an Orten geboren wurden, die aus Wünschen gebaut waren und Sehnsucht." (S .16) tragen immer wieder zum Lesegenuss bei.

Der Romanhandlung ist ein Reiser-Songtext vorangestellt und Start mit Rio Reiser ist immer ein guter Start, auch wenn es sich wie hier um einen seiner Songtexte handelt. Wobei ich der Ansicht bin, dass auch Hannes Wader mit seinem bekanntesten Lied gut, ja besser gepasst hätte. Seine Worte
"Heute hier, morgen dort,
bin kaum da, muss ich fort,
hab' mich niemals deswegen beklagt.
Hab es selbst so gewählt,
nie die Jahre gezählt,
nie nach gestern und morgen gefragt."
treffen auf so manch einen Protagonisten des Buches zu.

Ein ungewöhnliches, ein wenig sperriges Buch über Liebe, Freundschaft, aber auch Einsamkeit - vor allem aber über Hoffnung, dessen Lektüre sich aber unbedingt lohnt.