Profilbild von amara5

amara5

Lesejury Star
offline

amara5 ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit amara5 über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 12.02.2021

Zurück zum Trauma

Was Nina wusste
0

Die vitale und allseits beliebte Jüdin Vera feiert ihren 90. Geburtstag in einem Kibbuz – ihre zweite Heimat seit den 1950er-Jahren nach dem ehemaligen Jugoslawien. Auch ihre Tochter Nina ist vom Polarkreis ...

Die vitale und allseits beliebte Jüdin Vera feiert ihren 90. Geburtstag in einem Kibbuz – ihre zweite Heimat seit den 1950er-Jahren nach dem ehemaligen Jugoslawien. Auch ihre Tochter Nina ist vom Polarkreis angereist, der Kontakt zur Mutter ist lose. Und auch Nina hat wiederum zu ihrer Tochter Gili keinen Draht und sie als kleines Mädchen bei ihrem Vater zurückgelassen, um immer weiter vor ihren Dämonen davonzulaufen und ihre selbstverletzende Sexualität auszuleben. In der Familie betäubt das Ungesagte, innere Kämpfe schwelen in den Frauen, ein Trauma setzt sich in den Seelen bereits seit drei Generationen fort, die unterdrückten Gefühle sind explosiv. Es hat mit Veras Vergangenheit zu tun – 19 Monate war sie in Titos Gulag und Gefangenenlager auf der Insel Goli Otok inhaftiert und unsäglichen Folterungen ausgesetzt (ihre Schilderungen werden im Roman in anderer Typographie notiert). Ihre Tochter Nina hat sie damals als 6jährige einer ungewissen Lage sich selbst überlassen. Zuvor hat ihre große Liebe und Ideologie-Partner Miloš im Gefängnis Selbstmord begangen, angeschuldigt als Stalinist.

Nina und Gili fühlen sich selbst als Gefangene, metaphorisch gesehen auf Goli Otok eingesperrt. Sie beschließen den Ort zu besuchen und einen Erinnerungsfilm über Veras Heimat und Haft zu drehen – zudem Nina auch an Demenz erkrankt ist und sich eine Art "Rede an sich selbst" festhalten will. Ninas Mann und zugleich Gilis Vater Rafi kommt mit – Gili ist die Erzählerin des Romans und gleichzeitig das Script Girl des Films, aus ihrer wechselnden Perspektive erfährt der Leser alles zur Reise und zu den Personen. Das ist sehr vielschichtig, denn je nach Kameraeinstellung oder Gefühlslage wechseln diese Erzählperspektiven in andere Ebenen. Gili versucht sich mit Sarkasmus ihrer Wut auf die abwesende Mutter Luft zu verschaffen, die Dialoge sind hitzig. Nina versucht sich zu erklären, während Rafi mit seiner unerschöpflichen Liebe zu ihr (die Nina nicht erwidern kann, aber braucht) eher im Hintergrund hält und Vera kommt auf der Reise nach Kroatien so richtig in Erzählstimmung und lässt all ihren Erinnerungen freien Lauf.

Der Film-Trip wird aber auch eine tiefenpsychologische Rückblende zu einem schmerzhaften Trauma - ein Verrat, der alle Frauen überschattet und belastet. Es hat mit Veras Inhaftierung nach Goli Otok und ihrer Liebe zu Miloš zu tun.

Mit großartigen, ergreifenden Sprachbildern und messerscharfen Dialogen hat der vielfach preisgekrönte israelische Schriftsteller David Grossman das Innenleben der drei Frauen zesiert und sich dem wichtigen Thema Transgenerationale Traumatisierung angenommen. Vergangenheit und Gegenwart schieben sich in dem Roman immer wieder übereinander. Basierend auf der wahren Geschichte der kroatischen Kommunistin Eva Panić-Nahir hat sich Grossman hier aber fiktive Erzählerfreiheit genommen, die an manchen Stellen arg ausgereizt wird. Und das ist bei dem außergewöhnlichen Roman auch die einzige Schwachstelle – an manchen Stellen wirken Szenerie und Dramaturgie zu überspitzt und grotesk überzogen, das hätte das Thema nicht gebraucht. Die Frauen sind bei ihrem Kampf nach Liebe und Verständnis teilweise zu sehr in Extremen gefangen und der Tiefgang geht dabei manchmal verloren. Das spürt man besonders in den leisen Momenten, wenn man den Protagonisten seelisch sehr nahe kommt.

Trotzdem: Präzise übersetzt von Anne Birkenhauer wühlt dieses eindringliche Kammerspiel auf und wirkt lange nach – ideale Vorlage zum Verfilmen oder fürs Theater.

„Sie befiehlt ihm, die Kamera anzustellen, und er gehorcht. Ihre Finger zittern. Was tu ich ihr hier an. Wenn sie erkennen würde, was sie getan hat, würde sie auf der Stelle zu einem Häufchen Staub zerfallen.“

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 12.02.2021

Marode Konstrukte

Das Haus an der Keizersgracht
0

"Die Menschen kommen ins Wanken, wenn sie ihre Wurzeln nicht kennen." S. 146

Das unter Denkmalschutz stehende Haus an der Amsterdamer Keizersgracht ist seit vielen Jahren im Familienbesitz der Wenkstermans ...

"Die Menschen kommen ins Wanken, wenn sie ihre Wurzeln nicht kennen." S. 146

Das unter Denkmalschutz stehende Haus an der Amsterdamer Keizersgracht ist seit vielen Jahren im Familienbesitz der Wenkstermans – voller nobler Reliquien und beerdigten Familienmitgliedern im angrenzenden Garten wartet es aber auch schon lange auf eine Restaurierung des Fundaments. Es ist von Holzfäule befallen und schwer am Wanken, Wasser füllt nach und nach den Keller. Naturphilosoph Bram Wenksterman liebt die Routine und die Tierbeobachtung in der Natur – er ist das, was die Philosophen als Stoiker betrachten; große Gefühlsausbrüche behagen ihm nicht sehr. Doch die Familie bedrückt ein dunkles, schmerzhaftes Familiengeheimnis – Frau Veerle kämpft seit vielen Jahren mit Depressionen, musste in die geschlossene Psychiatrie eingeliefert werden. Tochter Amber studiert Philosophie in Cambridge, ist aber dabei, ihr Studium sowie ihre Beziehung zu schmeißen. Kurzerhand zieht sie zurück in das Elternhaus – doch dort hat sich während der Abwesenheit von Veerle jemand schon eingenistet: Veerles jüngere Cousine Ella hat eine Affäre mit Bram und möchte den Platz der Mutter an der Keizersgracht einnehmen.

Für die Sanierung des Hauses sind mehrere Hunderttausend Euro fällig – Brams reicher Schwiegervater ist bereit, das Geld zu verleihen, aber nur, wenn endlich das unausgesprochene, vor sich hin rottende Familiengeheimnis an Amber getragen wird. Einem intensiven Kammerspiel ähnlich, spielt sich alles innerhalb von drei Tagen dem Höhepunkt zu – der Keller voller Wasser, gibt es eine Geburtstagsparty für Bram. Diese artet in einer Art emotionaler Läuterung aus und Veerle ist bereit, ihre Wunden zu reinigen und auszupacken.

Autorin Rinske Hillen hat Philosophie studiert, das merkt man ihrem bemerkenswerten Debüt an – kluge philosophische Einschübe treffen auf psychologische Sezierung der zerrütteten Familie. Das faulende Haus steht dabei metaphorisch zum Verfall verschiedener Konstrukte. In wunderschönen Sprachbildern vereint der Roman die Themen Vertrauensbruch, Verfehlungen, aber auch die schmerzhafte Abnabelung von den Eltern. Und welch unterbewusste Blockierung Verschwiegenes innerhalb einer Familie bewirken kann. Dabei kommt man den Figuren zwar nicht wirklich nahe, die Perspektive ist zu distanziert – aber mit einer grandios subtilen Spannung gewinnt der Leser einen intimen und direkten Einblick in gescheiterte Lebensentwürfe bis zum konsequenten Ende, wenn alles zusammenbricht. Detaillierte und atmosphärische Beschreibungen des alten Grachtenhauses sind verwoben in menschliche Seelenabgründe und Verstrickungen.

Rinske Hillen wurde mit „Das Haus an der Keizersgracht“ mit dem niederländischen Debütantenpreis ausgezeichnet. Ich bin gespannt, was noch von der Autorin kommen wird.

„Sie hatte einmal gelesen, dass wir wie gestrandete Fische am Ufer sind, die versuchen, sich auf dem Trockenen gegenseitig feucht zu halten. Statt frei und selbstständig im Meer zu schwimmen.“ S. 228

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 12.02.2021

Nichts als die Wahrheit

Der Halbbart
0

Talschaft Schwyz, um 1313: Der 13-jährige Ich-Erzähler und „Finöggel“ Eusebius, genannt Sebi, ist ein aufgewecktes Kerlchen, aber eher nicht für härtere Arbeit geeignet – ab und an hilft er dem Totengräber ...

Talschaft Schwyz, um 1313: Der 13-jährige Ich-Erzähler und „Finöggel“ Eusebius, genannt Sebi, ist ein aufgewecktes Kerlchen, aber eher nicht für härtere Arbeit geeignet – ab und an hilft er dem Totengräber im Dorf bei der Arbeit. Der Vater ist schon gestorben, Bruder Poli ist ein dumpfer Haudegen und „eher nur über Umwegen nett“, aber mit Bruder Geni pflegt er eine feinfühlige Beziehung. Sebi ist ein aufmerksamer Beobachter, mit seiner kindlich-naiven Art beäugt er das Dorfleben und erläutert dieses – und stellt so manches Fehlverhalten lakonisch dar. Es waren raue, blutige und brutale Zeiten im Mittelalter, besonders wenn auch noch der Marchenstreit zwischen Schwyz, den Habsburgern und dem mächtigen Benediktinerkloster Einsiedeln über Grenzgebiete herrscht. Einen Mentor und Lehrer findet Sebi bald in dem Einsiedler, Flüchtling und Sonderling „Halbbart“, der ihm mit vielen Lebensweisheiten und dem Schachspielen den Blickwinkel erweitert – auch wenn er vieles nicht richtig begreifen kann, was der Halbbart erzählt. Aber eins ist klar: mit seinem zur Hälfte fürchterlich entstelltem Gesicht hat er Schlimmes erlebt, er rückt nur zögernd damit raus – geblieben ist ein Hass auf die Habsburger, der selbst dem Halbbart den weisen Verstand raubt. Als die Mutter stirbt, kommt Sebi ins Kloster, doch die Ereignisse dort sind eher traumatisierend – er flieht und findet Unterschlupf beim Schmied und seiner Tochter Kätterli.

Sebi erlebt Einiges in der vom Glauben, Aberglauben, Himmel und Hölle, Teufel und Engel bestimmten Zeit – Gewalttätiges, Lustiges, Spannendes, Berührendes und er selbst steckt mitten in einer Selbstfindungskrise. Was soll aus Sebi werden? Noch findet er kein Spiegelbild im See für seine Berufung. Bis er aus Zufall zum ersten Mal erlebt, wie kraftvoll (und real) erzählte Geschichten werden können: Er soll die vom Schmied und Halbbart entworfene Waffe Hellebarde unter die Leute bringen – und das macht er gut. Als er auch noch in die Lehre der nimmersatten und Rauschgift süchtigen Geschichtenerzählerin das Teufels-Anneli geht, findet er seine Bestimmung: "Erzählen ist wie Seichen: Wenn man einmal damit angefangen hat, ist es schwer, wieder aufzuhören." S. 184/185.

Und während Sebi lernt, sich immer bessere Geschichten auszudenken, nimmt der Marchenstreit nach dem gewalttätigen Überfall der Dorfbewohner auf die Mönche und das Kloster nochmal richtig Fahrt auf – angeführt vom böswilligen Onkel Alisi ist die Schlacht am Morgarten zum Greifen nahe.

Charles Lewinskys Roman „Der Halbbart“ präsentiert auf knapp 680 Seiten eine Geschichte nach der anderen und formt dabei eine große, übergeordnete Geschichte. Diese ist nicht nur gespickt mit vielen klugen Lebensweisheiten und Fakten aus der Schweizer Mythologie – diese Geschichte ist selbst eine über das Geschichtenerzählen und welchen Sog und Stärke Erzähltes bewirken kann – bis es geglaubt wird. Und schwupps sind wir in der Gegenwart mit Propaganda, sogenannten Fake-News & Co.: "Das war eine sehr schöne Geschichte, Eusebius. Man wird sie bestimmt noch lang erzählen, und irgendwann wird sie die Wahrheit sein." S. 676

Der Zürcher Autor Lewinsky erschafft präzise ausgeklügelte Charaktere und präsentiert diese mit einer so erzählerischen Kraft, dass die Seiten nur so verfliegen – vieles mit Bezug zur Gegenwart, aber märchenhaft in 83 kurzen Kapiteln mit sehr treffenden Teasern verpackt wie „Das 33. Kapitel, in dem der Halbbart erzählt, was er nicht erzählen will“. Die Sprache strotzt vor Wortspielereien, Anekdoten und Freude am Fabulieren und ist ordentlich mit Helvetismen, also schweizerdeutschen Ausdrücken, gespickt. Das sorgt hier und da neben den treffenden Beschreibungen aus der Sicht eines Kindes für ein schelmisches Augenzwinkern und Humor. Doch die Gewalt und das Tragische lassen einem auch des Öfteren den Atem stocken. Am Ende ist man erstaunt, in welche spannende Epoche Lewinsky entführt hat, mit einer spielerischen Erzählkunst, wie es uns die umherziehende Teufels-Anneli gelehrt hat. Und was war jetzt wahr?

"Wenn eine Geschichte gut zu dem passe, was die Menschen ohnehin schon dächten, dann werde sie so fest geglaubt, als ob ein Engel vom Himmel sie jedem Einzelnen ins Ohr geflüstert hätte." S. 428

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 12.02.2021

Der Traum von einer Rakete

Die Erfindung des Countdowns
0

Passend zum Titel erzählt Daniel Mellem die biografischen Eckpfeiler des österreich-ungarisch-deutschen Physikers und Raketenpioniers Hermann Oberth als Countdown-Zählung in der Kapitelgebung. Oberth wächst ...

Passend zum Titel erzählt Daniel Mellem die biografischen Eckpfeiler des österreich-ungarisch-deutschen Physikers und Raketenpioniers Hermann Oberth als Countdown-Zählung in der Kapitelgebung. Oberth wächst als ältester Sohn eines angesehenen Spitalleiters in Schäßburg, Siebenbürgen, auf. Anders als von seinem strengen Vater vorgesehen, interessiert er sich nicht für Medizin, sondern für die Physik. Schon als kleiner Bub liest er auf einem Boot Jules Verne, entdeckt technische Fehler im Roman und experimentiert mit physikalischer Schubkraft. Sein Traum ist es, eine Rakete zu entwickeln, um die Menschheit unbeschadet auf den Mond fliegen zu lassen. Nach einem Kriegseinsatz im Ersten Weltkrieg, wo er die Schrecken eines Krieges hautnah miterlebt und sein fröhlicher Bruder sterben wird, studiert er in Göttingen Physik und gilt schnell als schrulliger Außenseiter. Seine Dissertation zur Raketentechnik findet keine wissenschaftliche Disziplin – er wird sie später als wegweisendes Buch veröffentlichen. Währenddessen heiratet er Tilla, eine lebensfrohe Frau, die sehr viel zurücksteckt und sich um die drei Kinder fast alleine kümmert und so Oberths Rücken für fast besessene Forschungsarbeiten freihält.

Doch schon steht der nächste Weltkrieg vor der Tür – Oberth erhält ein Angebot aus der Sowjetunion, das er ablehnt. Wernher von Braun wird ihn in die Heeresversuchsanstalt Peenemünde ordern – wo er niedrige Schreibtischarbeiten erledigt, aber für den Feind nicht mehr gefährlich ist. Oberth schreibt an Hitler, wird Deutscher und entgeht in den Kriegswirren knapp dem Tod – sein Sohn wird fallen und die Tochter bei einer Explosion umkommen. Die V2-Raketen fordern während des Krieges zahlreiche unschuldige Opfer.

Nach Kriegsende lebt die Familie Oberth verarmt in ihrem neuen Heimatort Feucht, bis ein Päckchen von Braun aus den USA ankommt – er wird Oberth mit anderen Peenemünde-Nazimitstreitern in die USA holen, wo deutsche Wissenschaftler ihr technisches Wissen in der Operation Overcast zur Verfügung stellen. Oberth wird 1969 den ersten Start von Apollo 11 am Cape Canaveral noch miterleben – Mellem erzählt hier den finalen Countdown.

Hermann Oberth ist in Feucht ein Museum gewidmet und gilt als Wegbereiter der Raketentechnik und Astronautik, aber er war auch ein streitbarer Wissenschaftler. Im Roman wird sein Gedanke zur Rakete so geschildert, dass er doch nur den Frieden für die Menschheit während des Krieges wollte – Deutschland sollte schnell gewinnen. Aus seinem Traum einer Mondrakete wurde eine mörderische Kriegswaffe, die er den Nationalsozialisten anbot. Hier wird die Frage nach der Ethik in der Wissenschaft laut – Oberth stellt sich in dem Roman nur wenige, dürftige moralische Fragen. Daniel Mellem schildert seine Gedanken als Abschlussfrage im Nachwort: War Oberth seiner eigenen Verantwortung als Wissenschaftler gerecht geworden? Hatte er seine eigene Idee selbst missbraucht, als er mit den Nationalsozialisten sympathisiert hat? Diese Fragen überlässt die biografische Fiktion dem Leser – „Die Erfindung des Countdowns“ zeigt auf, mit welchen wiederkehrenden Verfehlungen und Scheitern Hermann Oberth bis zuletzt für seinen Traum der Mondrakete zu kämpfen hatte. Und auch wenn Fritz Lang bei seinem Film „Frau im Mond“ mit Oberth als wissenschaftlichem Berater an seiner Seite, den Raketencountdown erfunden hat, der bei jedem Raketenstart bis dato heruntergezählt wird, so hat Oberth der Menschheit den Traum der Mondlandung nähergebracht.

Daniel Mellem führt den Leser flüssig und präzise durch die Zeitgeschichte und verpackt eine technische Wissenschaft in einen spannenden Roman über einen Visionär, ohne den historischen Hintergrund zu vernachlässigen. Der Wissenschaftler und sein verkappter Charakter, seine unbeholfenen Beziehungen zu Familienmitgliedern und Mitstreitern sind lebendig und hervorragend herausgearbeitet. Und manche Szenen sind so prägnant beschrieben, dass sie sehr lange nachhallen – zusammen mit der Frage nach Moral und Ethik.

"Der Krieg war nicht ausgeblieben, er war auch nicht schneller vorübergegangen. Die Rakete war lediglich ein Werkzeug gewesen. Es war paradox. Wie konnte etwas, das die Wissenschaft, die pure Vernunft, erschaffen hatte, solch eine barbarische Wirkung entfalten?" S. 216

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 12.02.2021

Zwischen Leidspur und Lichtspur

Die Vögel singen auch bei Regen
0

„Ich hatte Unebenheiten in mir, die man nicht mal eben so wegbügeln konnte.“

Kea von Garnier hat fast 35 Jahre Erfahrung mit psychischen Erkrankungen, Therapien und Klinikaufenthalten – alles, was für ...

„Ich hatte Unebenheiten in mir, die man nicht mal eben so wegbügeln konnte.“

Kea von Garnier hat fast 35 Jahre Erfahrung mit psychischen Erkrankungen, Therapien und Klinikaufenthalten – alles, was für andere selbstverständlich war, wie Studium, Beruf ergreifen und den eigenen Lebensunterhalt verdienen, war für sie mit Kämpfen, Rückschlägen und Krankheitsschüben verbunden. In „Die Vögel singen auch bei Regen“ hat sie ihre Lebensgeschichte verfasst – schonungslos, eindringlich, aber auch mit wunderschönen Bildern und in einer klugen, poetischen Sprache, die zwar nichts beschönigt, aber der es eine Freude ist zu folgen. Kea hat sich schon früh „anders“ gefühlt, nachdem die Mutter die Familie verlassen hat, als sie zwei Jahre alt war. Sie beschreibt es so, dass Gefühle und Dinge aus der Außenwelt zu tief in sie gelangen – Schönes wie auch Gutes. Sie entwickelt eine überbordende Angst vor dem Erbrechen, eine Essstörung, Panik- und Angstattacken, somatische Bauchschmerzen, Depressionen und eine Depersonalisations-/Derealisationsstörung. Fast romanhaft folgt der Leser Keas Stationen in ihrem Leben: Schule, Studium, Umzug nach Berlin und die ersten Lieben – letztere münden bei der Autorin in Abhängigkeit, toxische Beziehungen und einem alles umfassenden Trennungsschmerz, der ihr am Ende auch eine neue Diagnose und eine hilfreiche Klinik bietet.

„Wendepunkte sind selten die Punkte mit der schönen Aussicht.“

Kea von Garnier ist eine Wortpoetin und sehr authentisch – mit ihrem Blog und ihrem Buch möchte sie psychische Krankheiten enttabuisieren, Betroffenen Mut machen und hinterfragen, was wir als eine gesellschaftliche Norm definiert haben: Ist die Grenze zwischen „krank“ und „gesund“ eigentlich nicht zu streng gezogen und langsam obsolet? „Die Vögel singen auch bei Regen“ ist ein Mutmacher, Kraftspender und mit dem 10. Kapitel rund um das KEN-Programm auch eine kleine Hilfestellung, um einen gesunden Umgang zu verdrängten und unangenehmen Gefühlen zu entwickeln.

Und nicht nur die wunderschöne Aufmachung des Buches mit den kalligrafischen Schriftzügen, auch Keas Schreibstil hat mich begeistert. So präzise und doch mit wunderschönen Bildern über ihren Leidens- und Lebensweg zwischen Leidspur, Lichtspur und dem kräftezehrenden Aufrappeln nach vielen Rückschlägen. Viele Sätze sind mir in Erinnerung geblieben und es ist so mutig und wichtig von der Autorin, psychische Erkrankungen ins Licht zu rücken und von dem gesellschaftlichen Stigma zu befreien.

Ergreifend beschreibt sie, was es in unsere Gesellschaft bedeutet, 'anders' zu sein - aber stets mit dem Aufleuchten eines möglichen Heilungsweges, der Akzeptanz von dem Dazwischen, das Gehen kleiner Schritte, Tag für Tag. Kea hat in ihrem tiefen Leid die Kunst, die Literatur und das kreative Schreiben als Anker entdeckt und berührt nun mit ihrem intimen Einblick in ihr verletzliches Seelenleben zahlreiche Menschen.

„Ich konnte nicht mehr beeinflussen, dass meine Seele sie entwickelt hatte, aber ich konnte mich von dem Gefühl der Scham über mein Anderssein befreien. Natürlich machte ich mich damit verletzlich. Aber ich spürte, es war für mich und andere Betroffene ein richtiger Schritt.“ S. 126

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere