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Veröffentlicht am 04.01.2021

Eine vielseitige und liebevoll erzählte Liebesgeschichte über ein prägendes Jahr im Leben zweier Künstler

A single kiss
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Nach Titel, Klapptext und Cover hatte ich bei "A Single Kiss" ehrlich gesagt mit einer recht oberflächlichen Geschichte gerechnet. Der tätowierte Bad Boy und die verwöhnte Prinzessin? Das klingt doch auf ...

Nach Titel, Klapptext und Cover hatte ich bei "A Single Kiss" ehrlich gesagt mit einer recht oberflächlichen Geschichte gerechnet. Der tätowierte Bad Boy und die verwöhnte Prinzessin? Das klingt doch auf den ersten Blick wie ein laufendes Klischee. Doch falsch gedacht! Was Ivy Andrews hier aus diesem Ansatz macht, ist alles andere als oberflächlich. Statt sich komplett auf Callum und Ellas Liebesgeschichte zu konzentrieren, setzt sie weit vor deren ersten Begegnung an und erzählt viel breiter von deren Leben und Entwicklung, als man das sonst vom New Adult Genre kennt.


Ella: "Als Fotograf hat man viel Macht. Man kann Leute, Landschaften, aber auch Dinge schön oder hässlich in Szene setzen. Manchmal kann man die Intension des Fotografen spüren. Wollte er provozieren? Wollte er etwas verbergen und vom Wesentlichen ablenken? Bei diesem Porträt hier sieht man die Liebe. Cals Liebe zu mir. Jeder Millimeter Fotopapier strahlt sie aus."


Das Cover passt ganz wunderbar zu den anderen drei Bänden der L.O.V.E.-Reihe, welche sich um die vier Mitbewohnerinnen einer WG in Plymouth dreht, deren Initialen zusammen den Schriftzug LOVE ergeben. Die Geschichten von Libby, Oxana und Val wurden schon in den ersten drei Bänden erzählt, hier wird nun ausgebreitet, wie die Französin Ella in einem spontanen Auslandssemester ihr Glück findet. Zu sehen ist auf allen vier Bänden eine Textur, die an einen ausgebreiteten Tüllrock erinnert und in unterschiedlichen Farben schimmert. Dieser Abschlussband ist ganz in einem hellen Blau mit türkisgrünen Einstichen gehalten. Wie auch bei den Vorgängern ist der Titel in großen weißen Buchstaben abgedruckt.

Wer jetzt Angst bekommt und denkt, "oje, ich habe die ersten Bände ja gar nicht gelesen, dann ist das vielleicht doch nichts für mich", dem sei gesagt, dass Ivy Andrews in jedem ihrer vier Bände ungefähr dieselbe Erzählzeit abdeckt. Dass die drei anderen Bände zu genau derselben Zeit spielen sorgt natürlich dafür, dass es die Handlung betreffend einige Überschneidungen gibt und dieselben Ereignisse immer wieder aus einer anderen Perspektive erzählt werden. Wie die drei anderen Mädels ihre Liebe finden, bekommen wir in "A Single Kiss" nur am Rande mit, sodass man die Teile der Reihe ohne Probleme unabhängig voneinander lesen kann und auch keine bestimmte Reihenfolge beachten muss. Die Autorin setzt hier mit einem sehr langen Prolog sogar schon ein bisschen vor dem Beginn des Auslandssemester an, als alle Uhren noch auf Null stehen und deckt dann mit ihrer Erzählung die Entwicklungen von mehr als einem Jahr ab, bis ein Epilog sogar nochmal ein gutes Jahr in die Zukunft springt.


Erster Satz: "Noch immer keine Nachricht von Étienne."


Ivy Andrews hat hier also eine etwas andere Zeiteinteilung gewählt, als ich angenommen hatte. Statt mit der ersten Begegnung ihrer zwei Hauptfiguren einzusteigen, nimmt sie uns erst mit in deren jeweiliges Leben und es gehen ca. 130 Seiten ins Land, bis Callum und Ella sich im Copyshop des College in Plymouth zum ersten Mal über den Weg laufen. Weitere 300 Seiten dauert es dann, bis die beiden sich näherkommen. Das ist zum einen der Tatsache geschuldet, dass Ella in Paris einen festen Freund hat und ihm gegenüber loyal ist, auch wenn sie sich schon seit ihrer ersten Begegnung stark zu dem schottischen Fotografen hingezogen fühlt. Auch Cal will Ella zu nichts drängen und gibt ihr den Raum und die Zeit, die sie braucht, um sich über ihre Gefühle klar zu werden. Zum anderen stehen den beiden auch jede Menge Arbeit für die Uni, Trips ins Ausland und andere Aktivitäten im Weg, denn während sich die Anziehung zwischen den beiden steigert, passiert auch unabhängig von ihren gelegentlichen Begegnungen noch einiges an Handlung.


Callum: "Man sagt gemeinhin, sie (die Augen) seien das Fenster zur Seele, und meine Erfahrungen als Porträtfotograf stimmen damit überein, doch noch nie habe ich so viel in den Augen eines Menschen gesehen wie in ihren. Da sind kühle Intelligenz und feurige Leidenschaft, die sich mit etwas anderem paaren, das ich nicht ganz greifen kann, das mir aber unwahrscheinlich bekannt vorkommt."


Hierzu muss man sagen, dass "A Single Kiss" mit 544 Seiten etwas umfangreicher als die typische Liebesgeschichte ist und man der Geschichte das auch in vielen Aspekten anmerkt. Egal ob Protagonisten, Nebenfiguren, Handlungsstränge, Setting oder Atmosphäre - alles hat durch den größeren Umfang ein bisschen mehr Zeit, sich zu entwickeln. Eine Insta-Love gepaart mit einer sehr langsamen Entwicklung? Das funktioniert unter anderem auch durch Ivy Andrews Erzählstil. Sie schreibt nicht nur sehr lebendig und kreiert eine tolle Wohlfühlatmosphäre, sondern lässt auch wahnsinnig viele Details in ihre Geschichte einfließen. Die Autorin geht mit vielen Szenen stark in die Breite und reißt auch die Geschichten weiterer Nebenfiguren an. Der Fokus liegt zwar schon auf Ella und Cal, deren Leben wird aber viel komplexer geschildert als das in vielen Liebensgeschichten der Fall ist, in denen die Handlung nur aus Szenen besteht, in denen die beiden Figuren aufeinandertreffen. Mir persönlich hat das sehr gut gefallen, da die Figuren dadurch nicht nur auf die Sicht und den Kontakt mit dem jeweils anderen beschränkt sind.


Ella: "Du bist außergewöhnlich! Außergewöhnlich klug, außergewöhnlich temperamentvoll, außergewöhnlich schön." Die Art, wie er es sagte - so, als würde er jede einzelne Silbe auch wirklich so meinen -, jagt mir einen Schauer über den Rücken."


Dass das in Gesamtheit dem ein oder anderen Leser ein bisschen zu ausführlich sein könnte, kann ich mir aber schon vorstellen. Gerade auch der recht flache Spannungsbogen, der nicht durch viele Dramen und Skandale gepusht wird, sondern sich sehr auf die Entwicklung, die Gefühle und die Kunst der Protagonisten fokussiert, könnte nach einigen Geschmäckern wohl zu Längen führen. Die sehr langen Kapitel könnten diesen Eindruck noch verstärken. Ich als passionierte Fantasy-Leserin hingegen bin ein sehr großer Fan von ausführlichen Beschreibungen und langsamen Entwicklungen und habe das deshalb vor allem als positiv empfunden. Kritisieren will ich aber, dass das letzte Drittel, in dem sich die Beziehung zwischen Cal und Ella endlich aufbaut im Vergleich zum sehr ausführlichen Anfang doch ein wenig kurz ist. In der heißen Phase springen wir nur noch von einer Schlüsselszene zur nächsten, während in der Anfangszeit das ganze Alltagsgeschehen der beiden ausgebreitet war. Protagonisten, Setting, Atmosphäre und Handlung tun das langsame Erzähltempo also sehr gut, die Liebesgeschichte an sich bleibt aber ein kleines bisschen auf der Strecke.


Callum: "Ella. Ella. Ella. Wie die Laute von Buschtrommeln durch den Dschungel, geistert ihr Name wieder und wieder durch meinen Kopf. Meine Gedanken drehen sich unentwegt um sie, und es vergeht keine Nacht, in der ich nicht von ihr träume. Ich bin wie ein Seefahrer, der den Ruf des Meeres hört, aber ihm nicht folgen kann. Zumal das Meer irgendwie die dumme Angewohnheit entwickelt hat, sich eilig zurückzuziehen, sobald es mich erblickt."


Zum vielversprechender "tätowierter Fotograf mit schottischem Akzent, der seine wilden Jahre schon hinter sich hat und genau weiß, was er will, trifft auf skandalträchtige reiche Erbin eines Modeimperiums, die in einem Auslandssemester das erste Mal die Chance bekommt, sich selbst auszuprobieren und ihren Weg zu finden"-Motiv gesellen sich eine wundervolle Mädels-WG, deren besondere Freundschaft auf jeden Fall dafür gesorgt hat, dass ich die Geschichten von Libby, Oxy und Val auch noch lesen will und einen Ausflug in die Welt von Fashion und Fotografie. Beide Themen sind leidenschaftlich, künstlerisch, aber auch sehr gut recherchiert mit in die Geschichte integriert. Ob es nun um verschiedenen Fototechniken geht, Halloweenkostüme, Fotoshootings, die Abschlusskollektion oder den Streit um die richtige Kamera - Ivy Andrews beschreibt das Fachgesimpel und die Ergebnisse der künstlerischen Arbeit ihrer Figuren so anschaulich, dass Laien sich alles wunderbar vorstellen können und Leser mit ein bisschen mehr Vorwissen keine Widersprüche finden. Dass die Autorin selbst als Hochzeitsfotografin und Designern gearbeitet hat, hat ihr dabei bestimmt auch geholfen.


Ella: "Das, was du hier versuchst, wird nicht funktionieren."
"Du lachst, Ella, also hat es bereits funktioniert", erwidert er so ernsthaft, das mein Herz einen Schlag aussetzt. Für einen kurzen Moment scheint die Welt zu stehen, und alles ist gut - sogar mehr als gut, wenn ich ehrlich bin. Es ist perfekt."


Was dem Lesevergnügen leider einen Dämpfer verpasst hat, ist der extrem unnötige Prä-Happy-End-Breakdown, der auf das zuckersüße Beisammensein von Cal und Ella ziemlich bald folgt. Dieser typische "oje, ohne mich bist du viel besser dran"-Turn gefolgt von einem schweren Fall des "du bist zu gut für mich"-Moments, ist ein oft genutztes Klischee, das aber mal so gar nicht zu Callum und Ella gepasst hat, die ja eigentlich sehr offen über ihre Ängste und Hoffnungen gesprochen hatten und sehr weit waren in ihrer Beziehung. Die letzten Seiten der Geschichte und die Handlungen der beiden Figuren während dieser Phase, die übrigens auch in wenigen Sätzen abgefertigt wird, haben mich also überhaupt nicht überzeugt. Nicht nur, weil sie nicht besonders kreativ waren, sondern viel mehr, weil es einfach nicht zu den Figuren gepasst hat und man einfach nur die Augen verdrehen und zum Happy End springen wollte.





Fazit:


Ivy Andrews nimmt hier zwei bekannte Klischees, entwickelt sie über einen längeren Zeitraum zu komplexen Figuren und kombiniert das Ergebnis mit einer tollen Freundschaft und Einblicken in Fashion und Fotografie. Was dabei herauskommt ist eine vielseitige und liebevoll erzählte Liebesgeschichte über ein prägendes Jahr im Leben zweier Künstler, die trotz vieler Schwierigkeiten zusammenfinden. Schade sind nur das etwas unpassende Ende und die leichte Überlänge der Einleitung.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 29.12.2020

Ein Leseerlebnis, das in Erinnerung bleibt!

Unsere verlorenen Herzen
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"Ich liebe dich, wie man gewisse dunkle Dinge liebt, heimlich, zwischen Schatten und Seele."


Dieses Buch wollte ich unbedingt lesen, seit ich auf Amazon Prime über den gleichnamigen Film gestolpert bin. ...

"Ich liebe dich, wie man gewisse dunkle Dinge liebt, heimlich, zwischen Schatten und Seele."


Dieses Buch wollte ich unbedingt lesen, seit ich auf Amazon Prime über den gleichnamigen Film gestolpert bin. Da ich (wie bei allen Romanverfilmungen) zuerst das Buch lesen wollte, auf dem die Geschichte basiert, habe ich mir sofort ein Exemplar angefragt und in wenigen Tagen verschlungen. Und nachdem ich "Chemical Hearts" gelesen habe, bin ich noch viel gespannter auf die Umsetzung dieser alles andere als gängigen Liebesgeschichten.


"Das Gefühl war riesig, groß wie die Galaxie, so gewaltig und vielschichtig, dass sich mein armes kleines Gehirn keinen Reim darauf machen konnte. Es war so, wie wenn man erfährt, dass die Milchstraße aus 400 Milliarden Sternen besteht, und denkt: Oh Shit, das ist ganz schön groß. Dein mickriges Menschenhirn wird diese gigantischen Dimensionen nie richtig begreifen können, weil wir für etwas so Großes einfach nicht gemacht sind. So ähnlich war es jetzt auch mit der Liebe."


Das Cover der neuen Auflage aus dem cbt Verlag ist von der Verfilmung abgeleitet und zeigt demnach die beiden Protagonisten. Da ich (wie mittlerweile wohl allgemein bekannt ist) Teil des "Mimimi-keine-Menschen-auf-Cover"-Clubs bin, gefällt mir die Originalausgabe, die unter dem Titel "Unsere verlorenen Herzen" erschienen ist, viel besser. Noch schöner finde ich das Cover der Blanvalet-Ausgabe, welche unter dem Titel "Wer fliegen will, muss schwimmen lernen" zu haben ist. Wer jetzt wegen der verschiedenen Ausgaben und Titel verwirrt ist - vergesst das Cover -, es kommt ja immerhin auf die inneren Werte an 😁... Und diese können sich bei "Chemical Hearts" definitiv sehen lassen. Der reine Text ist nämlich aufgepeppt durch toll formatierte Chatverläufe, eine Powerpoint-Präsentation (jaaa, es sind wirklich die Folien abgedruckt) und Notizen mit Liebesbriefentwürfen.


Erster Satz: "Ich habe mir den Moment, in dem man zum ersten Mal seine große Liebe trifft, immer wie eine Filmszene vorgestellt."


Mit diesem Satz führt uns der 17-jährige Ich-Erzähler in seine Liebesgeschichte ein, von der er selbst sich nicht ganz sicher ist, ob man sie guten Gewissens eine Liebesgeschichte nennen kann. Was zwischen ihm und seiner neuen Mitschülerin Grace im Laufe von drei Monaten vorsichgeht, während die beiden die Redaktion der Schülerzeitung leiten und sich langsam näherkommen, ist nämlich alles andere als eine typische Teenie-Romanze. Stattdessen erinnerte die Geschichte mich mit den ernsten Anklängen, dem trockenen Humor, der teilweise absurden Handlung und den philosophischen Gedanken sehr an einen John-Green-Roman.


"Ein Blick in den Nachthimmel führt mir vor Augen, dass ich nur die Asche von längst verglühten Sternen bin. Ein Mensch ist eine Ansammlung von Atomen, die für kurze Zeit eine geordnete Struktur bilden, um dann wieder zu verfallen. Ich finde meine eigene Unwichtigkeit tröstlich."


Und genau wie eben genannter Autor weiß auch Krystal Sutherland mit ganz besonderen Figuren, Lebensweisheiten und einer fantastischen Atmosphäre zu überzeugen und mit leisen Tönen still und heimlich den Leser um den Finger zu wickeln, zu packen und bis zum Schluss nicht mehr loszulassen. Mit vielen unterschiedlichen Metaphern und Formulierungsweisen versichert sie sich, dass auch wirklich jeder Leser verstehen kann, was sie meint und bringt Gefühle und Gedanken ihrer Figuren wunderbar direkt und erlebbar auf den Punkt. Dabei ist die Balance zwischen Humor und Tragik wunderbar ausgewogen und neben Anspielungen auf Filme, Musik und GIFs werden auch immer wieder philosophische Gedankenergüsse über den Tod, das Universum, die Liebe und andere komplexe Konstrukte miteingeflochten.


"Jetzt begriff ich, warum sich Lola bei Grace an Edie Sedgwick erinnert fühlte. Beide hatten diesen Femme-fatale-Look, diese Aura von Hatte-gerade-eine-Überdosis-und-wurde-mit-einem-Adrenalinschuss-ins-Leben-zurückgeholt. Sie leuchtete, funkelte wie der Nachhall der Sterne, die verglüht waren, um ihre Atome an sie weiterzugeben. Ich hatte noch nie etwas so quälend, herzzerreißend Schönes gesehen."


Zwar startet die Geschichte mit angezogener Handbremse, während Henry von seinem Alltag und anschließend von der ersten Begegnung mit Grace erzählt und ist auch im späteren Verlauf kein Pageturner, dennoch ist "Chemical Hearts" so berührend, authentisch und tragisch, dass man es einfach weiterlesen muss. Berührend und authentisch, klar, aber warum tragisch? Das liegt in erster Linie an Grace´ Geheimnis, dass nicht nur ihre ganze Charakterisierung bestimmt, sondern auch die Dynamik zwischen ihr und Henry mitbestimmt. Direkt nach dem Lesen wollte ich der Geschichte 4,5 oder sogar 5 Sterne geben, doch je weiter die Geschichte nun zurückliegt, desto mehr wird mir bewusst, dass mich doch ein paar Dinge gestört haben. Und das hängt in erster Linie mit ihr zusammen, mit Grace. Sie ist ein wahres Mysterium - unnahbar, nicht greifbar, widersprüchlich, sphärisch und deshalb auch nur äußerst schwammig charakterisiert. Krystal Sutherland hat mit all ihren Figuren versucht, Klischees zu umgehen oder sie zu pointieren - sei es die lesbische beste Freundin, der australische Frauenheld oder die Klatschbase der Highschool -, doch mit Grace Town hat sie leider eines mit voller Breitseite getroffen. Sie hätte das strahlende Herzstück der Geschichte werden können, doch stattdessen zeichnet die Autorin sie über weite Teile der Geschichte als typisches Manic Pixie Dream Girl mit dunklem Geheimnis und versäumt, auf die Gedanken und Gefühle einzugehen, die sie hinter dem Mysterium kultiviert.


"Weil mir nicht klar war, dass man sich in Menschen genauso verlieben kann wie in Songs. Auch wenn ihr Lied dir anfangs nichts sagt, verwandelt sich die unbekannte Melodie schon bald in eine Symphonie und dringt dir unter die Haut. Sie wird zur Hymne im Geflecht deiner Adern, zur Harmonie, eingestrickt in das Gewebe deiner Seele."


Zugutehalten muss man der Geschichte, dass das MPDG-Klischee (für alle, die nicht wissen, wovon ich spreche: eine Frauenfigur, oft in Arthouse Filmen, die grüblerischen jungen Männern beibringt, das Leben zu genießen und ihre Welt durch exzentrische Eigenheiten durcheinanderbringt, dabei aber kaum eine wirkliche Persönlichkeit hat) hier von der Autorin selbst aktiv aufgebracht wird und der Erzähler bestreitet, dass sie als solche bezeichnet werden kann. Ausflüge zu verlassenen Bahnhöfen inklusive unterirdischem Fischteich, spontane Roadtrips in den Nationalpark und nächtliches Philosophieren über Sternenstaub sprechen da aber eine andere Sprache. Dazu kommt, dass Grace hier eindeutig an einer psychischen Krankheit leidet (aus Spoilergründen werde ich hier nicht weiter darauf eingehen), dies aber leider weder thematisiert noch problematisiert wird. Stattdessen schwärmt Henry abwechselnd von ihrer Absonderlichkeit und ärgert sich über sie. Dass man Grace also weder besonders gut verstehen kann, da ihr Verhalten professionell eingeordnet wird, noch mit ihr fühlen kann, da ihre Persönlichkeit hinter dem MPDG-Mysterium fast vollständig untergeht, führt also dazu, dass man sie allgemein wenig sympathisch findet und wenig mit ihr anfangen kann.


"In diesem Moment wurde mir klar, dass Grace Town ein zersplittertes Stück Glas war, an dem ich mich immer wieder schneiden würde, wenn ich mich auf sie einließ. (...) Ich dachte, dass auch ich sie im Geheimen lieben könnte, zwischen Schatten und Seele. Vielleicht wäre es das Beste. Vielleicht gehörten meine Gefühle für Grace Town genau dorthin, in die Dunkelheit, wo sie nie als Licht gelangten."


Der männliche Ich-Erzähler Henry Page hat mir im Gegensatz zu ihr aber sehr gut gefallen. Nicht nur weil diese in dem Genre ohnehin viel zu selten zu finden sind, sondern auch da Henry genau die richtige Art von Erzähler ist. Die von der klugen, charmanten, witzigen, reflektierten wenn auch ein bisschen unsicheren Sorte. Die, die an die große Liebe glauben. Die, die man während des Lesens am liebsten fest in den Arm nehmen und vor der Welt beschützen würde. Die, die man einfach lieben muss, egal was sie anstellen. Seine lockere, aber intensive Art, die Welt und andere Personen zu beschreiben hat auch unter anderem dazu geführt, dass ich mir so viele tolle Stellen rausgeschrieben habe, wie schon lange bei keinem Roman mehr. Ich hoffe, ihr verzeiht mir, den Zitate-Spam 😊.


"Liebe ist ein naturwissenschaftlicher Vorgang. Manchmal dauert dieser Vorgang ein ganzes Leben und wiederholt sich in Endlosschleife, manchmal nicht. Manchmal wird eine Supernova draus, die irgendwann verglüht. Wir alle sind chemische Herzen. Macht das die Liebe weniger wunderbar?"



Das offene Ende hat mich mit Grace ein bisschen versöhnt, ist für uns LeserInnen aber natürlich nicht besonders zufriedenstellend. Doch Ende hin oder her, jetzt wird heute Abend erstmal der Film geschaut...



Fazit:


"Chemical Hearts" ist kein Buch, das mit spannender Handlung fesselt, aber eines, das tief berührt. Der tolle Erzählstil, die atmosphärischen Lebensweisheiten und wunderschöne Metaphern machen die Geschichte zu einem Leseerlebnis, das in Erinnerung bleibt.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 29.12.2020

Ein Leseerlebnis, das in Erinnerung bleibt!

Wer fliegen will, muss schwimmen lernen
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"Ich liebe dich, wie man gewisse dunkle Dinge liebt, heimlich, zwischen Schatten und Seele."


Dieses Buch wollte ich unbedingt lesen, seit ich auf Amazon Prime über den gleichnamigen Film gestolpert bin. ...

"Ich liebe dich, wie man gewisse dunkle Dinge liebt, heimlich, zwischen Schatten und Seele."


Dieses Buch wollte ich unbedingt lesen, seit ich auf Amazon Prime über den gleichnamigen Film gestolpert bin. Da ich (wie bei allen Romanverfilmungen) zuerst das Buch lesen wollte, auf dem die Geschichte basiert, habe ich mir sofort ein Exemplar angefragt und in wenigen Tagen verschlungen. Und nachdem ich "Chemical Hearts" gelesen habe, bin ich noch viel gespannter auf die Umsetzung dieser alles andere als gängigen Liebesgeschichten.


"Das Gefühl war riesig, groß wie die Galaxie, so gewaltig und vielschichtig, dass sich mein armes kleines Gehirn keinen Reim darauf machen konnte. Es war so, wie wenn man erfährt, dass die Milchstraße aus 400 Milliarden Sternen besteht, und denkt: Oh Shit, das ist ganz schön groß. Dein mickriges Menschenhirn wird diese gigantischen Dimensionen nie richtig begreifen können, weil wir für etwas so Großes einfach nicht gemacht sind. So ähnlich war es jetzt auch mit der Liebe."


Das Cover der neuen Auflage aus dem cbt Verlag ist von der Verfilmung abgeleitet und zeigt demnach die beiden Protagonisten. Da ich (wie mittlerweile wohl allgemein bekannt ist) Teil des "Mimimi-keine-Menschen-auf-Cover"-Clubs bin, gefällt mir die Originalausgabe, die unter dem Titel "Unsere verlorenen Herzen" erschienen ist, viel besser. Noch schöner finde ich das Cover der Blanvalet-Ausgabe, welche unter dem Titel "Wer fliegen will, muss schwimmen lernen" zu haben ist. Wer jetzt wegen der verschiedenen Ausgaben und Titel verwirrt ist - vergesst das Cover -, es kommt ja immerhin auf die inneren Werte an 😁... Und diese können sich bei "Chemical Hearts" definitiv sehen lassen. Der reine Text ist nämlich aufgepeppt durch toll formatierte Chatverläufe, eine Powerpoint-Präsentation (jaaa, es sind wirklich die Folien abgedruckt) und Notizen mit Liebesbriefentwürfen.


Erster Satz: "Ich habe mir den Moment, in dem man zum ersten Mal seine große Liebe trifft, immer wie eine Filmszene vorgestellt."


Mit diesem Satz führt uns der 17-jährige Ich-Erzähler in seine Liebesgeschichte ein, von der er selbst sich nicht ganz sicher ist, ob man sie guten Gewissens eine Liebesgeschichte nennen kann. Was zwischen ihm und seiner neuen Mitschülerin Grace im Laufe von drei Monaten vorsichgeht, während die beiden die Redaktion der Schülerzeitung leiten und sich langsam näherkommen, ist nämlich alles andere als eine typische Teenie-Romanze. Stattdessen erinnerte die Geschichte mich mit den ernsten Anklängen, dem trockenen Humor, der teilweise absurden Handlung und den philosophischen Gedanken sehr an einen John-Green-Roman.


"Ein Blick in den Nachthimmel führt mir vor Augen, dass ich nur die Asche von längst verglühten Sternen bin. Ein Mensch ist eine Ansammlung von Atomen, die für kurze Zeit eine geordnete Struktur bilden, um dann wieder zu verfallen. Ich finde meine eigene Unwichtigkeit tröstlich."


Und genau wie eben genannter Autor weiß auch Krystal Sutherland mit ganz besonderen Figuren, Lebensweisheiten und einer fantastischen Atmosphäre zu überzeugen und mit leisen Tönen still und heimlich den Leser um den Finger zu wickeln, zu packen und bis zum Schluss nicht mehr loszulassen. Mit vielen unterschiedlichen Metaphern und Formulierungsweisen versichert sie sich, dass auch wirklich jeder Leser verstehen kann, was sie meint und bringt Gefühle und Gedanken ihrer Figuren wunderbar direkt und erlebbar auf den Punkt. Dabei ist die Balance zwischen Humor und Tragik wunderbar ausgewogen und neben Anspielungen auf Filme, Musik und GIFs werden auch immer wieder philosophische Gedankenergüsse über den Tod, das Universum, die Liebe und andere komplexe Konstrukte miteingeflochten.


"Jetzt begriff ich, warum sich Lola bei Grace an Edie Sedgwick erinnert fühlte. Beide hatten diesen Femme-fatale-Look, diese Aura von Hatte-gerade-eine-Überdosis-und-wurde-mit-einem-Adrenalinschuss-ins-Leben-zurückgeholt. Sie leuchtete, funkelte wie der Nachhall der Sterne, die verglüht waren, um ihre Atome an sie weiterzugeben. Ich hatte noch nie etwas so quälend, herzzerreißend Schönes gesehen."


Zwar startet die Geschichte mit angezogener Handbremse, während Henry von seinem Alltag und anschließend von der ersten Begegnung mit Grace erzählt und ist auch im späteren Verlauf kein Pageturner, dennoch ist "Chemical Hearts" so berührend, authentisch und tragisch, dass man es einfach weiterlesen muss. Berührend und authentisch, klar, aber warum tragisch? Das liegt in erster Linie an Grace´ Geheimnis, dass nicht nur ihre ganze Charakterisierung bestimmt, sondern auch die Dynamik zwischen ihr und Henry mitbestimmt. Direkt nach dem Lesen wollte ich der Geschichte 4,5 oder sogar 5 Sterne geben, doch je weiter die Geschichte nun zurückliegt, desto mehr wird mir bewusst, dass mich doch ein paar Dinge gestört haben. Und das hängt in erster Linie mit ihr zusammen, mit Grace. Sie ist ein wahres Mysterium - unnahbar, nicht greifbar, widersprüchlich, sphärisch und deshalb auch nur äußerst schwammig charakterisiert. Krystal Sutherland hat mit all ihren Figuren versucht, Klischees zu umgehen oder sie zu pointieren - sei es die lesbische beste Freundin, der australische Frauenheld oder die Klatschbase der Highschool -, doch mit Grace Town hat sie leider eines mit voller Breitseite getroffen. Sie hätte das strahlende Herzstück der Geschichte werden können, doch stattdessen zeichnet die Autorin sie über weite Teile der Geschichte als typisches Manic Pixie Dream Girl mit dunklem Geheimnis und versäumt, auf die Gedanken und Gefühle einzugehen, die sie hinter dem Mysterium kultiviert.


"Weil mir nicht klar war, dass man sich in Menschen genauso verlieben kann wie in Songs. Auch wenn ihr Lied dir anfangs nichts sagt, verwandelt sich die unbekannte Melodie schon bald in eine Symphonie und dringt dir unter die Haut. Sie wird zur Hymne im Geflecht deiner Adern, zur Harmonie, eingestrickt in das Gewebe deiner Seele."


Zugutehalten muss man der Geschichte, dass das MPDG-Klischee (für alle, die nicht wissen, wovon ich spreche: eine Frauenfigur, oft in Arthouse Filmen, die grüblerischen jungen Männern beibringt, das Leben zu genießen und ihre Welt durch exzentrische Eigenheiten durcheinanderbringt, dabei aber kaum eine wirkliche Persönlichkeit hat) hier von der Autorin selbst aktiv aufgebracht wird und der Erzähler bestreitet, dass sie als solche bezeichnet werden kann. Ausflüge zu verlassenen Bahnhöfen inklusive unterirdischem Fischteich, spontane Roadtrips in den Nationalpark und nächtliches Philosophieren über Sternenstaub sprechen da aber eine andere Sprache. Dazu kommt, dass Grace hier eindeutig an einer psychischen Krankheit leidet (aus Spoilergründen werde ich hier nicht weiter darauf eingehen), dies aber leider weder thematisiert noch problematisiert wird. Stattdessen schwärmt Henry abwechselnd von ihrer Absonderlichkeit und ärgert sich über sie. Dass man Grace also weder besonders gut verstehen kann, da ihr Verhalten professionell eingeordnet wird, noch mit ihr fühlen kann, da ihre Persönlichkeit hinter dem MPDG-Mysterium fast vollständig untergeht, führt also dazu, dass man sie allgemein wenig sympathisch findet und wenig mit ihr anfangen kann.


"In diesem Moment wurde mir klar, dass Grace Town ein zersplittertes Stück Glas war, an dem ich mich immer wieder schneiden würde, wenn ich mich auf sie einließ. (...) Ich dachte, dass auch ich sie im Geheimen lieben könnte, zwischen Schatten und Seele. Vielleicht wäre es das Beste. Vielleicht gehörten meine Gefühle für Grace Town genau dorthin, in die Dunkelheit, wo sie nie als Licht gelangten."


Der männliche Ich-Erzähler Henry Page hat mir im Gegensatz zu ihr aber sehr gut gefallen. Nicht nur weil diese in dem Genre ohnehin viel zu selten zu finden sind, sondern auch da Henry genau die richtige Art von Erzähler ist. Die von der klugen, charmanten, witzigen, reflektierten wenn auch ein bisschen unsicheren Sorte. Die, die an die große Liebe glauben. Die, die man während des Lesens am liebsten fest in den Arm nehmen und vor der Welt beschützen würde. Die, die man einfach lieben muss, egal was sie anstellen. Seine lockere, aber intensive Art, die Welt und andere Personen zu beschreiben hat auch unter anderem dazu geführt, dass ich mir so viele tolle Stellen rausgeschrieben habe, wie schon lange bei keinem Roman mehr. Ich hoffe, ihr verzeiht mir, den Zitate-Spam 😊.


"Liebe ist ein naturwissenschaftlicher Vorgang. Manchmal dauert dieser Vorgang ein ganzes Leben und wiederholt sich in Endlosschleife, manchmal nicht. Manchmal wird eine Supernova draus, die irgendwann verglüht. Wir alle sind chemische Herzen. Macht das die Liebe weniger wunderbar?"



Das offene Ende hat mich mit Grace ein bisschen versöhnt, ist für uns LeserInnen aber natürlich nicht besonders zufriedenstellend. Doch Ende hin oder her, jetzt wird heute Abend erstmal der Film geschaut...



Fazit:


"Chemical Hearts" ist kein Buch, das mit spannender Handlung fesselt, aber eines, das tief berührt. Der tolle Erzählstil, die atmosphärischen Lebensweisheiten und wunderschöne Metaphern machen die Geschichte zu einem Leseerlebnis, das in Erinnerung bleibt.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 29.12.2020

Ein Leseerlebnis, das in Erinnerung bleibt!

Wer fliegen will, muss schwimmen lernen
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"Ich liebe dich, wie man gewisse dunkle Dinge liebt, heimlich, zwischen Schatten und Seele."


Dieses Buch wollte ich unbedingt lesen, seit ich auf Amazon Prime über den gleichnamigen Film gestolpert bin. ...

"Ich liebe dich, wie man gewisse dunkle Dinge liebt, heimlich, zwischen Schatten und Seele."


Dieses Buch wollte ich unbedingt lesen, seit ich auf Amazon Prime über den gleichnamigen Film gestolpert bin. Da ich (wie bei allen Romanverfilmungen) zuerst das Buch lesen wollte, auf dem die Geschichte basiert, habe ich mir sofort ein Exemplar angefragt und in wenigen Tagen verschlungen. Und nachdem ich "Chemical Hearts" gelesen habe, bin ich noch viel gespannter auf die Umsetzung dieser alles andere als gängigen Liebesgeschichten.


"Das Gefühl war riesig, groß wie die Galaxie, so gewaltig und vielschichtig, dass sich mein armes kleines Gehirn keinen Reim darauf machen konnte. Es war so, wie wenn man erfährt, dass die Milchstraße aus 400 Milliarden Sternen besteht, und denkt: Oh Shit, das ist ganz schön groß. Dein mickriges Menschenhirn wird diese gigantischen Dimensionen nie richtig begreifen können, weil wir für etwas so Großes einfach nicht gemacht sind. So ähnlich war es jetzt auch mit der Liebe."


Das Cover der neuen Auflage aus dem cbt Verlag ist von der Verfilmung abgeleitet und zeigt demnach die beiden Protagonisten. Da ich (wie mittlerweile wohl allgemein bekannt ist) Teil des "Mimimi-keine-Menschen-auf-Cover"-Clubs bin, gefällt mir die Originalausgabe, die unter dem Titel "Unsere verlorenen Herzen" erschienen ist, viel besser. Noch schöner finde ich das Cover der Blanvalet-Ausgabe, welche unter dem Titel "Wer fliegen will, muss schwimmen lernen" zu haben ist. Wer jetzt wegen der verschiedenen Ausgaben und Titel verwirrt ist - vergesst das Cover -, es kommt ja immerhin auf die inneren Werte an 😁... Und diese können sich bei "Chemical Hearts" definitiv sehen lassen. Der reine Text ist nämlich aufgepeppt durch toll formatierte Chatverläufe, eine Powerpoint-Präsentation (jaaa, es sind wirklich die Folien abgedruckt) und Notizen mit Liebesbriefentwürfen.


Erster Satz: "Ich habe mir den Moment, in dem man zum ersten Mal seine große Liebe trifft, immer wie eine Filmszene vorgestellt."


Mit diesem Satz führt uns der 17-jährige Ich-Erzähler in seine Liebesgeschichte ein, von der er selbst sich nicht ganz sicher ist, ob man sie guten Gewissens eine Liebesgeschichte nennen kann. Was zwischen ihm und seiner neuen Mitschülerin Grace im Laufe von drei Monaten vorsichgeht, während die beiden die Redaktion der Schülerzeitung leiten und sich langsam näherkommen, ist nämlich alles andere als eine typische Teenie-Romanze. Stattdessen erinnerte die Geschichte mich mit den ernsten Anklängen, dem trockenen Humor, der teilweise absurden Handlung und den philosophischen Gedanken sehr an einen John-Green-Roman.


"Ein Blick in den Nachthimmel führt mir vor Augen, dass ich nur die Asche von längst verglühten Sternen bin. Ein Mensch ist eine Ansammlung von Atomen, die für kurze Zeit eine geordnete Struktur bilden, um dann wieder zu verfallen. Ich finde meine eigene Unwichtigkeit tröstlich."


Und genau wie eben genannter Autor weiß auch Krystal Sutherland mit ganz besonderen Figuren, Lebensweisheiten und einer fantastischen Atmosphäre zu überzeugen und mit leisen Tönen still und heimlich den Leser um den Finger zu wickeln, zu packen und bis zum Schluss nicht mehr loszulassen. Mit vielen unterschiedlichen Metaphern und Formulierungsweisen versichert sie sich, dass auch wirklich jeder Leser verstehen kann, was sie meint und bringt Gefühle und Gedanken ihrer Figuren wunderbar direkt und erlebbar auf den Punkt. Dabei ist die Balance zwischen Humor und Tragik wunderbar ausgewogen und neben Anspielungen auf Filme, Musik und GIFs werden auch immer wieder philosophische Gedankenergüsse über den Tod, das Universum, die Liebe und andere komplexe Konstrukte miteingeflochten.


"Jetzt begriff ich, warum sich Lola bei Grace an Edie Sedgwick erinnert fühlte. Beide hatten diesen Femme-fatale-Look, diese Aura von Hatte-gerade-eine-Überdosis-und-wurde-mit-einem-Adrenalinschuss-ins-Leben-zurückgeholt. Sie leuchtete, funkelte wie der Nachhall der Sterne, die verglüht waren, um ihre Atome an sie weiterzugeben. Ich hatte noch nie etwas so quälend, herzzerreißend Schönes gesehen."


Zwar startet die Geschichte mit angezogener Handbremse, während Henry von seinem Alltag und anschließend von der ersten Begegnung mit Grace erzählt und ist auch im späteren Verlauf kein Pageturner, dennoch ist "Chemical Hearts" so berührend, authentisch und tragisch, dass man es einfach weiterlesen muss. Berührend und authentisch, klar, aber warum tragisch? Das liegt in erster Linie an Grace´ Geheimnis, dass nicht nur ihre ganze Charakterisierung bestimmt, sondern auch die Dynamik zwischen ihr und Henry mitbestimmt. Direkt nach dem Lesen wollte ich der Geschichte 4,5 oder sogar 5 Sterne geben, doch je weiter die Geschichte nun zurückliegt, desto mehr wird mir bewusst, dass mich doch ein paar Dinge gestört haben. Und das hängt in erster Linie mit ihr zusammen, mit Grace. Sie ist ein wahres Mysterium - unnahbar, nicht greifbar, widersprüchlich, sphärisch und deshalb auch nur äußerst schwammig charakterisiert. Krystal Sutherland hat mit all ihren Figuren versucht, Klischees zu umgehen oder sie zu pointieren - sei es die lesbische beste Freundin, der australische Frauenheld oder die Klatschbase der Highschool -, doch mit Grace Town hat sie leider eines mit voller Breitseite getroffen. Sie hätte das strahlende Herzstück der Geschichte werden können, doch stattdessen zeichnet die Autorin sie über weite Teile der Geschichte als typisches Manic Pixie Dream Girl mit dunklem Geheimnis und versäumt, auf die Gedanken und Gefühle einzugehen, die sie hinter dem Mysterium kultiviert.


"Weil mir nicht klar war, dass man sich in Menschen genauso verlieben kann wie in Songs. Auch wenn ihr Lied dir anfangs nichts sagt, verwandelt sich die unbekannte Melodie schon bald in eine Symphonie und dringt dir unter die Haut. Sie wird zur Hymne im Geflecht deiner Adern, zur Harmonie, eingestrickt in das Gewebe deiner Seele."


Zugutehalten muss man der Geschichte, dass das MPDG-Klischee (für alle, die nicht wissen, wovon ich spreche: eine Frauenfigur, oft in Arthouse Filmen, die grüblerischen jungen Männern beibringt, das Leben zu genießen und ihre Welt durch exzentrische Eigenheiten durcheinanderbringt, dabei aber kaum eine wirkliche Persönlichkeit hat) hier von der Autorin selbst aktiv aufgebracht wird und der Erzähler bestreitet, dass sie als solche bezeichnet werden kann. Ausflüge zu verlassenen Bahnhöfen inklusive unterirdischem Fischteich, spontane Roadtrips in den Nationalpark und nächtliches Philosophieren über Sternenstaub sprechen da aber eine andere Sprache. Dazu kommt, dass Grace hier eindeutig an einer psychischen Krankheit leidet (aus Spoilergründen werde ich hier nicht weiter darauf eingehen), dies aber leider weder thematisiert noch problematisiert wird. Stattdessen schwärmt Henry abwechselnd von ihrer Absonderlichkeit und ärgert sich über sie. Dass man Grace also weder besonders gut verstehen kann, da ihr Verhalten professionell eingeordnet wird, noch mit ihr fühlen kann, da ihre Persönlichkeit hinter dem MPDG-Mysterium fast vollständig untergeht, führt also dazu, dass man sie allgemein wenig sympathisch findet und wenig mit ihr anfangen kann.


"In diesem Moment wurde mir klar, dass Grace Town ein zersplittertes Stück Glas war, an dem ich mich immer wieder schneiden würde, wenn ich mich auf sie einließ. (...) Ich dachte, dass auch ich sie im Geheimen lieben könnte, zwischen Schatten und Seele. Vielleicht wäre es das Beste. Vielleicht gehörten meine Gefühle für Grace Town genau dorthin, in die Dunkelheit, wo sie nie als Licht gelangten."


Der männliche Ich-Erzähler Henry Page hat mir im Gegensatz zu ihr aber sehr gut gefallen. Nicht nur weil diese in dem Genre ohnehin viel zu selten zu finden sind, sondern auch da Henry genau die richtige Art von Erzähler ist. Die von der klugen, charmanten, witzigen, reflektierten wenn auch ein bisschen unsicheren Sorte. Die, die an die große Liebe glauben. Die, die man während des Lesens am liebsten fest in den Arm nehmen und vor der Welt beschützen würde. Die, die man einfach lieben muss, egal was sie anstellen. Seine lockere, aber intensive Art, die Welt und andere Personen zu beschreiben hat auch unter anderem dazu geführt, dass ich mir so viele tolle Stellen rausgeschrieben habe, wie schon lange bei keinem Roman mehr. Ich hoffe, ihr verzeiht mir, den Zitate-Spam 😊.


"Liebe ist ein naturwissenschaftlicher Vorgang. Manchmal dauert dieser Vorgang ein ganzes Leben und wiederholt sich in Endlosschleife, manchmal nicht. Manchmal wird eine Supernova draus, die irgendwann verglüht. Wir alle sind chemische Herzen. Macht das die Liebe weniger wunderbar?"



Das offene Ende hat mich mit Grace ein bisschen versöhnt, ist für uns LeserInnen aber natürlich nicht besonders zufriedenstellend. Doch Ende hin oder her, jetzt wird heute Abend erstmal der Film geschaut...



Fazit:


"Chemical Hearts" ist kein Buch, das mit spannender Handlung fesselt, aber eines, das tief berührt. Der tolle Erzählstil, die atmosphärischen Lebensweisheiten und wunderschöne Metaphern machen die Geschichte zu einem Leseerlebnis, das in Erinnerung bleibt.

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Veröffentlicht am 29.12.2020

Ein Leseerlebnis, das in Erinnerung bleibt!

Chemical Hearts
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"Ich liebe dich, wie man gewisse dunkle Dinge liebt, heimlich, zwischen Schatten und Seele."


Dieses Buch wollte ich unbedingt lesen, seit ich auf Amazon Prime über den gleichnamigen Film gestolpert bin. ...

"Ich liebe dich, wie man gewisse dunkle Dinge liebt, heimlich, zwischen Schatten und Seele."


Dieses Buch wollte ich unbedingt lesen, seit ich auf Amazon Prime über den gleichnamigen Film gestolpert bin. Da ich (wie bei allen Romanverfilmungen) zuerst das Buch lesen wollte, auf dem die Geschichte basiert, habe ich mir sofort ein Exemplar angefragt und in wenigen Tagen verschlungen. Und nachdem ich "Chemical Hearts" gelesen habe, bin ich noch viel gespannter auf die Umsetzung dieser alles andere als gängigen Liebesgeschichten.


"Das Gefühl war riesig, groß wie die Galaxie, so gewaltig und vielschichtig, dass sich mein armes kleines Gehirn keinen Reim darauf machen konnte. Es war so, wie wenn man erfährt, dass die Milchstraße aus 400 Milliarden Sternen besteht, und denkt: Oh Shit, das ist ganz schön groß. Dein mickriges Menschenhirn wird diese gigantischen Dimensionen nie richtig begreifen können, weil wir für etwas so Großes einfach nicht gemacht sind. So ähnlich war es jetzt auch mit der Liebe."


Das Cover der neuen Auflage aus dem cbt Verlag ist von der Verfilmung abgeleitet und zeigt demnach die beiden Protagonisten. Da ich (wie mittlerweile wohl allgemein bekannt ist) Teil des "Mimimi-keine-Menschen-auf-Cover"-Clubs bin, gefällt mir die Originalausgabe, die unter dem Titel "Unsere verlorenen Herzen" erschienen ist, viel besser. Noch schöner finde ich das Cover der Blanvalet-Ausgabe, welche unter dem Titel "Wer fliegen will, muss schwimmen lernen" zu haben ist. Wer jetzt wegen der verschiedenen Ausgaben und Titel verwirrt ist - vergesst das Cover -, es kommt ja immerhin auf die inneren Werte an 😁... Und diese können sich bei "Chemical Hearts" definitiv sehen lassen. Der reine Text ist nämlich aufgepeppt durch toll formatierte Chatverläufe, eine Powerpoint-Präsentation (jaaa, es sind wirklich die Folien abgedruckt) und Notizen mit Liebesbriefentwürfen.


Erster Satz: "Ich habe mir den Moment, in dem man zum ersten Mal seine große Liebe trifft, immer wie eine Filmszene vorgestellt."


Mit diesem Satz führt uns der 17-jährige Ich-Erzähler in seine Liebesgeschichte ein, von der er selbst sich nicht ganz sicher ist, ob man sie guten Gewissens eine Liebesgeschichte nennen kann. Was zwischen ihm und seiner neuen Mitschülerin Grace im Laufe von drei Monaten vorsichgeht, während die beiden die Redaktion der Schülerzeitung leiten und sich langsam näherkommen, ist nämlich alles andere als eine typische Teenie-Romanze. Stattdessen erinnerte die Geschichte mich mit den ernsten Anklängen, dem trockenen Humor, der teilweise absurden Handlung und den philosophischen Gedanken sehr an einen John-Green-Roman.


"Ein Blick in den Nachthimmel führt mir vor Augen, dass ich nur die Asche von längst verglühten Sternen bin. Ein Mensch ist eine Ansammlung von Atomen, die für kurze Zeit eine geordnete Struktur bilden, um dann wieder zu verfallen. Ich finde meine eigene Unwichtigkeit tröstlich."


Und genau wie eben genannter Autor weiß auch Krystal Sutherland mit ganz besonderen Figuren, Lebensweisheiten und einer fantastischen Atmosphäre zu überzeugen und mit leisen Tönen still und heimlich den Leser um den Finger zu wickeln, zu packen und bis zum Schluss nicht mehr loszulassen. Mit vielen unterschiedlichen Metaphern und Formulierungsweisen versichert sie sich, dass auch wirklich jeder Leser verstehen kann, was sie meint und bringt Gefühle und Gedanken ihrer Figuren wunderbar direkt und erlebbar auf den Punkt. Dabei ist die Balance zwischen Humor und Tragik wunderbar ausgewogen und neben Anspielungen auf Filme, Musik und GIFs werden auch immer wieder philosophische Gedankenergüsse über den Tod, das Universum, die Liebe und andere komplexe Konstrukte miteingeflochten.


"Jetzt begriff ich, warum sich Lola bei Grace an Edie Sedgwick erinnert fühlte. Beide hatten diesen Femme-fatale-Look, diese Aura von Hatte-gerade-eine-Überdosis-und-wurde-mit-einem-Adrenalinschuss-ins-Leben-zurückgeholt. Sie leuchtete, funkelte wie der Nachhall der Sterne, die verglüht waren, um ihre Atome an sie weiterzugeben. Ich hatte noch nie etwas so quälend, herzzerreißend Schönes gesehen."


Zwar startet die Geschichte mit angezogener Handbremse, während Henry von seinem Alltag und anschließend von der ersten Begegnung mit Grace erzählt und ist auch im späteren Verlauf kein Pageturner, dennoch ist "Chemical Hearts" so berührend, authentisch und tragisch, dass man es einfach weiterlesen muss. Berührend und authentisch, klar, aber warum tragisch? Das liegt in erster Linie an Grace´ Geheimnis, dass nicht nur ihre ganze Charakterisierung bestimmt, sondern auch die Dynamik zwischen ihr und Henry mitbestimmt. Direkt nach dem Lesen wollte ich der Geschichte 4,5 oder sogar 5 Sterne geben, doch je weiter die Geschichte nun zurückliegt, desto mehr wird mir bewusst, dass mich doch ein paar Dinge gestört haben. Und das hängt in erster Linie mit ihr zusammen, mit Grace. Sie ist ein wahres Mysterium - unnahbar, nicht greifbar, widersprüchlich, sphärisch und deshalb auch nur äußerst schwammig charakterisiert. Krystal Sutherland hat mit all ihren Figuren versucht, Klischees zu umgehen oder sie zu pointieren - sei es die lesbische beste Freundin, der australische Frauenheld oder die Klatschbase der Highschool -, doch mit Grace Town hat sie leider eines mit voller Breitseite getroffen. Sie hätte das strahlende Herzstück der Geschichte werden können, doch stattdessen zeichnet die Autorin sie über weite Teile der Geschichte als typisches Manic Pixie Dream Girl mit dunklem Geheimnis und versäumt, auf die Gedanken und Gefühle einzugehen, die sie hinter dem Mysterium kultiviert.


"Weil mir nicht klar war, dass man sich in Menschen genauso verlieben kann wie in Songs. Auch wenn ihr Lied dir anfangs nichts sagt, verwandelt sich die unbekannte Melodie schon bald in eine Symphonie und dringt dir unter die Haut. Sie wird zur Hymne im Geflecht deiner Adern, zur Harmonie, eingestrickt in das Gewebe deiner Seele."


Zugutehalten muss man der Geschichte, dass das MPDG-Klischee (für alle, die nicht wissen, wovon ich spreche: eine Frauenfigur, oft in Arthouse Filmen, die grüblerischen jungen Männern beibringt, das Leben zu genießen und ihre Welt durch exzentrische Eigenheiten durcheinanderbringt, dabei aber kaum eine wirkliche Persönlichkeit hat) hier von der Autorin selbst aktiv aufgebracht wird und der Erzähler bestreitet, dass sie als solche bezeichnet werden kann. Ausflüge zu verlassenen Bahnhöfen inklusive unterirdischem Fischteich, spontane Roadtrips in den Nationalpark und nächtliches Philosophieren über Sternenstaub sprechen da aber eine andere Sprache. Dazu kommt, dass Grace hier eindeutig an einer psychischen Krankheit leidet (aus Spoilergründen werde ich hier nicht weiter darauf eingehen), dies aber leider weder thematisiert noch problematisiert wird. Stattdessen schwärmt Henry abwechselnd von ihrer Absonderlichkeit und ärgert sich über sie. Dass man Grace also weder besonders gut verstehen kann, da ihr Verhalten professionell eingeordnet wird, noch mit ihr fühlen kann, da ihre Persönlichkeit hinter dem MPDG-Mysterium fast vollständig untergeht, führt also dazu, dass man sie allgemein wenig sympathisch findet und wenig mit ihr anfangen kann.


"In diesem Moment wurde mir klar, dass Grace Town ein zersplittertes Stück Glas war, an dem ich mich immer wieder schneiden würde, wenn ich mich auf sie einließ. (...) Ich dachte, dass auch ich sie im Geheimen lieben könnte, zwischen Schatten und Seele. Vielleicht wäre es das Beste. Vielleicht gehörten meine Gefühle für Grace Town genau dorthin, in die Dunkelheit, wo sie nie als Licht gelangten."


Der männliche Ich-Erzähler Henry Page hat mir im Gegensatz zu ihr aber sehr gut gefallen. Nicht nur weil diese in dem Genre ohnehin viel zu selten zu finden sind, sondern auch da Henry genau die richtige Art von Erzähler ist. Die von der klugen, charmanten, witzigen, reflektierten wenn auch ein bisschen unsicheren Sorte. Die, die an die große Liebe glauben. Die, die man während des Lesens am liebsten fest in den Arm nehmen und vor der Welt beschützen würde. Die, die man einfach lieben muss, egal was sie anstellen. Seine lockere, aber intensive Art, die Welt und andere Personen zu beschreiben hat auch unter anderem dazu geführt, dass ich mir so viele tolle Stellen rausgeschrieben habe, wie schon lange bei keinem Roman mehr. Ich hoffe, ihr verzeiht mir, den Zitate-Spam 😊.


"Liebe ist ein naturwissenschaftlicher Vorgang. Manchmal dauert dieser Vorgang ein ganzes Leben und wiederholt sich in Endlosschleife, manchmal nicht. Manchmal wird eine Supernova draus, die irgendwann verglüht. Wir alle sind chemische Herzen. Macht das die Liebe weniger wunderbar?"



Das offene Ende hat mich mit Grace ein bisschen versöhnt, ist für uns LeserInnen aber natürlich nicht besonders zufriedenstellend. Doch Ende hin oder her, jetzt wird heute Abend erstmal der Film geschaut...



Fazit:


"Chemical Hearts" ist kein Buch, das mit spannender Handlung fesselt, aber eines, das tief berührt. Der tolle Erzählstil, die atmosphärischen Lebensweisheiten und wunderschöne Metaphern machen die Geschichte zu einem Leseerlebnis, das in Erinnerung bleibt.

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