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Veröffentlicht am 16.11.2023

Herrlich bebilderte, etwas summarische Reise durch Berlins Dörfer

Idyllisches Berlin
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Auf den ersten Blick mag man denken, daß „idyllisch“ und „Berlin“ ein Gegensatz ist, und so war ich besonders neugierig auf die angekündigten „schönsten Dörfer der Stadt“. Nachdem ich dieses Buch mit Freude ...

Auf den ersten Blick mag man denken, daß „idyllisch“ und „Berlin“ ein Gegensatz ist, und so war ich besonders neugierig auf die angekündigten „schönsten Dörfer der Stadt“. Nachdem ich dieses Buch mit Freude gelesen habe, kann ich sagen, daß Gary Schunacks Bestreben, seinen Lesern ein fast unbekanntes Berlin zu zeigen, absolut gelungen ist. Ich habe Berlin hier von einer unerwarteten Seite kennengelernt und diese leserischen Ausflüge genossen.

Das Buch ist liebevoll gestaltet. Das beginnt schon beim Titelbild, bei dem ein Huhn, ein Reiher, ein Schmetterling und ein Gartenzwerg als zeichnerische Elemente eingebaut sind, und setzt sich im Buch fort. Die 45 Kapitel (ja, so viele dörfliche Oasen gibt es in Berlin!) haben originelle Titel, die neugierig machen und die wesentlich gelungener sind als sterile Ortsangaben. Jedes Kapitel beginnt mit einigen relevanten Angaben und einem kleinen Umriss von Berlin, in welchem der entsprechende Ort mit einem Punkt eingezeichnet ist. Sehr erfreulich übersichtlich. Hinten im Buch findet sich auf einer Doppelkarte eine größere Ansicht von Berlin, in welche die Lage aller 45 Orte mit nummerierten Kreisen verzeichnet ist, so hat man gleich einen nützlichen Gesamtüberblick. Schade finde ich, daß die Nummern nicht gruppiert sind, so steht hier die 11 neben der 37, die 9 neben der 24, die 2 neben der 22 usw. Für eine Ausflugsplanung fände ich es sinnvoller, die Kapitel nach Lage zu ordnen, auch ein thematischer Grund für die Reihenfolge ist für mich nicht ersichtlich, so daß es etwas sprunghaft wirkt. Allerdings ist das kein erhebliches Manko.

Jedes Kapitel besteht aus einem ganzseitigen Foto, einer Textseite, einer Seite mit mehreren Fotos und einer Übersichtsseite mit Informationen zur nächsten Haltestelle, dem nächsten Parkplatz, einem Einkehrtip und drei Highlights, welche mit einem weiteren Foto abschließt. So sind auch die Kapitel übersichtlich und optisch ansprechend gestaltet. Die vielen Fotos – alle in Farbe – waren eine wahre Freude. Abgesehen von einem stammen alle vom Autor selbst und zeigen damit, welche Hingabe hier einfloss. Die Fotos sind gelungen und fangen die jeweilige Atmosphäre hervorragend ein, sind dazu noch ein visuelles Vergnügen. Es hat Spaß gemacht, auf diese Weise fotografisch durch Berlin zu reisen.

Etwas enttäuscht hat mich der geringe Textanteil. Gerade am Anfang war ich immer irritiert, wenn der Text schon zu Ende war, als ich mich gerade in das jeweilige Kapitel eingelesen habe. Auch wenn ich mich beim Lesen schließlich an die knappen Überblicke gewöhnt habe, blieb es ein Wermutstropfen. Die Texte liefern durchaus gelungene Zusammenfassungen des jeweiligen historischen Hintergrunds, der Atmosphäre und sehenswerter Punkte, auch erfahren wir immer wieder unterhaltsame Fakten wie das Vorhandensein einer noch in Nutzung befindlichen Telefonzelle von 1934, die Herkunft eines ungewöhnlichen Ortnamens oder der sich in einem Fisch an einer Kirchenwetterfahne manifestierende Stolz eines Fischerdorfes – es sind genau solche Informationen, die ein Buch charmant machen und aus der Masse herausheben. Insgesamt sind es aber eben Zusammenfassungen und ich merkte immer wieder, daß ich zu diesem und jenem viel mehr hätte lesen wollen. Schon die Übersichtsseite mit viel weißer Fläche hätte durchaus Raum für eine weitere halbe Textseite gegeben, ohne das Format zu beeinträchtigen. Dem Summarischen fallen dann auch manche notwendigen Informationen zum Opfer, die ohne großen Aufwand hätten eingefügt werden können. So wird im Kapitel über Nikolskoe erwähnt, „die Tochter des Königs von Preußen“ hätte „den Sohn von Großfürst Nikolai“ geheiratet. Welche Tochter es war oder in welchem Jahr das geschah, um welchen König von Preußen es ging – kein Wort. Googlen ergab, daß es sich um die 1817 erfolgte Eheschließung zwischen Charlotte von Preußen und dem künftigen Zar Nikolaus I handelte (der übrigens der Sohn von Zar Paul I war – also ist die Angabe „Sohn von Großfürst Nikolai“ zudem falsch). Auch bei den drei angegebenen Highlights pro Kapitel hätte ich manchmal sehr gerne gewusst, warum dieses Highlight denn nun ein Highlight ist. Hier hätte es schon einen gewaltigen Unterschied gemacht, anstatt von knappen Stichpunkten einfach ein oder zwei Sätze zu jedem Highlight zu schreiben – genug freie Fläche ist auf den entsprechenden Seiten durchaus vorhanden und ich lese ein Buch ja, um die Fakten dort zu erfahren, nicht um Stichworte googlen zu müssen. Auch hätte ich mir gelegentlich eine Bildbeschriftung gewünscht – die Bilder geben einen Gesamteindruck und sprechen meistens für sich selbst, doch hier und da wäre es hilfreich gewesen, zu wissen, was dort abgebildet ist.

Zusätzlich zu dem inhaltlichen Fehler fielen mir auch häufig grammatikalische Fehler, insbesondere beim Satzbau, auf, in einem Fall gleich drei auf einer Seite. So angenehm und flüssig der Text auch geschrieben ist, diese Fehler waren ärgerlich und beeinträchtigten das Lesevergnügen.

Insgesamt lesen sich die Texte aber gut und das Buch enthält eine Menge interessanter und nützlicher Informationen, vier themenbezogene Kapitel komplettieren die ortsbezogenen Informationen anschaulich. Zusammen mit den ansprechenden Bildern kann man auf eine herrlich idyllische Reise gehen, tolle erste Eindrücke gewinnen und Orte kennenlernen, die sogar vielen Berlinern unbekannt sind. Die persönliche Hingabe des Autors für sein Thema ist spürbar und trägt erheblich zu diesem erfreulichen Buch bei.

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Veröffentlicht am 07.11.2023

Unterhaltsame, schön bebilderte Informationen

Lost & Dark Places Odenwald
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Wie schon im „Sachsen“-Band der Lost & Dark Places-Reihe erkundet Cornelia Lohs auch hier wieder 33 „vergessene, verlassene und unheimliche Orte“, diesmal im Odenwald, und wieder sind es nicht nur die ...

Wie schon im „Sachsen“-Band der Lost & Dark Places-Reihe erkundet Cornelia Lohs auch hier wieder 33 „vergessene, verlassene und unheimliche Orte“, diesmal im Odenwald, und wieder sind es nicht nur die Orte selbst, sondern auch die Geschichten dahinter, die zum unterhaltsamen Gesamtbild beitragen. Jedes Buch der Serie beginnt mit einigen Verhaltensregeln für Lost Places, was lobenswert ist, auch wenn ich den letzten Hinweis, man solle darauf achten, beim Betreten nicht gesehen zu werden, um u.a. „mögliche Konfrontationen mit der Polizei“ zu vermeiden, weiterhin fragwürdig finde.

Eine Karte vorne im Buch zeigt durch große Zahlen gleich an, wo im Odenwald sich der jeweilige Ort befindet, was erfreulich übersichtlich ist. Allerdings sind die Zahlen hier ziemlich wild über die Karte verteilt, nicht so schön gruppiert wie im Sachsen-Buch, so daß 3 und 4 neben 27 und 33 stehen, 1 und 2 neben 15, 26 und 29 usw. Ich finde es zur Planung und Übersichtlichkeit angenehmer, wenn die geographisch zusammengehörigen Orte auch im Buch entsprechend gruppiert sind.

Die zahlreichen großen Farbbilder sind eine Freude, hier bekommt man schon beim Lesen einen tollen Eindruck der Orte und kann sich auch jene, die man nicht besuchen würde, gut ansehen. Die Orte selbst reichen vom verlassenen Dorf über recht viele Burgruinen hin zu kirchlichen Gebäuden oder Gedenkstätten. Mehrere davon können allerdings gar nicht von innen besucht werden oder bestehen lediglich aus einer Säule oder recht überschaubaren Überresten. Insgesamt hat die Auswahl mich weniger überzeugt als beim Sachsenbuch, aber es ist durchaus eine interessante Zusammenstellung und ich habe mir schon manche Orte für einen Besuch vorgemerkt.

Wie immer schreibt die Autorin angenehm und zugänglich. In den beiden Büchern, die ich bislang von ihr las, genoss ich es bereits, so viele Geschichten kennenzulernen, in eine Vielfalt historischer Themen und auch persönlicher Schicksale einzutauchen. Dies setzt sich hier fort, allerdings fand ich manche Kapitel doch etwas trocken. Mir fehlte hier manchmal die persönliche, direkte Note und mich irritierten auch kleine Fehler, so steht auf Seite 29 zweimal fast derselbe Satz kurz hintereinander. Zwei Kapitel berichten leider so gut wie nichts über den jeweiligen Ort, eines ist eine Zusammenfassung des Dreißigjährigen Krieges und eines eine Kurzbiographie Hindenburgs. Abgesehen davon, daß dies historisch Interessierten größtenteils schon bekannt sein dürfte, passen solche allgemeinen Informationen dann eher in ein Geschichtsbuch und der Bezug zum jeweiligen Lost Place ist nur ganz am Rande vorhanden. Das Besondere an diesen Büchern ist für mich eigentlich gerade, daß man dort die ungewöhnlichen Geschichten liest, die man eben nicht überall erfährt. Deshalb war ich von einigen Kapiteln doch etwas enttäuscht, während andere eine äußerst gelungene Mischung aus Information und Unterhaltung darstellten und mich beim Lesen ganz in die jeweilige Geschichte eintauchen ließen. Insgesamt kann man hier viel über deutsche und regionale Geschichte erfahren, einige Sagen runden die Thematik „Lost Places“ erfreulich ab.

Für jene, die Lost Places im Odenwald besuchen möchten, finden sich hier viele gute Anregungen, auch hat jedes Kapitel noch einen kleinen Zusatztip in der Gegend. Auch für jene, die ohne Reise einfach gerne auf ein wenig andere Art in Geschichte und Geschichten eintauchen möchten, ist das Buch eine unterhaltsame Lektüre und vermittelt vielfältiges Wissen.

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Veröffentlicht am 17.10.2023

Gelungener Blickwinkel, herrliche Informationsfülle, teilweise unzugänglicher Stil

Um 1500
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Die Zeit um 1500 wird den Lesern in 50 Kapiteln vermittelt, jedes davon widmet sich einem anderen Thema und jedem ist ein Bild Dürers vorangestellt. So begleitet uns Dürer durch sein Werk, aber auch durch ...

Die Zeit um 1500 wird den Lesern in 50 Kapiteln vermittelt, jedes davon widmet sich einem anderen Thema und jedem ist ein Bild Dürers vorangestellt. So begleitet uns Dürer durch sein Werk, aber auch durch sein eigenes Leben durch diese Zeit – eine ausgezeichnete Idee, die dem Inhalt einen persönlichen Fokus verleiht und uns zugleich das beeindruckende Werk dieses Künstlers näherbringt. Die erstklassige Ausstattung des Buches wird dem Sujet gerecht, ich war davon begeistert. Das Papier ist hochwertig, so daß die farbigen Abbildungen sehr gut zur Geltung kommen, auch sonst erfreut die visuelle Gestaltung. Die Bilder sind zudem ausgezeichnet ausgewählt, sie passen zum jeweiligen Thema und sind zudem vielfältig. Der Autor erklärt zu Beginn jedes Kapitels das jeweilige Bild und auch das ist sehr gut gemacht, denn so werden die Leser auf einiges hingewiesen, was einem beim reinen Betrachten eventuell entgeht, auch werden Zusammenhänge und Hintergründe erklärt – sehr erfreulich und schon anhand der Bilder erfährt man vieles über die Zeit.

Vom Bild geht der Text dann zu den allgemeineren Informationen des jeweiligen Themas über. Im Vorwort weist der Autor explizit darauf hin, das Wissen zugänglich vermitteln zu wollen. Das gelingt leider nicht durchgehend. Der Schreibstil konnte mich nur teilweise überzeugen. Er ist überwiegend eher gehoben, was ich erfreulich finde, aber allgemein ziemlich steif, bedient sich einer bei populärwissenschaftlichen Büchern ungewöhnlichen Häufung wenig gängiger Fremdworte und eines oft geradezu sperrigen Satzbaus, wie z.B. „Erst allmählich scheint insbesondere der Druck die Sprachform und das Denken über Sprache fixiert zu haben, was umgekehrt eine stärkere Wahrnehmung der Distinktion nach sich zog" oder „Vielmehr bezogen sich schleifenförmig die Erzählungen des Alten und Neuen Testaments auf die Gegenwart, die sie jeweils präfigurierten. Diese typologische Geschichtssicht war zugleich statisch, da sie mit Kohelet 1,9 postulierte ...".
Auch verliert sich der Autor häufig in theoretischen Exkursen, welche für das allgemeine Leserpublikum schlichtweg zu akademisch und trocken sind und bei manchen Themen zu Lasten interessanter praktischer Aspekte gehen.
Solchen wenig zugänglichen Passagen steht dann der Gebrauch von Denglisch gegenüber, so wird überlegt, ob jemand vielleicht „eine eigene Agency“ hatte, wir haben Begriffe wie In-Group, Honeymooners und Hotspots und aus nicht nachvollziehbaren Gründen wird der Begriff „Geschlecht“ durchweg mit „Gender“ ersetzt, z.B. „Kleidungsstücke konnten also (...) mit (...) dem Gender in direkte Korrelation gebracht werden“, und es geht nicht mehr um Geschlechterrollen, sondern Genderrollen. Das Denglisch paßt weder zum Thema des Buches noch zur Zielgruppe (bei einem speziell für Jugendliche geschriebenen Buch wäre es z.B. nachvollziehbarer) und schon gar nicht zum restlichen Schreibstil, so daß diese Begriffe gleich aus mehreren Gründen fehl am Platz wirken.
Dem stehen aber gut geschriebene und angenehm lesbare Passagen gegenüber, gerade in der letzten Hälfte des Buches wird der Text vom Inhalt her handfester und vom Stil her lesefreundlicher. Insgesamt wirkt der Schreibstil etwas uneinheitlich auf mich – hier hätte ein Lektorat noch einiges bewirken können und sollen.

Manche Punkte werden im Text angerissen, aber nicht erklärt, z.B. wird erwähnt, daß es in manchen Häusern bereits fließendes Wasser gab oder andere Sprachen für Reisende keine Probleme darstellten, aber es wird nicht erläutert, wie das funktionierte. Der Autor bemüht sich, so viele Themen und Aspekte wie möglich anzusprechen, was lobenswert, aber bei diesem Format nicht immer durchführbar ist. Dies merkte ich besonders bei einem Kapitel über politische Hintergründe, welches versucht, auf wenig Raum zahlreiche Aspekte eines ohnehin komplexen Themas zu erklären und dadurch zu einer anstrengenden Aufzählung von Fakten und Namen wird, die den Leser schier erschlagen. Auch manche anderen Kapitel haben etwas Aufzählendes, während wieder andere herrlich anschauliche Informationen vermitteln und uns in die Lebenswelt jener Zeit eintauchen lassen.

Erfreulich ist, daß der Autor viele Zusammenhänge ausgezeichnet erklärt und somit zu einem Verständnis für diese Zeit beiträgt, welche über die reine Faktenvermittlung hinausgeht. Auch die Verknüpfungen von Dürers Leben zu allgemeinen Aspekten sind ausgezeichnet gelungen. Die Themenvielfalt ist bemerkenswert und wir erfahren hier sogar Dinge, die viele andere Bücher auslassen, so ist ein Thema dem Humor gewidmet, und wenn es um Sinneseindrücke geht, wird nicht nur lapidar erklärt, daß es auf den Straßen wenig angenehm gerochen haben muß, sondern wir werden geradezu auf eine Sinnesreise mitgenommen. Hier liest man nicht nur, man erlebt es fast schon mit.

Im Anhang findet sich ein umfangreiches, nach Themen geordnetes Literaturverzeichnis, welches nur ein weiteres Zeichen für die unglaubliche Hingabe, Arbeit und Sorgfalt ist, die in dieses Buch mit seiner enormen Informationsfülle einflossen. Auch wenn sich stilistisch manches lesefreundlicher gestalten ließe, würde ich das Experiment, sich der Epoche durch Dürer und seine Werke zu nähern, als gelungen bezeichnen. Ich habe viel Neues gelernt, wurde mir über manche Zusammenhänge bewußt, habe einen neuen Zugang zu den Menschen jener Zeit bekommen und eine enorme Hochachtung vor Dürer und seinem Werk erlangt.

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Veröffentlicht am 28.08.2023

Eine sprachliche Freude

Eigentum
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„Eigentum“ hat mich von der ersten Seite an aufgrund des wundervollen Umgangs mit Sprache gepackt. Wolf Haas teilt seine Gedanken und Beobachtungen mit einem herrlich trockenen Humor mit, ohne daß die ...

„Eigentum“ hat mich von der ersten Seite an aufgrund des wundervollen Umgangs mit Sprache gepackt. Wolf Haas teilt seine Gedanken und Beobachtungen mit einem herrlich trockenen Humor mit, ohne daß die Sensibilität des Themas darunter leidet. Wir begleiten nämlich Wolf Haas‘ Mutter auf ihren letzten beiden Lebenstagen und von dort aus durch Teile ihres Lebens. Es ist eine harte, entbehrungs- und enttäuschungsreiche Lebensgeschichte, welche die Mutter laut Aussage eine Dorfbewohnerin zu einer „schwierigen Person“ macht, während ihr eigener Sohn sie als „verrückt“ bezeichnet. Die Geschichte wird uns in allerlei Zeitsprüngen erzählt, die ausgezeichnet miteinander verwoben sind.
Die Leser sitzen mit dem Autor neben seiner Mutter, gehen mit ihm an Orte seiner und ihrer Vergangenheit, haben teil an seinen gelegentlich mäandernden Überlegungen. Diese resultieren in manchmal sprunghaften Themenwechseln, die interessant zu lesen sind und dafür sorgen, daß der Text wie eine Wundertüte wirkt, bei der man nie weiß, was als nächstes kommt. Es ist vor allem diese Sprachvirtuosität, welche das Buch so überzeugend macht, denn auch wenn die Lebensgeschichte der Mutter nicht uninteressant ist, so ist sie keineswegs so außergewöhnlich, daß sie an sich schon spannende Lektüre ausmacht. Das merkt man insbesondere in den Passagen, in denen Haas‘ Mutter direkt erzählt, wir also ihre eigenen Worte lesen. Es bringt eine persönliche Note in das Buch, die Stimme der Frau zu lesen, von welcher das Buch handelt, aber hinsichtlich des Lesevergnügens fielen diese Passagen vom Stil und den detailreich berichteten Nebensächlichkeiten her ziemlich ab.
Auch der Autor selbst verlor sich oft in weniger interessanten Details und Überlegungen, setzt zudem gerne Wiederholungen als Stilmittel ein (worauf er im Text selbst Bezug nimmt). Letztere schwächten den Text für mich häufig. Auch fehlte mir in der Geschichte ein wenig die spätere Entwicklung der Mutter, hier wird vieles angedeutet und hinterläßt Fragen.
Das Leitthema „Eigentum“, welchem die im Jahr der Hyperinflation Geborene jahrzehntelang trotz harter Arbeit erfolglos hinterherrennt, um schließlich resigniert aufzugeben und das so ersehnte Stück Land erst mit der eigenen Grabstelle zu erlangen, ist ausgezeichnet gewählt und zeigt die Tragik dieses Lebens. Es liegt eine Melancholie über dem Buch, immer wieder kurz aufgehellt von dem lakonischen Humor. Trotz mancher langatmiger Passagen ist „Eigentum“ eine überzeugende und erfreuliche Leseerfahrung, die einen sprachlich und vom Aufbau her elegant konzipierten Einblick in das Leben der Mutter und die Gedanken des Sohnes bietet.

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Veröffentlicht am 17.07.2023

Sympathisch und originell, Gewichtung nicht ganz mein Fall

Tobis Städtetrip
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Der Untertitel zu „Tobis Städtetrip“ verspricht: „Hessen ganz besonders entdecken“ und das ist durchaus kein leeres Versprechen. Hier wurde eine hr-Serie in Buchform umgesetzt. Ich kannte die Serie nicht ...

Der Untertitel zu „Tobis Städtetrip“ verspricht: „Hessen ganz besonders entdecken“ und das ist durchaus kein leeres Versprechen. Hier wurde eine hr-Serie in Buchform umgesetzt. Ich kannte die Serie nicht und habe mir erst danach eine Folge angesehen, was mir geholfen hat, einige der Dinge, die mir im Buch nicht zusagten, besser zu verstehen. Das erwähne ich deshalb, weil es hilfreich sein kann, das Konzept der Fernsehsendung zu kennen, um nicht mit falschen Erwartungen an das Buch heranzugehen.

Das Buch nimmt seinen Text letztlich aus den in der Sendung gesprochenen Texten und versieht diese mit vielen Fotos aus den Folgen. Alle Fotos sind in Farbe, fast durchweg gut gelungen, überhaupt ist die visuelle Gestaltung ansprechend. Kleine, zusammenfassende Bemerkungen in blauen, kreisförmigen Feldern lockern den Text noch zusätzlich auf. Der Text liest sich überwiegend gut, teilweise wurde mir die Lesefreude ein wenig beeinträchtigt, wenn es betont locker mit Begriffen wie „Style“, „Tattoo“ oder „Location“ zugange ging, die Leser geduzt werden oder die Lesbarkeit durch die Unterwerfung unter das Gender-Diktat (wenigstens nicht mit grausigen Sonderzeichen) litt. Allgemein aber macht das Lesen Spaß.
Jedes Städtekapitel beginnt mit einer kleinen Einführung und endet mit einem Fazit. Letztere fand ich besonders erfreulich und habe mich immer darauf gefreut. Sie sind sehr persönlich, fassen alles gelungen zusammen und haben Pfiff. Auch der Text selbst ist oft sehr persönlich gehalten. Das hat mir beim Lesen sehr gefallen, denn Tobi läßt uns immer wieder an seinen Gedanken teilhaben. Und wenn man dann zur Unionskirche in Idstein liest, daß Tobi ein paar Klänge auf der Orgel spielen darf und er schlicht berichtet: „Bis in die letzte Reihe klingt der Ton und macht mir eine kleine Gänsehaut. So schön ist das“, dann haben wir wirklich daran teil und empfinden es weit besser als bei jeder kunstvollen, aber unpersönlichen Beschreibung. In einem Luftschutzbunker in Kassel schildert Tobi: „Hier gibt es keinen Komfort, nur raue Steinwände und Stehplätze für Hunderte, dicht gedrängte Menschen. Körper an Körper warteten sie hier, bis das Schlimmste vorbei war. Bei dem Gedanken daran schnürt sich mir die Kehle zu.“ Diese Unmittelbarkeit der Gedanken ist eine große Stärke des Buches und macht den Text ungemein sympathisch.

Die Auswahl der Einträge hat mir oft weniger zugesagt. Da half es, sich auf das Konzept der Sendung zu besinnen und darauf, daß dieses Buch kein Reiseführer im herkömmlichen Sinne ist. Viele herrliche Aspekte der Orte, über die hier berichtet wird, kann man in den Sendungen sehen, ohne daß viele Worte gemacht werden müssen – die Bilder sprechen dann bei malerischen Altstädten oder prächtigen Burgen für sich. Bei der Umsetzung in die Buchform hätte man daran denken sollen, daß sich dies nicht ohne weiteres in die Schriftform transportieren läßt. So war ich bei den Beschreibungen oft befremdet, wenn die wesentlichen Schönheiten eines Ortes gar nicht erwähnt oder mit ein, zwei lapidaren Sätzen abgetan wurden, während man lauter Cafés, Restaurants oder Geschäfte beschrieben bekommt. Bei manchen Orten dachte ich: „Gut, jetzt weiß ich, was ich essen und kaufen kann, aber was kann ich sehen?“ Auch die Geschichten von Leuten, die sich mit ihrem Restaurant/Geschäft o.ä. ihren Traum verwirklicht haben, ähnelten sich irgendwann zu sehr, um so geballt interessant zu sein – das funktioniert in einem Fernsehformat einfach besser. Hier hätte man bei der Übertragung von Fernseh- auf Buchformat etwas besser auf die Stärken und Schwächen jedes Mediums achten und den Inhalt entsprechend anpassen können. Die zeigt sich exemplarisch am Kapitel zu Königstein/Kronberg. So wird im Text die Königsteiner Burg recht ausführlich bedacht, die absolut sehenswerte Kronberger Burg aber mit keinem einzigen Wort erwähnt, während sie in der Fernsehsendung den – wenn auch sehr kurzen – Auftakt bildet. In diesem Kapitel zeigt sich leider auch ein ziemlich dicker Schnitzer: das für Kronberg erwähnte „Sofias Cafe“ gibt es dort gar nicht mehr. Ein solches Café befindet sich weiterhin in Königstein (und es ist auch dieses, welches in der Fernsehsendung besucht wird), in Kronberg wird der Besucher aber etwas enttäuscht vor einer Physiotherapiepraxis stehen. Nicht mehr existierende Lokalitäten sollten in einem gerade erst erschienenen Buch nicht vorkommen, hier wäre mehr Sorgfalt angebracht gewesen.

Sehr oft hatte ich aber auch viel Freude an den kleinen Geschichten und historischen Hintergründen zu diversen Sehenswürdigkeiten. Es wird anschaulich und vielfältig berichtet, immer mit dieser persönlichen Note, die das Buch so angenehm macht. Ich habe hier einiges Bekannte unterhaltsam gelesen und viel Neues erfahren. Es gab zahlreiche Anregungen, was man in Hessen alles entdecken kann und auch wenn mir persönlich insgesamt die Gewichtung nicht zusagte, ist bemerkenswert, welche originellen Orte hier vorgestellt werden und wie unterschiedlich diese sind. Hier und da hätte die Umsetzung von Fernsehsendung auf Buch besser gestaltet werden können, aber „Tobis Städtetrip“ ist eine sympathische Reise durch Hessen, auf dem man dieses Bundesland wirklich „ganz besonders“ entdecken kann.

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