Zurück zum Trauma
Was Nina wussteDie vitale und allseits beliebte Jüdin Vera feiert ihren 90. Geburtstag in einem Kibbuz – ihre zweite Heimat seit den 1950er-Jahren nach dem ehemaligen Jugoslawien. Auch ihre Tochter Nina ist vom Polarkreis ...
Die vitale und allseits beliebte Jüdin Vera feiert ihren 90. Geburtstag in einem Kibbuz – ihre zweite Heimat seit den 1950er-Jahren nach dem ehemaligen Jugoslawien. Auch ihre Tochter Nina ist vom Polarkreis angereist, der Kontakt zur Mutter ist lose. Und auch Nina hat wiederum zu ihrer Tochter Gili keinen Draht und sie als kleines Mädchen bei ihrem Vater zurückgelassen, um immer weiter vor ihren Dämonen davonzulaufen und ihre selbstverletzende Sexualität auszuleben. In der Familie betäubt das Ungesagte, innere Kämpfe schwelen in den Frauen, ein Trauma setzt sich in den Seelen bereits seit drei Generationen fort, die unterdrückten Gefühle sind explosiv. Es hat mit Veras Vergangenheit zu tun – 19 Monate war sie in Titos Gulag und Gefangenenlager auf der Insel Goli Otok inhaftiert und unsäglichen Folterungen ausgesetzt (ihre Schilderungen werden im Roman in anderer Typographie notiert). Ihre Tochter Nina hat sie damals als 6jährige einer ungewissen Lage sich selbst überlassen. Zuvor hat ihre große Liebe und Ideologie-Partner Miloš im Gefängnis Selbstmord begangen, angeschuldigt als Stalinist.
Nina und Gili fühlen sich selbst als Gefangene, metaphorisch gesehen auf Goli Otok eingesperrt. Sie beschließen den Ort zu besuchen und einen Erinnerungsfilm über Veras Heimat und Haft zu drehen – zudem Nina auch an Demenz erkrankt ist und sich eine Art "Rede an sich selbst" festhalten will. Ninas Mann und zugleich Gilis Vater Rafi kommt mit – Gili ist die Erzählerin des Romans und gleichzeitig das Script Girl des Films, aus ihrer wechselnden Perspektive erfährt der Leser alles zur Reise und zu den Personen. Das ist sehr vielschichtig, denn je nach Kameraeinstellung oder Gefühlslage wechseln diese Erzählperspektiven in andere Ebenen. Gili versucht sich mit Sarkasmus ihrer Wut auf die abwesende Mutter Luft zu verschaffen, die Dialoge sind hitzig. Nina versucht sich zu erklären, während Rafi mit seiner unerschöpflichen Liebe zu ihr (die Nina nicht erwidern kann, aber braucht) eher im Hintergrund hält und Vera kommt auf der Reise nach Kroatien so richtig in Erzählstimmung und lässt all ihren Erinnerungen freien Lauf.
Der Film-Trip wird aber auch eine tiefenpsychologische Rückblende zu einem schmerzhaften Trauma - ein Verrat, der alle Frauen überschattet und belastet. Es hat mit Veras Inhaftierung nach Goli Otok und ihrer Liebe zu Miloš zu tun.
Mit großartigen, ergreifenden Sprachbildern und messerscharfen Dialogen hat der vielfach preisgekrönte israelische Schriftsteller David Grossman das Innenleben der drei Frauen zesiert und sich dem wichtigen Thema Transgenerationale Traumatisierung angenommen. Vergangenheit und Gegenwart schieben sich in dem Roman immer wieder übereinander. Basierend auf der wahren Geschichte der kroatischen Kommunistin Eva Panić-Nahir hat sich Grossman hier aber fiktive Erzählerfreiheit genommen, die an manchen Stellen arg ausgereizt wird. Und das ist bei dem außergewöhnlichen Roman auch die einzige Schwachstelle – an manchen Stellen wirken Szenerie und Dramaturgie zu überspitzt und grotesk überzogen, das hätte das Thema nicht gebraucht. Die Frauen sind bei ihrem Kampf nach Liebe und Verständnis teilweise zu sehr in Extremen gefangen und der Tiefgang geht dabei manchmal verloren. Das spürt man besonders in den leisen Momenten, wenn man den Protagonisten seelisch sehr nahe kommt.
Trotzdem: Präzise übersetzt von Anne Birkenhauer wühlt dieses eindringliche Kammerspiel auf und wirkt lange nach – ideale Vorlage zum Verfilmen oder fürs Theater.
„Sie befiehlt ihm, die Kamera anzustellen, und er gehorcht. Ihre Finger zittern. Was tu ich ihr hier an. Wenn sie erkennen würde, was sie getan hat, würde sie auf der Stelle zu einem Häufchen Staub zerfallen.“