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Veröffentlicht am 27.03.2020

Düster aber zugleich auch bunt und auf kuriose Weise schön!

The Doll Factory
1

Ich habe schon seit Längerem keinen historischen Roman mehr gelesen, da mein großes Problem mit dem Genre ist, dass die Geschichten häufig entweder zum Einschlafen langweilig oder absolut unglaubwürdig ...

Ich habe schon seit Längerem keinen historischen Roman mehr gelesen, da mein großes Problem mit dem Genre ist, dass die Geschichten häufig entweder zum Einschlafen langweilig oder absolut unglaubwürdig aus der Luft gegriffen sind. Es ist wirklich schwierig, historische Romane zu finden, die den Spagat zwischen korrekter Darstellung und spannender Unterhaltung schaffen, doch da ich mein Leseprogramm gerne bunt durchmische und die Geschichte interessant klang, habe ich mir trotzdem ein Exemplar angefragt. Gut für mich, denn statt einer netten Abwechslung erhielt ist eine eindrückliche, düstere aber zugleich auch bunte und auf kuriose Weise schöne Geschichte, die ich bestimmt nicht so schnell vergessen werde.


"Ich will Sie malen, weil Sie interessant sind. Ihre Erscheinung ist majestätisch. Ihr Gesicht... Ihr Gesicht ist ebenso schön wie verwirrend. Und Ihr Haar! Ein Wald aus Nadeln könnte es nicht bändigen, davon bin ich überzeugt. Wirklich außergewöhnlich!"


Der blaue Buchumschlag aus Papier zeigt im Mittelpunkt ein vergilbtes Mannequin mit dem Abdruck alter Zeitungsausschnitte, hinter dem braue Schmetterlingsflügel hervorschauen. Umrankt wird das Hauptmotiv von Rosen und noch geschlossenen Iris, wodurch alle Teile der Geschichte auf wundervolle Art und Weise mit eingebracht wurden: Iris und ihre Schwester Rose, die Puppenmanufaktur, Silas mit seiner Kuriositätensammlung und Schmetterlingsfenstern und die Kunst, um die sich alles dreht. Der Titel "The Doll Factory" wurde in 3D-Schrift auch haptisch hervorgehoben und ist nicht unpassend, auch wenn es sich mir nicht ganz erschließt, warum die Geschichte ausgerechnet nach der Puppenmanufaktur benannt ist, die bestenfalls eine Nebenrolle spielt. Auch das Originalcover ist ein kleines Kunstwerk und enthält sogar noch mehr Details, wirkt aber viel verspielter. Das ernstere, düstere deutsche Cover gefällt mir da besser! Innerhalb der Buchdeckel ist die Gestaltung schlicht aber angenehm. Die Innenseiten der Buchdeckel sind mit Schmetterlingen und Faltern bedeckt, unter dem Umschlag blitzt ein schlichtes Hellblau hervor. Geteilt ist die Geschichte in drei Teile, die durch passende Zitate eingeleitet werden. Außerdem gibt es keine durchnummerierten Kapitel, nur Abschnitte mit Überschriften, die ab und an von Briefen, Notizen und Infoschreiben in schmuckloser Kursivschrift unterbrochen werden. Abgerundet wird die Gestaltung von einem blauen Lesebändchen.


Erster Satz: "Wenn die Straßen am stillsten und dunkelsten sind, setzt eine junge Frau sich im Keller der Puppenmanufaktur an ein kleines Pult."


So beginnen wir die Geschichte der jungen Iris Whittle, die gefangen im Korsett ihrer gesellschaftlichen Stellung von Freiheit und Erfüllung in der Malerei träumt. Auch nach zwanzig Stunden Arbeit in der kleinen Puppenmanufaktur, in der sie zusammen mit ihrer von den Pocken entstellten Zwillingsschwester Rose Porzellanpuppen herstellt, setzt sie sich bei kostbarem Kerzenlicht hin und malt mit Farben, die sie mit mühsam zusammengekratztem Lohn gekauft hat. Als sie von dem jungen Maler Louis Frost gebeten wird, für ihn gegen eine gute Bezahlung und Unterricht Modell zu stehen, klingt das Angebot viel zu gut um wahr zu sein und sie vermutet eine Falle. Doch dann siegen ihre Neugier und ihr Traum über die Stimme der Vernunft und sie taucht ein in eine ihr bislang unbekannte Welt voller Farben, Glück und Liebe.

Abwechselnd mit ihr erhalten wir auch Einblick in das Leben des Kuriositätensammlers Silas Reed, der sich nach einem Treffen auf der Straße sofort in die majestätische Erscheinung von Iris verliebt. Als diese jedoch nicht auf seine Annäherungsversuche reagiert und für ihn nur die kalte Schulter übrig hat, auch als seine Leidenschaft sich zur Besessenheit steigert, beginnt ein Plan in ihm zu reifen. Mit jeder Verschmähung, Demütigung oder Ausgrenzung, die er erdulden muss, rückt die Eskalation näher und über dem jungen Glück von Louis und Iris schwebt ein Damoklesschwert...


"Und da verschmelzen alle Visionen zu einem glasklaren Bild. Zitternd vor Dankbarkeit erkennt er, was zu tun ist, wie er sich dieses Blickes würdig erweisen und sie ganz für sich allein haben kann. Wie er sie entzücken und die Traurigkeit von ihr abwaschen wird. Ein Glücksgefühl durchflutet ihn, ein bebender, zögerlicher Nervenkitzel, den er nicht benennen kann und den er am liebsten in einen Flakon abfüllen würde. Die Empfindung ist schöner als in Shaffordshire über die Wiesen zu laufen oder den gehörnten Schädel eines Widders zu finden, oder als Flick endlich zu besitzen, ihren Mund ganz allein für sich zu haben. Sie wird ihm gehören."


Ein weiterer Handlungsstrang ist der des kleinen Straßenjungens Albie, der zusammen mit seiner großen Schwester in einem heruntergekommenen Bordell wohnt und mit niederen Arbeiten über die Runden zu kommen versucht. Während seine Schwester sich prostituiert, sammelt er für Silas Tierkadaver von den Straßen auf, die er dann ausstopfen kann, näht für Iris´ Puppen kleine Leibchen und Röcke und steht später ebenfalls für Louis Modell. So verbinden sich die drei unterschiedlichen Handlungsstränge und die Protagonisten aus den unterschiedlichen Gesellschaftsschichten finden u einer spannenden Geschichte zusammen, die nicht für alle von ihnen gut ausgehen wird...


"Lügner, Teufel, Spanner. So viele Leute haben ihn ausgelacht, abgelehnt und gequält. Er schlägt mit der Faust auf die Tischplatte und steht so abrupt auf, dass der Stuhl beinahe umkippt. Er beschließt, ihr einen Besuch abzustatten."


"The Doll Factory" ist kein sonniges Buch, sondern ein sehr authentisches Porträt des viktorianischen Londons gemischt mit einer romantischen Liebesgeschichte. Und wenn ich authentisch schreibe, muss ich anmerken, dass es mir an manchen Stellen fast ein wenig zu authentisch für meinen Geschmack war, sodass ich fast glaubt, den bestialischen Gestank der Gosse durch die Seiten riechen, das Klappern der Kutschräder in den engen, dreckigen Gassen hören, die madigen Kadaver von unter die Räder gekommenen Tieren sehen, die Bisse der Flöhe auf meiner Haut spüren und den Geschmack von glibberigem Rindertalg auf meiner Zunge schmecken zu können. Eine Erfahrung, auf die ich sehr gut hätte verzichte können... Der sehr direkte, detailreiche Schreibstil der Autorin schreckt vor teilweise ekelhafter, expliziter Darstellung nicht zurück und erzählt schonungslos von verwesende Leichen, ausgeleerten Nachttöpfe, Gewalt, Prostitution, allerlei Blut, Schleim und diversen andere Körperflüssigkeiten. Meine ausdrückliche Warnung an alle zartbesaiteten Leser: Elizabeth Macneal nimmt keinerlei Rücksicht auf den empfindlichen Magen oder das mitleidende Herz des Lesers (Stichwort für alle, die das Buch gelesen haben: Albie). Sehr beeindruckend ist jedoch, dass der ausschweifende, bildhafte Schreibstil, der ein lebensechtes Bild von London um 1850 malt, der Handlung niemals im Weg steht und die Geschehnisse nur geringfügig ausbremst.


"Albie rennt, wie er noch nie gerannt ist. Er rennt, als treibe eine Dampfmaschine seine Beine an. Die kühle Luft brennt ihm in der Kehle, der Weg scheint Stunden zu dauern. Er besinnt sich auf die besten Abkürzungen und wählt Straßen, die er kennt wie seine Westentasche. Er ist noch ein Kind, ein Junge aus der Gosse, aber er fühlt sich groß und stark. Er wird sie warnen. Er hat Silas nicht aus den Augen gelassen und den richtigen Moment abgewartet. Er weiß, was niemand sonst weiß."


Neben dem abstoßenden Teil kommt die Aufbruchsstimmung der fortschreitenden Industrialisierung und des technischen Fortschritts, die das Setting prägt sehr schön durch. Neben der Neugier der Menschen wegen der Weltausstellung und einem Bild der Gesellschaft durch verschiedene Schichten, konzentriert sich Elizabeth Macneal vor allem auf die Kunst und die frisch gegründete Präraffaelitische Bruderschaft, die als Reaktion auf die festgefahrene akademische Tradition in der Malerei entstand. Ich gebe zu, dass ich mich mit Kunstgeschichte nicht besonders gut auskenne und nach dem Lesen erstmal Dr. Wikipedia zurate ziehen musste, um zu verstehen, dass die dargestellte Geschichte und die vorkommenden Figuren zu einem großen Teil auf wirklichen historischen Begebenheiten beruhen. So lernen wir unter anderem die jungen Künstler John Millais, William Hunt und die Brüder Rossetti kennen, von denen es heute etliche Bilder zum Bestaunen gibt, erfahren beiläufig etwas über die Motive, künstlerische Ziele und Ausdrucksweise der Bruderschaft und bekommen durch etliche real existierenden Bildern und Anspielungen bewiesen, dass die Autorin gut für ihre Geschichte recherchiert hat. Zum Beispiel sind wir live dabei, als John Millais bei einem gemeinsamen Abendessen seinen größten Erfolg, die "Ophelia" plant, für das sein Modell Elizabeth Siddall (später Siddal), in einer Badewanne liegen muss, wobei sie sich eine lebensgefährliche Lungenentzündung zuziehen wird. Auch die ab und an abgedruckten Briefe an die Times des bedeutendsten Kunsthistorikers der Zeit, John Ruskin, die der Auslöser für den Wandel der öffentlichen Wahrnehmung der Bruderschaft waren, zeugen von guter Recherche.


"Es ist, als wäre ihr Leben eine nüchterne Kohleskizze gewesen, die plötzlich mit lebhaften Ölfarben übermalt wurde. (…) Sie öffnet den Mund, eine Schneeflocke landet auf ihrer Zunge. "Kannst du die fangen?", fragt sie und zeigt auf eine riesige Flocke, fast so groß wie eine Pusteblume. Louis stellt sich darunter und schnappt zu wie ein Terrier. "Was gibt es zu gewinnen?"
"Ewigen Ruhm."
"Ach so", sagt er. "Ich wusste nicht, dass es so einfach ist."


Mit Louis und Iris hat die Autorin zwei fiktive Charaktere gewählt, um frei eine Geschichte rund um die wahren Begebenheiten erzählen zu können. Zwar zeigen die beiden Parallelen zu wirklichen Charakteren (der Künstler und seine schöne Muse könnten eine etwas abgewandelte Form von Rossettis und Liddalls Geschichte sein), da aber die wirklichen Charaktere separat in der Geschichte vorkommen wird klar, dass die Autorin sich hier künstlerische Freiheit erlaubt hat. Die eingebettete zarte Liebesgeschichte zwischen Louis und Iris, die sich ganz langsam, getragen von einer gemeinsamen Leidenschaft und dem Wunsch nach Freiheit, entwickelt, wirkt fast zu rein und sanft, um Teil der dreckigen, stinkenden, unheimlich fremden Welt zu sein, die Elizabeth Macneal hier geschaffen hat. Der Maler mit den dunklen Locken, seine Freunde und die kleine Wombat-Dame Guineveres eroberten schnell mein Herz. Genau wie für Iris ist die kleine schöne, heile Welt voller Kunst, Glück und Licht, die sie bei Louis findet, eine herrliche Abwechslung, eine Insel in all dem Leid und Dreck um sie herum. Iris´ Charakter selbst war wunderbar komplex, gegen Ende aber leider ein wenig unrealistisch. Von einer prüden, verklemmten, wohlerzogenen grauen Maus, also einer Frau ihrer Zeit wandelt sie sich in eine zielstrebige, beinahe feministisch anmutende Königin, die ihr Leben stark selbst in die Hand nimmt. Ausgelebte Kunst und Brechen mit Tabus hin oder her - ob dies tatsächlich eine glaubhafte Entwicklung im viktorianischen Zeitalter ist, bleibt fragwürdig. Die Darstellung ihrer neu entdeckten Leidenschaft für die Kunst, ihrer von der Gesellschaft abgesprochenen Sexualität und ihre eigene Entscheidungsfreiheit hat mir aber sehr imponiert. Ein wenig haben mich die Kunstbeschreibungen an "Das Lapislazuliherz" erinnert, auch wenn dieses in einer ganz anderen Zeit spielt.


"Dort drüben", sagt sie. Louis dreht sich um. Es hängt auf Augenhöhe, absolut gerade und in der Mitte des Westsaals. Ein schimmernder, von bräunlichen Gemälden umrahmter Farbfleck. Sie ist vor aller Welt ausgestellt. Er hat sie auf der Leinwand fixiert und in ein vergoldetes Rechteck gesperrt. Da steht sie, lebensecht und im Augenblick erstarrt. Er hat sie in ihrer ganzen Schönheit eingefangen."


Beeindruckend ist, dass neben der sich entwickelnden Romanze, Iris´ Selbstfindung und künstlerischer Emanzipation und den historischen Begebenheiten noch Raum für weitere Entwicklungen und Aspekte bleibt. Gut gefallen hat mir die Darstellung von Iris´ Beziehung zu ihrer Zwillingsschwester Rose, die zwar von Neid, Bitterkeit und Missverständnissen, aber auch von enger Verbundenheit und Liebe geprägt ist. Auch der kleine Albie ist ein einfach gestrickter aber doch vielschichtiger Protagonist, bei dem einem einfach das Herz aufgeht.

Für ordentlich Spannung sorgen hingegen die Einblicke in das kranke, verdrehte Gehirn des Kuriositätensammlers Silas Reed, der zu Beginn noch gar nicht so verrückt, sondern in erster Linie einsam und etwas verschroben wirkt. Erst nach einigen hundert Seiten und vielen kleinen Anspielungen wird dem Leser klar, dass wir in die verquere Gedankenwelt eines Serienmörders eingestiegen sind. Die Art und Weise wie die Autorin unser Bild von dieser Figur immer wieder aufs Neue ändert, unsere Gefühle von Zuneigung über Mitleid bis hin zu Abscheu, Ekel und ungläubigem Schock wechseln lässt, ist wirklich krass. Exzessives Stalking, krankhafte Besessenheit, immense Selbstleugnung, das Abtauchen in Fantasiewelten und ein gefährlicher Plan - bald mutet die Geschichte an wie ein Psychothriller. Die kommende Eskalation erscheint bald zum Greifen nahe und wir bangen und hoffen, dass die liebgewonnenen Protagonisten diese überstehen.


"Komm herunter, denkt sie, sprich mit mir, gib mir etwas zu essen. Was sie meint: Lass mich nicht hier unten sterben. Sie hat Todesangst.
Der Vogel.
Die verklebten Flügel.
Nun sitzt sie im Käfig, und kein Kind ist in der Nähe, das die Gitterstäbe zerbrechen könnte."


Die letzten Kapitel lesen sich spannend wie ein Thriller und ich musste einfach in dem Wettlauf gegen die Zeit mit fiebern: wird Iris es schaffen, den Fängen ihres Verehrers zu entwischen? Gibt es ein Happy End? Ab gewissen Stellen der Geschichte, die mein armes Leserherz gebrochen haben, hätte ich ihr wirklich alles zugetraut. Und so wollte ich gleichzeitig, dass das Buch endlich aufhört und dass es niemals endet. Das wirkliche Ende hätte ich mir noch ein wenig ausführlicher gewünscht. Man erfährt in einer kurzen Bildbeschreibung von Iris Meisterwerk zwar alles, was man über den weiteren Fortgang der Handlung wissen muss, dennoch hätte sich mein Leserherz ein paar detailliertere Ausführungen gewünscht.



Fazit:


Ein beeindruckend vielschichtiger, düsterer aber zugleich auch bunter und auf kuriose Weise schöner historischer Roman, der mich mitgerissen, beschäftigt und berührt hat, sodass ich ihn gewiss lange nicht vergessen werde.

Auch wenn das lebensechte Porträt des viktorianischen Londons, die gute Recherche der Autorin, die komplexen Charaktere und der Thriller-Showdown mich wirklich überzeugt haben, war der Roman für meinen Geschmack zu düster, zu eklig und im Erzähltempo streckenweise zu langsam und überladen, als dass ich 5 Sterne vergeben würde.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 27.03.2020

Düster aber zugleich auch bunt und auf kuriose Weise schön!

The Doll Factory
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Ich habe schon seit Längerem keinen historischen Roman mehr gelesen, da mein großes Problem mit dem Genre ist, dass die Geschichten häufig entweder zum Einschlafen langweilig oder absolut unglaubwürdig ...

Ich habe schon seit Längerem keinen historischen Roman mehr gelesen, da mein großes Problem mit dem Genre ist, dass die Geschichten häufig entweder zum Einschlafen langweilig oder absolut unglaubwürdig aus der Luft gegriffen sind. Es ist wirklich schwierig, historische Romane zu finden, die den Spagat zwischen korrekter Darstellung und spannender Unterhaltung schaffen, doch da ich mein Leseprogramm gerne bunt durchmische und die Geschichte interessant klang, habe ich mir trotzdem ein Exemplar angefragt. Gut für mich, denn statt einer netten Abwechslung erhielt ist eine eindrückliche, düstere aber zugleich auch bunte und auf kuriose Weise schöne Geschichte, die ich bestimmt nicht so schnell vergessen werde.


"Ich will Sie malen, weil Sie interessant sind. Ihre Erscheinung ist majestätisch. Ihr Gesicht... Ihr Gesicht ist ebenso schön wie verwirrend. Und Ihr Haar! Ein Wald aus Nadeln könnte es nicht bändigen, davon bin ich überzeugt. Wirklich außergewöhnlich!"


Der blaue Buchumschlag aus Papier zeigt im Mittelpunkt ein vergilbtes Mannequin mit dem Abdruck alter Zeitungsausschnitte, hinter dem braue Schmetterlingsflügel hervorschauen. Umrankt wird das Hauptmotiv von Rosen und noch geschlossenen Iris, wodurch alle Teile der Geschichte auf wundervolle Art und Weise mit eingebracht wurden: Iris und ihre Schwester Rose, die Puppenmanufaktur, Silas mit seiner Kuriositätensammlung und Schmetterlingsfenstern und die Kunst, um die sich alles dreht. Der Titel "The Doll Factory" wurde in 3D-Schrift auch haptisch hervorgehoben und ist nicht unpassend, auch wenn es sich mir nicht ganz erschließt, warum die Geschichte ausgerechnet nach der Puppenmanufaktur benannt ist, die bestenfalls eine Nebenrolle spielt. Auch das Originalcover ist ein kleines Kunstwerk und enthält sogar noch mehr Details, wirkt aber viel verspielter. Das ernstere, düstere deutsche Cover gefällt mir da besser! Innerhalb der Buchdeckel ist die Gestaltung schlicht aber angenehm. Die Innenseiten der Buchdeckel sind mit Schmetterlingen und Faltern bedeckt, unter dem Umschlag blitzt ein schlichtes Hellblau hervor. Geteilt ist die Geschichte in drei Teile, die durch passende Zitate eingeleitet werden. Außerdem gibt es keine durchnummerierten Kapitel, nur Abschnitte mit Überschriften, die ab und an von Briefen, Notizen und Infoschreiben in schmuckloser Kursivschrift unterbrochen werden. Abgerundet wird die Gestaltung von einem blauen Lesebändchen.


Erster Satz: "Wenn die Straßen am stillsten und dunkelsten sind, setzt eine junge Frau sich im Keller der Puppenmanufaktur an ein kleines Pult."


So beginnen wir die Geschichte der jungen Iris Whittle, die gefangen im Korsett ihrer gesellschaftlichen Stellung von Freiheit und Erfüllung in der Malerei träumt. Auch nach zwanzig Stunden Arbeit in der kleinen Puppenmanufaktur, in der sie zusammen mit ihrer von den Pocken entstellten Zwillingsschwester Rose Porzellanpuppen herstellt, setzt sie sich bei kostbarem Kerzenlicht hin und malt mit Farben, die sie mit mühsam zusammengekratztem Lohn gekauft hat. Als sie von dem jungen Maler Louis Frost gebeten wird, für ihn gegen eine gute Bezahlung und Unterricht Modell zu stehen, klingt das Angebot viel zu gut um wahr zu sein und sie vermutet eine Falle. Doch dann siegen ihre Neugier und ihr Traum über die Stimme der Vernunft und sie taucht ein in eine ihr bislang unbekannte Welt voller Farben, Glück und Liebe.

Abwechselnd mit ihr erhalten wir auch Einblick in das Leben des Kuriositätensammlers Silas Reed, der sich nach einem Treffen auf der Straße sofort in die majestätische Erscheinung von Iris verliebt. Als diese jedoch nicht auf seine Annäherungsversuche reagiert und für ihn nur die kalte Schulter übrig hat, auch als seine Leidenschaft sich zur Besessenheit steigert, beginnt ein Plan in ihm zu reifen. Mit jeder Verschmähung, Demütigung oder Ausgrenzung, die er erdulden muss, rückt die Eskalation näher und über dem jungen Glück von Louis und Iris schwebt ein Damoklesschwert...


"Und da verschmelzen alle Visionen zu einem glasklaren Bild. Zitternd vor Dankbarkeit erkennt er, was zu tun ist, wie er sich dieses Blickes würdig erweisen und sie ganz für sich allein haben kann. Wie er sie entzücken und die Traurigkeit von ihr abwaschen wird. Ein Glücksgefühl durchflutet ihn, ein bebender, zögerlicher Nervenkitzel, den er nicht benennen kann und den er am liebsten in einen Flakon abfüllen würde. Die Empfindung ist schöner als in Shaffordshire über die Wiesen zu laufen oder den gehörnten Schädel eines Widders zu finden, oder als Flick endlich zu besitzen, ihren Mund ganz allein für sich zu haben. Sie wird ihm gehören."


Ein weiterer Handlungsstrang ist der des kleinen Straßenjungens Albie, der zusammen mit seiner großen Schwester in einem heruntergekommenen Bordell wohnt und mit niederen Arbeiten über die Runden zu kommen versucht. Während seine Schwester sich prostituiert, sammelt er für Silas Tierkadaver von den Straßen auf, die er dann ausstopfen kann, näht für Iris´ Puppen kleine Leibchen und Röcke und steht später ebenfalls für Louis Modell. So verbinden sich die drei unterschiedlichen Handlungsstränge und die Protagonisten aus den unterschiedlichen Gesellschaftsschichten finden u einer spannenden Geschichte zusammen, die nicht für alle von ihnen gut ausgehen wird...


"Lügner, Teufel, Spanner. So viele Leute haben ihn ausgelacht, abgelehnt und gequält. Er schlägt mit der Faust auf die Tischplatte und steht so abrupt auf, dass der Stuhl beinahe umkippt. Er beschließt, ihr einen Besuch abzustatten."


"The Doll Factory" ist kein sonniges Buch, sondern ein sehr authentisches Porträt des viktorianischen Londons gemischt mit einer romantischen Liebesgeschichte. Und wenn ich authentisch schreibe, muss ich anmerken, dass es mir an manchen Stellen fast ein wenig zu authentisch für meinen Geschmack war, sodass ich fast glaubt, den bestialischen Gestank der Gosse durch die Seiten riechen, das Klappern der Kutschräder in den engen, dreckigen Gassen hören, die madigen Kadaver von unter die Räder gekommenen Tieren sehen, die Bisse der Flöhe auf meiner Haut spüren und den Geschmack von glibberigem Rindertalg auf meiner Zunge schmecken zu können. Eine Erfahrung, auf die ich sehr gut hätte verzichte können... Der sehr direkte, detailreiche Schreibstil der Autorin schreckt vor teilweise ekelhafter, expliziter Darstellung nicht zurück und erzählt schonungslos von verwesende Leichen, ausgeleerten Nachttöpfe, Gewalt, Prostitution, allerlei Blut, Schleim und diversen andere Körperflüssigkeiten. Meine ausdrückliche Warnung an alle zartbesaiteten Leser: Elizabeth Macneal nimmt keinerlei Rücksicht auf den empfindlichen Magen oder das mitleidende Herz des Lesers (Stichwort für alle, die das Buch gelesen haben: Albie). Sehr beeindruckend ist jedoch, dass der ausschweifende, bildhafte Schreibstil, der ein lebensechtes Bild von London um 1850 malt, der Handlung niemals im Weg steht und die Geschehnisse nur geringfügig ausbremst.


"Albie rennt, wie er noch nie gerannt ist. Er rennt, als treibe eine Dampfmaschine seine Beine an. Die kühle Luft brennt ihm in der Kehle, der Weg scheint Stunden zu dauern. Er besinnt sich auf die besten Abkürzungen und wählt Straßen, die er kennt wie seine Westentasche. Er ist noch ein Kind, ein Junge aus der Gosse, aber er fühlt sich groß und stark. Er wird sie warnen. Er hat Silas nicht aus den Augen gelassen und den richtigen Moment abgewartet. Er weiß, was niemand sonst weiß."


Neben dem abstoßenden Teil kommt die Aufbruchsstimmung der fortschreitenden Industrialisierung und des technischen Fortschritts, die das Setting prägt sehr schön durch. Neben der Neugier der Menschen wegen der Weltausstellung und einem Bild der Gesellschaft durch verschiedene Schichten, konzentriert sich Elizabeth Macneal vor allem auf die Kunst und die frisch gegründete Präraffaelitische Bruderschaft, die als Reaktion auf die festgefahrene akademische Tradition in der Malerei entstand. Ich gebe zu, dass ich mich mit Kunstgeschichte nicht besonders gut auskenne und nach dem Lesen erstmal Dr. Wikipedia zurate ziehen musste, um zu verstehen, dass die dargestellte Geschichte und die vorkommenden Figuren zu einem großen Teil auf wirklichen historischen Begebenheiten beruhen. So lernen wir unter anderem die jungen Künstler John Millais, William Hunt und die Brüder Rossetti kennen, von denen es heute etliche Bilder zum Bestaunen gibt, erfahren beiläufig etwas über die Motive, künstlerische Ziele und Ausdrucksweise der Bruderschaft und bekommen durch etliche real existierenden Bildern und Anspielungen bewiesen, dass die Autorin gut für ihre Geschichte recherchiert hat. Zum Beispiel sind wir live dabei, als John Millais bei einem gemeinsamen Abendessen seinen größten Erfolg, die "Ophelia" plant, für das sein Modell Elizabeth Siddall (später Siddal), in einer Badewanne liegen muss, wobei sie sich eine lebensgefährliche Lungenentzündung zuziehen wird. Auch die ab und an abgedruckten Briefe an die Times des bedeutendsten Kunsthistorikers der Zeit, John Ruskin, die der Auslöser für den Wandel der öffentlichen Wahrnehmung der Bruderschaft waren, zeugen von guter Recherche.


"Es ist, als wäre ihr Leben eine nüchterne Kohleskizze gewesen, die plötzlich mit lebhaften Ölfarben übermalt wurde. (…) Sie öffnet den Mund, eine Schneeflocke landet auf ihrer Zunge. "Kannst du die fangen?", fragt sie und zeigt auf eine riesige Flocke, fast so groß wie eine Pusteblume. Louis stellt sich darunter und schnappt zu wie ein Terrier. "Was gibt es zu gewinnen?"
"Ewigen Ruhm."
"Ach so", sagt er. "Ich wusste nicht, dass es so einfach ist."


Mit Louis und Iris hat die Autorin zwei fiktive Charaktere gewählt, um frei eine Geschichte rund um die wahren Begebenheiten erzählen zu können. Zwar zeigen die beiden Parallelen zu wirklichen Charakteren (der Künstler und seine schöne Muse könnten eine etwas abgewandelte Form von Rossettis und Liddalls Geschichte sein), da aber die wirklichen Charaktere separat in der Geschichte vorkommen wird klar, dass die Autorin sich hier künstlerische Freiheit erlaubt hat. Die eingebettete zarte Liebesgeschichte zwischen Louis und Iris, die sich ganz langsam, getragen von einer gemeinsamen Leidenschaft und dem Wunsch nach Freiheit, entwickelt, wirkt fast zu rein und sanft, um Teil der dreckigen, stinkenden, unheimlich fremden Welt zu sein, die Elizabeth Macneal hier geschaffen hat. Der Maler mit den dunklen Locken, seine Freunde und die kleine Wombat-Dame Guineveres eroberten schnell mein Herz. Genau wie für Iris ist die kleine schöne, heile Welt voller Kunst, Glück und Licht, die sie bei Louis findet, eine herrliche Abwechslung, eine Insel in all dem Leid und Dreck um sie herum. Iris´ Charakter selbst war wunderbar komplex, gegen Ende aber leider ein wenig unrealistisch. Von einer prüden, verklemmten, wohlerzogenen grauen Maus, also einer Frau ihrer Zeit wandelt sie sich in eine zielstrebige, beinahe feministisch anmutende Königin, die ihr Leben stark selbst in die Hand nimmt. Ausgelebte Kunst und Brechen mit Tabus hin oder her - ob dies tatsächlich eine glaubhafte Entwicklung im viktorianischen Zeitalter ist, bleibt fragwürdig. Die Darstellung ihrer neu entdeckten Leidenschaft für die Kunst, ihrer von der Gesellschaft abgesprochenen Sexualität und ihre eigene Entscheidungsfreiheit hat mir aber sehr imponiert. Ein wenig haben mich die Kunstbeschreibungen an "Das Lapislazuliherz" erinnert, auch wenn dieses in einer ganz anderen Zeit spielt.


"Dort drüben", sagt sie. Louis dreht sich um. Es hängt auf Augenhöhe, absolut gerade und in der Mitte des Westsaals. Ein schimmernder, von bräunlichen Gemälden umrahmter Farbfleck. Sie ist vor aller Welt ausgestellt. Er hat sie auf der Leinwand fixiert und in ein vergoldetes Rechteck gesperrt. Da steht sie, lebensecht und im Augenblick erstarrt. Er hat sie in ihrer ganzen Schönheit eingefangen."


Beeindruckend ist, dass neben der sich entwickelnden Romanze, Iris´ Selbstfindung und künstlerischer Emanzipation und den historischen Begebenheiten noch Raum für weitere Entwicklungen und Aspekte bleibt. Gut gefallen hat mir die Darstellung von Iris´ Beziehung zu ihrer Zwillingsschwester Rose, die zwar von Neid, Bitterkeit und Missverständnissen, aber auch von enger Verbundenheit und Liebe geprägt ist. Auch der kleine Albie ist ein einfach gestrickter aber doch vielschichtiger Protagonist, bei dem einem einfach das Herz aufgeht.

Für ordentlich Spannung sorgen hingegen die Einblicke in das kranke, verdrehte Gehirn des Kuriositätensammlers Silas Reed, der zu Beginn noch gar nicht so verrückt, sondern in erster Linie einsam und etwas verschroben wirkt. Erst nach einigen hundert Seiten und vielen kleinen Anspielungen wird dem Leser klar, dass wir in die verquere Gedankenwelt eines Serienmörders eingestiegen sind. Die Art und Weise wie die Autorin unser Bild von dieser Figur immer wieder aufs Neue ändert, unsere Gefühle von Zuneigung über Mitleid bis hin zu Abscheu, Ekel und ungläubigem Schock wechseln lässt, ist wirklich krass. Exzessives Stalking, krankhafte Besessenheit, immense Selbstleugnung, das Abtauchen in Fantasiewelten und ein gefährlicher Plan - bald mutet die Geschichte an wie ein Psychothriller. Die kommende Eskalation erscheint bald zum Greifen nahe und wir bangen und hoffen, dass die liebgewonnenen Protagonisten diese überstehen.


"Komm herunter, denkt sie, sprich mit mir, gib mir etwas zu essen. Was sie meint: Lass mich nicht hier unten sterben. Sie hat Todesangst.
Der Vogel.
Die verklebten Flügel.
Nun sitzt sie im Käfig, und kein Kind ist in der Nähe, das die Gitterstäbe zerbrechen könnte."


Die letzten Kapitel lesen sich spannend wie ein Thriller und ich musste einfach in dem Wettlauf gegen die Zeit mit fiebern: wird Iris es schaffen, den Fängen ihres Verehrers zu entwischen? Gibt es ein Happy End? Ab gewissen Stellen der Geschichte, die mein armes Leserherz gebrochen haben, hätte ich ihr wirklich alles zugetraut. Und so wollte ich gleichzeitig, dass das Buch endlich aufhört und dass es niemals endet. Das wirkliche Ende hätte ich mir noch ein wenig ausführlicher gewünscht. Man erfährt in einer kurzen Bildbeschreibung von Iris Meisterwerk zwar alles, was man über den weiteren Fortgang der Handlung wissen muss, dennoch hätte sich mein Leserherz ein paar detailliertere Ausführungen gewünscht.



Fazit:


Ein beeindruckend vielschichtiger, düsterer aber zugleich auch bunter und auf kuriose Weise schöner historischer Roman, der mich mitgerissen, beschäftigt und berührt hat, sodass ich ihn gewiss lange nicht vergessen werde.

Auch wenn das lebensechte Porträt des viktorianischen Londons, die gute Recherche der Autorin, die komplexen Charaktere und der Thriller-Showdown mich wirklich überzeugt haben, war der Roman für meinen Geschmack zu düster, zu eklig und im Erzähltempo streckenweise zu langsam und überladen, als dass ich 5 Sterne vergeben würde.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 26.03.2020

"Verräter zahlen immer für ihre Sünden."

Kill the Queen
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Nachdem ich in letzter Zeit vor allem Liebesgeschichten und Dystopien gelesen habe, musste meine nächste Lektüre mal wieder ein guter Fantasy-Roman sein. Wie passend war es, dass mit "Kill the Queen" noch ...

Nachdem ich in letzter Zeit vor allem Liebesgeschichten und Dystopien gelesen habe, musste meine nächste Lektüre mal wieder ein guter Fantasy-Roman sein. Wie passend war es, dass mit "Kill the Queen" noch ein sehr spannendes Rezensionsexemplar auf meinem Stapel lag, welches mein erstes Buch von Jennifer Estep sein sollte. Und wie gut, dass mich dieser Auftakt einer neuen Reihe mit seinen tollen Schauplätze, der spannenden Handlung, aber vor allem mit der sympathischen, starken Protagonistin überzeugen konnte!

Das Cover ist zwar im typischen, unspektakulären Jugendbuch-Fantasy-Stil gehalten, dafür aber raffiniert gemacht und gefällt mir gut. Zusehen ist die Silhouette einer Frau mit wehenden Haaren und Schwert, die von einer geheimnisvollen Winterlandschaft ausgefüllt ist, was sich interessant vom hellen, himmelartigen Hintergrund abhebt. Nette Details, die gut zum Inhalt passen sind die schwarzen Federn, die vom Himmel herabregnen und die kleine blutige Splitterkrone, die auf dem "Q" im goldenen Titel thront. Auch innerhalb der Buchdeckel ziehen sich diese beiden Motive als roter Faden durch die Gestaltung. Jedes der 31 Kapitel wird von einer Krone überragt und die Anfangsseiten der drei großen Abschnitte, in die die Geschichte außerdem geteilt ist, werden mit den Federn geziert. Sehr schön ist auch die minimalistisch gezeichnete und sehr hilfreiche Karte, die in beiden Leselaschen abgedruckt ist.


Erster Satz: "Der Tag des königlichen Massakers begann wie jeder andere."


Schon mit dem ersten Satz macht die Autorin klar: diese Geschichte wird alles andere als langweilig. Nach einer kurzen Einführung in Evies Leben im Palast als "königliche Lückenbüßerin", die aufgrund ihrer fehlenden magischen Kraft zu allerlei langweiliger Events gehen und dort die Königsfamilie repräsentieren muss, geht es direkt mit einem blutigen Massaker weiter, das Evie nur mit Glück und knapp überlebt. Aufgrund ihrer geheimen Immunität gegen Magie, die sie seit dem Attentat auf ihre Eltern vor der Welt verborgen hält, entkommt sie der Verschwörung der Kronprinzessin Vasilia, doch wohin soll die mittellose Waise nun gehen? In ihrer Verzweiflung erinnert sie sich an die rätselhaften letzten Worte der sterbenden Königin, die sie zu ihrer ehemaligen Leibwächterin Serilda Swanson schickte, die nun in der Stadt eine berühmt-berüchtigte Gladiatorentruppe trainiert. Unter falschem Namen wird sie Teil der zirkusähnlichen Gruppe und trifft auf Akrobaten, Fabelwesen, bunte Figuren, enger Zusammenhalt aber auch blutige Kämpfe, Eifersucht, Machtspielchen und harte Trainings. Doch mit der Schlangengrube, in der sie sich im Palast jahrelang lächelnd durchkämpfen musste, ist die Arena ein Klacks und so beginnt die wütende Evie aus all ihren Talenten das Beste herauszuholen, lernt ihre versteckten Stärken einzusetzen und bereitet sich so auf den entscheidenden Kampf vor: ihre Rache an Vasilia.

Durch den dramatischen Beginn, wird man sofort gepackt und in die Geschehnisse in Bellona hineingezogen. Zwar erfindet die Autorin das Rad hier nicht neu - wir verfolgen eine Außenseiterin mit einer geheimen Gabe, die durch einen Schicksalsschlag zur Auserwählten wird, kämpfen lernt und ihr Königreich rettet -, doch trotz dass wir die Grundbausteine schon kennen, ist der Stoff so unterhaltsam und ansprechend aufgerollt, dass das kaum stört. Im Gegenteil: Jennifer Estep nutzt hier gezielt Fantasy-Klischees um uns zu unterhalten und holt das Beste aus jedem einzelnen hinaus ohne ins Unglaubwürdige oder Langweilige abzudriften. Die Außenseiterin mit der geheimen, versteckten Macht wird zusätzlich zu ihrer Immunität mit einer "Murksgabe", also einem verbesserten Geruchssinn, ausgestattet, der sie entgegen des Spotts aller in vielen Situationen weiterbringt als die machtvollste Blitzmagie. Der geheimnisvolle, starke Krieger/Prinz, in den sich die Protagonistin verliebt, wird nicht zum großen Retter sondern bleibt sehr im Hintergrund und wird auf den zweiten Teil vertröstet, während die Heldin sich selbst retten darf. Die typische Liebesgeschichte bleibt sehr dezent im Hintergrund, verkommt aber auch nicht zum unnötigen Beiwerk um die Story aufzuhübschen. Und sogar die typische hilfloses-Mädchen-lernt-im-Handumdrehen-kämpfen-und-besiegt-alle-Gegner-Nummer ist hier sehr glaubwürdig geschildert. Die Handlung ist also zwar alles andere als neu oder unvorhersehbar, durch geschickte Erzählweise und nette Details liest sich die Geschichte aber dennoch einfallsreich und spannend.


"Die Herrinnen des Sommers sind schön und apart. Mit hübschen Bändern und Blumen so zart. Die Herrinnen des Winters sind kalt und hart. Eisige Kronen aus Splittern sind ihre Art."


Eine weitere große Stärke der Geschichte ist, dass sie sich nicht auf ihrem spannenden Beginn ausruht und danach ins Erklärende abdriftet. Mit spannenden Kämpfen, Intrigen, Geheimnissen, Reisen durch mehrere Königreiche, der Vorstellung von Fabelwesen wie Gargoyles oder Strixen und dem Kennenlernen von verschiedenen Arten von Magiern - Murkse, die eine verbesserte Körpereigenschaft besitzen, Morphe, die sich in Monstergestalten verwandeln, Magier, die Elemente kontrollieren und Meister, die aus Materialien die beeindruckendsten Dinge herstellen können - bekommen wir zu jeder Zeit genügend Neues präsentiert. Dabei sind die Informationen über Setting und Figuren eher beiläufig platziert und lassen mehr Raum für die aufs Ganze gehende Handlung, als ich vom Auftaktband einer Reihe erwartet hätte. Statt seitenlang über Geschichte, Bräuche, Königreiche, Hierarchien und Landschaften zu schwafeln, liest sich "Kill the Queen" wie eine spannende, abgeschlossene Geschichte und leidet trotz dass wir eine gute Vorstellung der High Fantasy Welt erhalten, nicht unter den Schwächen eines halbherzigen Reihenauftakts. Dabei hilft auch der für High Fantasy recht temporeiche und dynamische Erzählstil, der die Handlung zu jeder Zeit vorwärts treibt und Längen verhindert, auch wenn die Autorin nicht mit Details und Beschreibungen an den richtigen Stellen geizt.


"Wir sind deine Freunde, Evie. Das bedeutet, dass deine Probleme auch unsere Probleme sind." Paloma zuckte mit den Schultern, dann verzog ein trockenes Grinsen ihre Lippen.
"Deine Probleme beinhalten nur zufällig das Schicksal ganzer Königreiche."


Eine tragende Säule der Geschichte ist auch die sympathische, starke Protagonistin, Lady Everleigh Saffira Winter Blair, kurz Evie. Sie ist voller Wut, kalter Berechnung und Entschlossenheit aber auch voll Mitgefühl, Wärme und dem genau richtigen Maß an zerbrechlichem Selbstbewusstsein, sodass man ihr ihren täglichen Kampf mit Freuden abnimmt. "Kill the Queen" ist kein wirkliches Jugendbuch - nicht nur weil hier viele blutige Kämpfe ausgetragen werden und gelegentlich auch Schwangere, Hilflose und Kinder abgeschlachtet werden, sondern auch weil die Protagonistin mit ihren 28 Jahren außergewöhnlich "alt" ist. Dass war für mich natürlich eine nette Abwechslung, aber dadurch ist Evie vielleicht nicht die beste Identifikationsfigur für 14jährige, sondern spricht eher etwas ältere Leserinnen an. Sie ist sehr viel erfahrener, selbstbewusster, reifer und gefestigter als die üblichen Fantasy-Protagonistinnen, was die Story von viel Geschmachte, emotionalen Schwankungen, Peinlichkeiten und einer ellenlangen Selbstsuche befreit und mir sehr zugesagt hat. Das bedeutet nicht, dass sie sich nicht entwickeln würde, im Gegenteil: wie sie beginnt, sich nichts mehr gefallen zu lassen und ihre Stärken offen auszuspielen ist nicht nur amüsant sondern auch beeindruckend zu verfolgen.


"Manche Leute würden es hübsch umschreiben, es Entschlossenheit oder Antrieb oder Ehrgeiz nennen. Doch ich nenne die Dinge gerne beim Namen - und es ist Wut." (…)
"Meistens ist Wut heiß, leichtsinnig, dumm. Aber deine Wut ist kalt, kontrolliert, voller Kalkulation. Kalte Wut ist immer die beste Wut."


Doch die Protagonistin bleibt nicht die einzige starke Frau, die sich nichts sagen lässt und die wir hier bewundern dürfen. Neben der gefährlichen Meistergladiatorin und Ausbilderin Serilda Swanson, der starken Kämpferin und Freundin Paloma und der gerissenen Tanzlehrerin und Spionin Xenia, ist auch die Antagonistin, die skrupellose Kronprinzessin Vasilia, eine starke Frau (wenn auch eindeutig verrückt). Ich bin ein großer Fan von feministischer Fantasy, in der es Königinnen und Kämpferinnen gibt, die sich nicht von irgendwelchen Rittern retten lassen oder von gutaussehenden Prinzen abgelenkt werden, sondern selbst das Heft in die Hand nehmen, wodurch Jennifer Estep noch weitere Pluspunkte sammeln konnte.


"Verräter zahlen immer für ihre Sünden."


Neben der Haupthandlung erhalten wir auch an und an spannende Rückblicke in das frühere Leben der Protagonistin, die auch deren Beziehung zur Antagonistin Vasilia beschreiben und uns Hintergründe der Handlung besser verstehen lassen. Was es mit dem gutaussehenden andvarischen Bastardprinzen, Magier und Gladiator Lucas Sullivan, kurz Sully, auf sich hat, mit dem Evie immer wieder aneinander gerät, wie er bei der Gladiatorengruppe "Schwarzer Schwan" gelandet ist und wie sich die Spannungen zwischen ihm und unserer Protagonistin entwickeln werden, wird auf den nächsten Teil vertröstet, genau wie weitere Entwicklungen nach dem relativ abrupten Ende. Mit einer kurzen Leseprobe wurde uns schon der nächste Teil der Trilogie, "Protect the Prince", schmackhaft gemacht, der alle offenen Fragen aufnehmen und alle in der Luft hängenden Stränge wieder aufnehmen wird, für den aber noch kein Veröffentlichungstermin feststeht. Ich bin schon sehr gespannt, wie es mit Evie, Sully, Paloma, Serilda, Xenia, Cho und Co weiter gehen wird und hoffe, der Verlag lässt sich nicht zu viel Zeit




Fazit:*

Dieser Auftakt der neuen Reihe "Splitterkrone"-Reihe überzeugt mit seinen tollen Schauplätze, dem temporeichen Erzählstil, dem Fokus auf die spannende Handlung, aber vor allem mit der sympathischen, starken und reifen Protagonistin! Die Handlung ist zwar alles andere als neu oder unvorhersehbar, durch geschickte Erzählweise, die gezielte Nutzung von Fantasy-Klischees und nette Details vermeidet Jennifer Estep jedoch die Schwächen eines Reihenauftakts und die Geschichte liest sich dennoch einfallsreich und spannend.

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Veröffentlicht am 13.03.2020

Eines der schönsten YA-Bücher, die ich jemals gelesen habe!

Das Licht von tausend Sternen
0

Seid ihr auch immer auf der Suche nach DIESEN Geschichten? Die, die euch beim Lesen alles vergessen lassen, die ihr in Gedanken den ganzen Tag mit euch herumtragt und in eure Träume mitnehmt? Die, die ...

Seid ihr auch immer auf der Suche nach DIESEN Geschichten? Die, die euch beim Lesen alles vergessen lassen, die ihr in Gedanken den ganzen Tag mit euch herumtragt und in eure Träume mitnehmt? Die, die voller bittersüßer Momente von der ganz undefinierbaren Sorte sind, bei denen man sich nicht genau entscheiden kann, ob man vom Glück überwältigt oder von der Traurigkeit gerührt sein soll. Wegen diesen Büchern lese ich - und in dieser unscheinbaren Geschichte habe ich so eine seltene Perle gefunden!

Doch bevor ich es schon in der Einleitung zu sehr übertreibe schnell zum Cover... Besonders an der Gestaltung ist, dass der gesamte Einband nur aus rauer, schwarzer Pappe besteht und Titel, Schrift und Motiv in silbernem und goldener Prägung wirken wie eines dieser Metallic-Kratzbilder, die ich vor einigen Jahren so geliebt habe. Zu sehen sind nur die vorsichtigen Umrisse eines Mädchens und eines Jungen, die sich umarmen und gekonnt rund um den Titel platzierte goldene Lichtpunkte. Doch das reicht aus, um auf den ersten Blick zu faszinieren und gerade dass die Schrift und die Punkte so toll im Licht leuchten und schimmern passt gut zum Titel. Warum der Roman ausgerechnet "Das Licht von tausend Sternen" heißt, war mir zuerst unklar, mit der Zeit enthüllt sich jedoch langsam, auf was angespielt wird. Die 381 Seiten werden in 65 kurze Kapitel abwechselnd aus der Sicht von Harper und Ashton und einen Epilog geteilt.


Erster Satz: "Das Treiben auf dem Campus wird durch die dicken Wände der Mansfiled Library ausgesperrt."


Zu Beginn treffen die beiden Protagonisten ganz unspektakulär in der Bibliothek aufeinander wie ungefähr schon 1000 Buchpaare vor ihnen. Was sich nicht nach dem großen Anfang von etwas Besonderen liest, bekommt dann jedoch bald viel mehr Tiefe und Gefühl, ans ich erwartet hätte. Der Playboy Ashton überrascht sich selbst mit seinen Gefühlen und wächst dem Leser durch seine charmante Hartnäckigkeit sofort ans Herz. Während er sich nach dem Kontaktabbruch zu seinen Eltern alleine mit zwei Jobs über Wasser zu halten versucht und zwischendurch seine Sorgen mit Partys ertränkt, bedeutet Harpers Familie alles für sie. Familie bedeutet ihren kleinen autistischen Bruder Ben und ihre chronisch überarbeitete Mutter, die Nachtschichten im Krankenhaus schiebt, um ihrer Tochter das Studium zu finanzieren seid ihr Mann durch einen Unfall gestorben ist. Familie bedeutet Verantwortung, keine Abenteuer, keine Spontanität und keine Kompromisse. Doch als Ashton in ihrem Leben auftaucht, will sie wenigstens einmal egoistisch sein...


"Die Erkenntnis, dass ich vermutlich nie frei sein werde, einfach das zu tun, wonach mir ist, brennt in meiner Brust. Tränen treten in meine Augen, aber ich wische sie trotzig weg und eile zurück ins Wohnzimmer. Nur einmal will ich die Wahl haben."


Leonie Lastella schreibt hier von Studium, WG-Alltag, Familienleben, Partys, Träume, Verantwortung, Trauer, Kunst, Selbstverwirklichung und vor allem … über die große Liebe. Viele Themen, die junge Menschen beschäftigen, halten hier Einzug und werden stimmig zu einer berührenden, echten Geschichte verarbeitet. Auch was es bedeutet, mit einem Kind mit Autismus zusammenzuleben, was es bedeutet, die zweite Geige zu spielen, Opfer bringen zu müssen und dieser Person nicht böse sein zu können weil man sie liebt, wird sehr deutlich und authentisch beschrieben. Am besten hat mir aber nicht der tolle Themenmix gefallen sondern die wundervolle Romanze von Ashton und Harper, bei der ich mir zum ersten Mal seit längerem gut vorstellen konnte, dass sie genau so passiert ist. Hier geht es nicht zu schnell, nicht zu langsam, nichts ist unrealistisch, weit hergeholt oder langweilig - man kann die Gefühle der Figuren und die Chemie zwischen ihnen zu jedem Zeitpunkt der Geschichte nachempfinden und indem die Beiden sich gegenseitig Halt geben, aufeinander Rücksicht nehmen und das Beste im jeweils anderen zum Vorschein bringen, machen sie vor, wie eine wirklich gesunde Beziehung aussehen kann. Natürlich gibt es auch hier Missverständnisse, Dramas, Geheimnisse und das Leben, was sich zwischen die beiden zu drängen versucht. Doch anders als im typischen Young-Adult-Buch geht es hier endlich mal nicht nur um heiße Leidenschaft und anziehende Protagonisten mit sexualisierten Gedanken und großem Lebenstraumata, sondern um zwei Protagonisten die einfach unfassbar süß zusammen sind und gut als Paar funktionieren auch wenn ihre Welten scheinbar nicht kompatibel sind.


"Ich habe erwartet, dass Harper zu küsse der Hammer sein würde, aber auf die Explosion, die sie in mir auslöst, bin ich nicht vorbereitet. Nicht darauf, das mein Herz sich mitten in deren Epizentrum stürzt."


Auch wenn auch diese Handlung recht vorhersehbar ist, wir durch die beiden Ich-Erzähler schon alle Geheimnisse, Lebensumstände und Gefühle der beiden Figuren kennen und die Protagonisten zur Abwechslung mal ganz "normale" Sachen machen wie ins Kino zu gehen, am See mit Freunden abzuhängen oder zusammen wegzufahren, wird es zu keinem Zeitpunkt der Handlung langweilig. Das ist unter anderem auch Leonie Lastellas atmosphärischem Schreibstil zu verdanken, der es ähnlich dessen der "Queen-of-Hearts" -Colleen Hoover- schafft, sämtliche Gefühle mit wenigen Worten und ohne geschwollene Metaphern oder Ausschweifungen auszudrücken und - noch viel wichtiger - lebensecht an den Leser weiter zu transportieren. Die Autorin braucht nicht viele Worte um Harpers Hin- und Her-Gerissenheit zwischen der Liebe zu ihrem Bruder und der Schuld ihrer Mutter gegenüber, die alles für sie aufgibt, und ihrer Sehnsucht nach einem eigenen, freien, ganz normalen Leben zu beschreiben. Es ist auch nicht viel nötig, um uns nahezubringen, wie eine tote Person auch nach Jahren noch Ashtons Leben durcheinander bringt. All der Schmerz, die Sehnsucht nach dem Leben und der Zwiespalt der Protagonistin haben mir fast das Herz gebrochen, all die süße Liebe hat es wieder geheilt. Die geballten Emotionen haben mich ein paar Mal ordentlich schlucken lassen.


"Ein paar Minuten habe ich noch." Hat sie nicht. Sie zwackt sie sich ab, um mir etwas Gutes zu tun. Mir ist übel. Und anstatt es wenigstens zuzugeben und sie um eine Entschuldigung zu bitten, bleibe ich stumm. Ich bin episch feige und wünschte inbrünstig, ich wäre mehr wie Mom. Weniger ich selbst."


Ordentlich punkten konnte der Roman auch dadurch, dass alle Protagonisten eine tolle Entwicklung durchmachen und nebenher auch noch Platz für die Geschichten süßer Nebenfiguren wie zum Beispiel die von Ashtons bester Freundin Becca und dessen Freund Will, oder Ashtons Schwester Emma oder Harpers Mutter ist. Dass ich die Protagonisten Harper und Ashton zusammen mochte, habe ich ja schon gesagt, doch auch jeder für sich sind sie vielschichtig, etwas verkorkst, zerbrechlich und doch stark und somit authentische Identifikationsfiguren. Wohin ihr Weg am Ende nun genau führt und wie sie ihre Probleme vollends lösen wollen, wird am Schluss natürlich nicht komplett geklärt - das wäre ja auch viel zu unrealistisch. Dadurch dass einiges offen gelassen wird, macht die Autorin deutlich, dass es sich hier nicht um ein Ende, sondern erst um einen Anfang handelt. Dass ich diesem beiwohnen durfte hat mich sehr gefreut - das wird also nicht mein letztes Buch von der Autorin gewesen sein...



"Es riecht nach feuchter Erde, frischem Gras und klarer Luft. Genauso hat Ashton gerochen. Wie ein perfekter Sommertag in Montana. Ich lege meinen Kopf in den Nacken und sehe nichts als azurblauer Himmel, der mich unwillkürlich an Ashtons Augen erinnert. Ben hat recht. Blau ist wirklich eine Knallerfarbe."



Fazit:


Wunderbar zart und voller süßer Details erzählt Leonie Lastella von zwei vielschichtigen, etwas verkorksten, zerbrechlichen und doch starken Protagonisten, die sich gegenseitig Halt geben, aufeinander Rücksicht nehmen, das Beste im jeweils anderen zum Vorschein bringen und so vormachen, wie eine wirklich gesunde Beziehung aussehen kann.

Eines der schönsten YA-Bücher, die ich jemals gelesen habe! Den halben Stern Abzug gibt´s nur für den gewöhnlichen Beginn

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Veröffentlicht am 13.03.2020

Eines der schönsten YA-Bücher, die ich jemals gelesen habe!

Das Licht von tausend Sternen
0

Seid ihr auch immer auf der Suche nach DIESEN Geschichten? Die, die euch beim Lesen alles vergessen lassen, die ihr in Gedanken den ganzen Tag mit euch herumtragt und in eure Träume mitnehmt? Die, die ...

Seid ihr auch immer auf der Suche nach DIESEN Geschichten? Die, die euch beim Lesen alles vergessen lassen, die ihr in Gedanken den ganzen Tag mit euch herumtragt und in eure Träume mitnehmt? Die, die voller bittersüßer Momente von der ganz undefinierbaren Sorte sind, bei denen man sich nicht genau entscheiden kann, ob man vom Glück überwältigt oder von der Traurigkeit gerührt sein soll. Wegen diesen Büchern lese ich - und in dieser unscheinbaren Geschichte habe ich so eine seltene Perle gefunden!

Doch bevor ich es schon in der Einleitung zu sehr übertreibe schnell zum Cover... Besonders an der Gestaltung ist, dass der gesamte Einband nur aus rauer, schwarzer Pappe besteht und Titel, Schrift und Motiv in silbernem und goldener Prägung wirken wie eines dieser Metallic-Kratzbilder, die ich vor einigen Jahren so geliebt habe. Zu sehen sind nur die vorsichtigen Umrisse eines Mädchens und eines Jungen, die sich umarmen und gekonnt rund um den Titel platzierte goldene Lichtpunkte. Doch das reicht aus, um auf den ersten Blick zu faszinieren und gerade dass die Schrift und die Punkte so toll im Licht leuchten und schimmern passt gut zum Titel. Warum der Roman ausgerechnet "Das Licht von tausend Sternen" heißt, war mir zuerst unklar, mit der Zeit enthüllt sich jedoch langsam, auf was angespielt wird. Die 381 Seiten werden in 65 kurze Kapitel abwechselnd aus der Sicht von Harper und Ashton und einen Epilog geteilt.


Erster Satz: "Das Treiben auf dem Campus wird durch die dicken Wände der Mansfiled Library ausgesperrt."


Zu Beginn treffen die beiden Protagonisten ganz unspektakulär in der Bibliothek aufeinander wie ungefähr schon 1000 Buchpaare vor ihnen. Was sich nicht nach dem großen Anfang von etwas Besonderen liest, bekommt dann jedoch bald viel mehr Tiefe und Gefühl, ans ich erwartet hätte. Der Playboy Ashton überrascht sich selbst mit seinen Gefühlen und wächst dem Leser durch seine charmante Hartnäckigkeit sofort ans Herz. Während er sich nach dem Kontaktabbruch zu seinen Eltern alleine mit zwei Jobs über Wasser zu halten versucht und zwischendurch seine Sorgen mit Partys ertränkt, bedeutet Harpers Familie alles für sie. Familie bedeutet ihren kleinen autistischen Bruder Ben und ihre chronisch überarbeitete Mutter, die Nachtschichten im Krankenhaus schiebt, um ihrer Tochter das Studium zu finanzieren seid ihr Mann durch einen Unfall gestorben ist. Familie bedeutet Verantwortung, keine Abenteuer, keine Spontanität und keine Kompromisse. Doch als Ashton in ihrem Leben auftaucht, will sie wenigstens einmal egoistisch sein...


"Die Erkenntnis, dass ich vermutlich nie frei sein werde, einfach das zu tun, wonach mir ist, brennt in meiner Brust. Tränen treten in meine Augen, aber ich wische sie trotzig weg und eile zurück ins Wohnzimmer. Nur einmal will ich die Wahl haben."


Leonie Lastella schreibt hier von Studium, WG-Alltag, Familienleben, Partys, Träume, Verantwortung, Trauer, Kunst, Selbstverwirklichung und vor allem … über die große Liebe. Viele Themen, die junge Menschen beschäftigen, halten hier Einzug und werden stimmig zu einer berührenden, echten Geschichte verarbeitet. Auch was es bedeutet, mit einem Kind mit Autismus zusammenzuleben, was es bedeutet, die zweite Geige zu spielen, Opfer bringen zu müssen und dieser Person nicht böse sein zu können weil man sie liebt, wird sehr deutlich und authentisch beschrieben. Am besten hat mir aber nicht der tolle Themenmix gefallen sondern die wundervolle Romanze von Ashton und Harper, bei der ich mir zum ersten Mal seit längerem gut vorstellen konnte, dass sie genau so passiert ist. Hier geht es nicht zu schnell, nicht zu langsam, nichts ist unrealistisch, weit hergeholt oder langweilig - man kann die Gefühle der Figuren und die Chemie zwischen ihnen zu jedem Zeitpunkt der Geschichte nachempfinden und indem die Beiden sich gegenseitig Halt geben, aufeinander Rücksicht nehmen und das Beste im jeweils anderen zum Vorschein bringen, machen sie vor, wie eine wirklich gesunde Beziehung aussehen kann. Natürlich gibt es auch hier Missverständnisse, Dramas, Geheimnisse und das Leben, was sich zwischen die beiden zu drängen versucht. Doch anders als im typischen Young-Adult-Buch geht es hier endlich mal nicht nur um heiße Leidenschaft und anziehende Protagonisten mit sexualisierten Gedanken und großem Lebenstraumata, sondern um zwei Protagonisten die einfach unfassbar süß zusammen sind und gut als Paar funktionieren auch wenn ihre Welten scheinbar nicht kompatibel sind.


"Ich habe erwartet, dass Harper zu küsse der Hammer sein würde, aber auf die Explosion, die sie in mir auslöst, bin ich nicht vorbereitet. Nicht darauf, das mein Herz sich mitten in deren Epizentrum stürzt."


Auch wenn auch diese Handlung recht vorhersehbar ist, wir durch die beiden Ich-Erzähler schon alle Geheimnisse, Lebensumstände und Gefühle der beiden Figuren kennen und die Protagonisten zur Abwechslung mal ganz "normale" Sachen machen wie ins Kino zu gehen, am See mit Freunden abzuhängen oder zusammen wegzufahren, wird es zu keinem Zeitpunkt der Handlung langweilig. Das ist unter anderem auch Leonie Lastellas atmosphärischem Schreibstil zu verdanken, der es ähnlich dessen der "Queen-of-Hearts" -Colleen Hoover- schafft, sämtliche Gefühle mit wenigen Worten und ohne geschwollene Metaphern oder Ausschweifungen auszudrücken und - noch viel wichtiger - lebensecht an den Leser weiter zu transportieren. Die Autorin braucht nicht viele Worte um Harpers Hin- und Her-Gerissenheit zwischen der Liebe zu ihrem Bruder und der Schuld ihrer Mutter gegenüber, die alles für sie aufgibt, und ihrer Sehnsucht nach einem eigenen, freien, ganz normalen Leben zu beschreiben. Es ist auch nicht viel nötig, um uns nahezubringen, wie eine tote Person auch nach Jahren noch Ashtons Leben durcheinander bringt. All der Schmerz, die Sehnsucht nach dem Leben und der Zwiespalt der Protagonistin haben mir fast das Herz gebrochen, all die süße Liebe hat es wieder geheilt. Die geballten Emotionen haben mich ein paar Mal ordentlich schlucken lassen.


"Ein paar Minuten habe ich noch." Hat sie nicht. Sie zwackt sie sich ab, um mir etwas Gutes zu tun. Mir ist übel. Und anstatt es wenigstens zuzugeben und sie um eine Entschuldigung zu bitten, bleibe ich stumm. Ich bin episch feige und wünschte inbrünstig, ich wäre mehr wie Mom. Weniger ich selbst."


Ordentlich punkten konnte der Roman auch dadurch, dass alle Protagonisten eine tolle Entwicklung durchmachen und nebenher auch noch Platz für die Geschichten süßer Nebenfiguren wie zum Beispiel die von Ashtons bester Freundin Becca und dessen Freund Will, oder Ashtons Schwester Emma oder Harpers Mutter ist. Dass ich die Protagonisten Harper und Ashton zusammen mochte, habe ich ja schon gesagt, doch auch jeder für sich sind sie vielschichtig, etwas verkorkst, zerbrechlich und doch stark und somit authentische Identifikationsfiguren. Wohin ihr Weg am Ende nun genau führt und wie sie ihre Probleme vollends lösen wollen, wird am Schluss natürlich nicht komplett geklärt - das wäre ja auch viel zu unrealistisch. Dadurch dass einiges offen gelassen wird, macht die Autorin deutlich, dass es sich hier nicht um ein Ende, sondern erst um einen Anfang handelt. Dass ich diesem beiwohnen durfte hat mich sehr gefreut - das wird also nicht mein letztes Buch von der Autorin gewesen sein...



"Es riecht nach feuchter Erde, frischem Gras und klarer Luft. Genauso hat Ashton gerochen. Wie ein perfekter Sommertag in Montana. Ich lege meinen Kopf in den Nacken und sehe nichts als azurblauer Himmel, der mich unwillkürlich an Ashtons Augen erinnert. Ben hat recht. Blau ist wirklich eine Knallerfarbe."



Fazit:


Wunderbar zart und voller süßer Details erzählt Leonie Lastella von zwei vielschichtigen, etwas verkorksten, zerbrechlichen und doch starken Protagonisten, die sich gegenseitig Halt geben, aufeinander Rücksicht nehmen, das Beste im jeweils anderen zum Vorschein bringen und so vormachen, wie eine wirklich gesunde Beziehung aussehen kann.

Eines der schönsten YA-Bücher, die ich jemals gelesen habe! Den halben Stern Abzug gibt´s nur für den gewöhnlichen Beginn

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