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Veröffentlicht am 25.07.2018

In Luft aufgelöst

Das Mädchen, das rückwärts ging
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hat sich offenbar die achtjährige Carmel während eines Ausflugs zu einem Volksfest. Hat Beth, ihre Mutter, die Aufsichtspflicht vernachlässigt? Immerhin geht sie quasi auf dem Zahnfleisch, seit Paul, ...


hat sich offenbar die achtjährige Carmel während eines Ausflugs zu einem Volksfest. Hat Beth, ihre Mutter, die Aufsichtspflicht vernachlässigt? Immerhin geht sie quasi auf dem Zahnfleisch, seit Paul, Carmels Vater, sie wegen einer Jüngeren verlassen hat. Haben ihre Nerven versagt, ist das Kind Opfer eines Triebtäters oder eines Ringes von Kinderhändlern geworden, ist es "aus Versehen" verschwunden und es kam zu einem Unfall? Es findet sich nicht die geringste Spur und Beth ist aufgelöst.

Doch die Geschichte wird quasi zweigleisig erzählt, von Beth und von Carmel selbst. Lebt sie also noch oder ist diese eine jener Geschichten, in denen aus dem Jenseits berichtet wird? Wie auch immer, ich kann versichern, dass die Ereignisse zu keinem Zeitpunkt ins Absurde abdriften. Eifersucht, Selbstzweifel, eine gewisse Art von Fanatismus, Scharlatanerie, Wut, Vertrauen - und natürlich Liebe: dies alles sind Themen, die auf die ein oder andere Weise in dem Buch verarbeitet werden.

So viel kann ich Ihnen verraten: Kate Hamer schreibt fesselnd, auch die Übersetzung liest sich flüssig, eloquent und dem Buch wohnt eine solch subtile Spannung inne, dass man es am liebsten gar nicht aus der Hand legen möchte. Es gibt ja viele Bücher über verschwundene Kinder, die das Geschehene auf die unterschiedlichste Weise auflösen, doch seien Sie versichert: keines ist wie dieses hier. Mir gefällt besonders gut, wie sich die Menschen in den fünf Jahren, bevor der Fall zu einem Abschluss gelangt, verändern - allen voran Beth, deren Weg in dieser Zeit ganz besonders einfühlsam und auch glaubwürdig nachgezeichnet wird.

Doch es gibt Erzählstränge, die hätte ich gerne mehr ausgearbeitet gehabt, da wurde meine Neugier nicht ganz befriedigt. Allein dies ist mein kleiner, absolut subjektiver Kritikpunkt an einem Buch, dessen Lektüre sich unbedingt lohnt.

Veröffentlicht am 25.07.2018

Ein Versprechen, ein Antrag, eine Warnung" (S. 38)

Die Straße der Geschichtenerzähler
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All das übermittelt der jungen Viv der wesentlich ältere Archäologe Tahsin Bey, ein "Kumpel" ihres Vaters nach gemeinsamem Aufenthalt bei Ausgrabungen in Labraunda, wo sie ihn als auch sich selbst das ...

All das übermittelt der jungen Viv der wesentlich ältere Archäologe Tahsin Bey, ein "Kumpel" ihres Vaters nach gemeinsamem Aufenthalt bei Ausgrabungen in Labraunda, wo sie ihn als auch sich selbst das erste Mal in einem anderen Licht als bisher wahrnimmt: als Mann und Frau. Seine Worte sind für sie verheißungsvolle Versprechungen auf dem Weg in eine gemeinsame Zukunft - nach dem Krieg, denn es ist der Sommer 1914 und kurzfristige Absprachen können nicht getroffen werden.

Natürlich kommt alles ganz anders, Viv verschlägt es nach Kriegseinsätzen - ja, auch Frauen hatten welche - 1915 nach Peshawar, wohin sie Jahre später als gestandene Hochschuldozentin der ersten Generation zurückkehrt.

Wieder auf der Suche nach einem Mann: die Motivation scheint eine ganz andere zu sein, ist es aber nur in Teilen. Auch wenn Viv sich selbst durchaus Schuld am größten Verlust ihres Lebens gibt, ist sie immer noch auf der Suche nach sich selbst - und nach der Wahrheit. Die jugendliche Unüberlegtheit der Protagonistin Viv weicht einer gewissen Gelassenheit, die ihr - und der damit der dem Buch zugrundewohnenden Stimmung des Buches eine ganz andere Wendung verleiht. Auch wenn es kleine Längen gibt, auch wenn es manchmal eigene Recherchen erfordert, um die klugen Gedanken der Autorin nachvollziehen zu können - es ist atemberaubend, wie Shamsie den Leser in ihre Welt zieht.

Ja, Kamila Shamsie schreibt historische Romane, aber auf eine ganz besondere Art, auf einem ganz besonderen Niveau - einem sehr, sehr hohen - und mit ganz besonderen Botschaften. Sie taucht ein in die Welt, über die sie schreibt, in ihre Charaktere und bringt uns so - was kaum ein Autor vermag - Nachrichten aus verlorenen, vergangenen Zeiten, über ebensolche Werte. Der Leser ist stets gefordert, denn sie schlägt ihren Bogen um weite Teile der Weltgeschichte, die - wie hier - nicht immer die bekanntesten sind.

Kamila Shamsie, eine Kosmopolitin? Unbedingt, auch wenn ihr Herz immer wieder für Asien schlägt, den Kontinent ihrer Herkunft, dessen Geschichte sie mit Ländern der westlichen Zivilisation, in diesem Falle England und ebenfalls eine Heimat für sie, verwebt. Doch sie tut weit mehr, als Geschichte aufzuarbeiten: sie gibt literarischem Anspruch und Poesie eine ganz neue Wendung, eine andere Bedeutung.

Kamila Shamsies Charaktere sind Suchende, denen diese Suche eine Art Lebenselixir ist, das sie vorantreibt. Die Erfüllung ist nicht das Ziel bzw. das Ende ihrer Geschichten: nein, bei Shamsie gilt wieder und wieder, wenn auch auf ganz besondere Art: der Weg ist das Ziel. Und darin kann sich - wenn er es denn zulässt - ein jeder Leser auf eine gewisse Art und Weise wiedererkennen.

Eine Autorin, die ihre Leser immer wieder fordert, ihnen nur wenig erspart, dabei aber viel schenkt: neues Wissen und neue Erfahrungen. Die muss man sich einiges an Zeit und Kraft kosten lassen, denn in Shamsies Büchern kann man nicht nur schwelgen, man muss sich auf das Geschehen einlassen und sich ihm mit allen Fasern des Geistes und des Körpers widmen. Wenn man dazu bereit ist, ein lohnendes Unterfangen, bei dem man viel mitnimmt.

Veröffentlicht am 25.07.2018

Ein Buch über Verlassene, die zu Verlassenden werden

Länger als sonst ist nicht für immer
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Wenn auch nicht alle - die Bäckersfrau Evi und auch Ira sind immer da, wo man sie braucht bzw. erwartet: im kleinen schwäbischen Dorf, bereit die anderen zu empfangen und aufzunehmen. Drei Protagonisten ...

Wenn auch nicht alle - die Bäckersfrau Evi und auch Ira sind immer da, wo man sie braucht bzw. erwartet: im kleinen schwäbischen Dorf, bereit die anderen zu empfangen und aufzunehmen. Drei Protagonisten sind es - Ira, Lew und Fido, die alle von ihren Müttern verlassen wurden, wenn auch jeder auf unterschiedliche Art und Weise und aus vollkommen unterschiedlichen Gründen. Geliebt wurden sie alle, wenn auch nicht unbedingt von ihren Müttern, doch es gab für jeden von ihnen jemanden, der für ihn da war.

Die Fäden laufen zusammen in Evis Bäckerei - Evi, die sich in den 1970ern Fidos und seines Großvaters angenommen hat, die voller Hoffnung aus dem fernen Serbien kamen und die später auch Ira, als diese es nötig hatte, unter ihre Fittiche nahm.

Auf Lew treffen wir zunächst in einem indischen Dorf, in einer merkwürdigen, geheimnisvollen Umgebung, auf der Suche nach dem Vater, der ihn zusammen mit der mittlerweise verstorbenen Mutter verlassen hat und weggemacht hat aus der DDR damals. Doch hier ist nichts so, wie es scheint. Aber auch findet Zuflucht in der Bäckerei, als die Zeit gekommen ist.

Ira, die schon einen Sohn hat, John, hilft in Evis Bäckerei und begleitet ihren Vater Cornelius auf dessen letztem Weg - Cornelius, der ihr Familie war, als auch sie von ihrer Mutter verlassen wurde.

Ira, Fido und Lew - sie alle sind Verlassene, die auf merkwürdige Weise zusammenhängen. Fido und Lew werden aber auch zu Verlassenden, sie bringen Ira in die Situation einer Wartenden, die ihr schon von Kindesbeinen an vertraut ist. Es ist nichts Grausames dran, nein, Pia Ziefle stellt es in ihrer schönen Sprache eher fatalistisch dar, so als könnte keiner seinem Schicksal entrinnen - der Verlassene ebensowenig wie der Verlassende. Doch ab und an werden die Schilderungen für mich - und ich bin sicher, dass es auch anderen Lesern so geht - schwer greifbar, die Autorin driftet ab in ihr tiefstes Inneres, das so manchen Leser nicht mehr erreicht. Wunderschöne Sätze wie "...als sie älter wurde und zu ahnen begann, dass Tadijas Sätze manchmal an Orten geboren wurden, die aus Wünschen gebaut waren und Sehnsucht." (S .16) tragen immer wieder zum Lesegenuss bei.

Der Romanhandlung ist ein Reiser-Songtext vorangestellt und Start mit Rio Reiser ist immer ein guter Start, auch wenn es sich wie hier um einen seiner Songtexte handelt. Wobei ich der Ansicht bin, dass auch Hannes Wader mit seinem bekanntesten Lied gut, ja besser gepasst hätte. Seine Worte
"Heute hier, morgen dort,
bin kaum da, muss ich fort,
hab' mich niemals deswegen beklagt.
Hab es selbst so gewählt,
nie die Jahre gezählt,
nie nach gestern und morgen gefragt."
treffen auf so manch einen Protagonisten des Buches zu.

Ein ungewöhnliches, ein wenig sperriges Buch über Liebe, Freundschaft, aber auch Einsamkeit - vor allem aber über Hoffnung, dessen Lektüre sich aber unbedingt lohnt.

Veröffentlicht am 24.07.2018

Menschen, die sich selbst aufgegeben haben

Eisiges Geheimnis
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USA: in der Einsamkeit des hohen Nordens, gleich an der kanadischen Grenze wird Leanne Adams vor den Augen ihrer Tochter, der 18jährigen Grace, die gerade eine Herztransplantation überstanden hat, offenbar ...

USA: in der Einsamkeit des hohen Nordens, gleich an der kanadischen Grenze wird Leanne Adams vor den Augen ihrer Tochter, der 18jährigen Grace, die gerade eine Herztransplantation überstanden hat, offenbar brutal ermordet. Vorher war sie jahrelang verschwunden - so lange, dass ihre eigene Tochter sie zunächst nicht wiedererkannte. Auch Arnold Lamb, Schwager bzw. Onkel der beiden ist tot - was geschah mit ihm, was hat es mit der langen Abwesenheit von Leanne auf sich?

Jedenfalls geht es gleich an die Ermittlungen, auf die Ray Davies - nein, nicht der Sänger der Kinks", sondern ein Detective höheren Ranges - die hochschwangere Macy Greeley ansetzt, offenbar gibt es keine andere Möglichkeit.
Brutal und gleichzeitig überaus atmosphärisch erinnert mich das Buch an die Thriller von Linda Castillo und die Bücher von Daniel Woodrell, vor allem "Winters Knochen", das auch verfilmt wurde, sowie an den Film "Fargo" der Coen Brothers. Sie alle zeigen die amerikanische Einöde, die Menschen dort in ihrer Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit - Menschen, die kein Wertesystem, keine Struktur mehr in ihrem Leben haben und soweit gehen, das Liebste in ihrem Leben in Frage zu stellen, wenn nicht gar zu verleugnen - wenn sie ein solches überhaupt noch zu identifizieren imstande sind. In diesen Kreisen muss die alleinstehende Macy kurz vor der Geburt ihres Kindes ermitteln und es tun sich Abgründe auf, die mit dem Tod von vier jungen osteuropäischen Einwanderinnen vor zehn Jahren zu tun haben, aber auch mit Menschen- und Drogenhandel.

Der Autorin Karin Salvalaggio ist hier ein außergewöhnlicher Krimi gelungen, dem es nur teilweise an bisschen an Atmosphäre bzw. der Darstellung von Übergängen und Zusammenhängen fehlt und der trotz seiner Brutalität gelegentliche Längen aufweist. Doch dies sind Marginalien - man hört, es soll eine ganze Serie von Thrillern um Macy Greeley entstehen - also, ich freue mich schon auf den nächsten Band und bin gespannt auf Macys weiteren Weg.

Veröffentlicht am 24.07.2018

Das Land, in dem die Zitronen blühen

Der Apfelsammler
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... war nicht nur das Ziel der Sehnsüchte des großen Dichters Goethe, nein, auch Elisabeth, genannt Eli, aufgewachsen in einem schwäbischen Kaff in den 1960er Jahren unter der Knute eines alkoholkranken, ...

... war nicht nur das Ziel der Sehnsüchte des großen Dichters Goethe, nein, auch Elisabeth, genannt Eli, aufgewachsen in einem schwäbischen Kaff in den 1960er Jahren unter der Knute eines alkoholkranken, despotischen Vaters, möchte dort hin und ihr Grund ist greifbarer als die abstrakten Empfindungen des großen Mannes im 18. Jahrhundert: sie hat sich verliebt in den glutäugigen Giorgio, der als Gastarbeiter in ihrer Heimat weilte. Eine Liebe voller Dornen, voller Enttäuschungen, die nichtsdestotrotz ein ganzes Leben hält.

Auf der anderen Seite die zweite Erzählerin, Hannah, Elis Nichte, nach dem frühen Tod ihrer Eltern bei dieser aufgewachsen, nun - in der Gegenwart - nach Elis plötzlichem Tod in Italien, an Elis letztem Wohnsitz auf Spurensuche. Zwei Wege, die - zeitweise weit voneinander entfernt - doch zusammenlaufen.

Stimmungsvoll und gekonnt recherchiert, in ihrem einzigartigen Schreibstil baut Anja Jonuleit diesen ungeheuer dichten, spannungsreichen Roman schrittweise auf. Ich jedenfalls konnte ihn kaum aus der Hand legen, roch die schwäbische Enge, den Duft italienischer Obstgärten, sah Eli, Hannah und die anderen Protagonisten förmlich vor mir - bis es im letzten Teil des Buches leider "Plopp" machte und sich bei mir eine gewisse Ernüchterung einstellte. Leider konnte das hohe Niveau nicht ganz bis zum Schluss gehalten werden, die subtile Eleganz wich einem - wenn es nicht um die großartige Anja Jonuleit ginge, wäre ich fast geneigt zu sagen, platten Bedürfnis, alles glasklar aufzulösen, zu einem Ende zu bringen. Dabei hat die Autorin ihre Figuren irgendwie verloren, die starken Charaktere sind sich selbst abhanden gekommen - kurzum: das Ende ist ein fast beliebiges, auf Sensationen hin ausgerichtetes, das dem besonderen Ansatz der hier erzählten Geschichte einfach nicht gerecht wird.

Insgesamt aber ein weiteres empfehlenswertes Buch der Autorin Jonuleit, das nicht ganz, aber doch beinahe mit den "Herbstvergessenen" mithalten kann und das in mir bereits die Vorfreude auf ihr nächstes Werk weckt!