Zwischen Wahn und Wirklichkeit
Flüchtige FreundeDie amerikanische Autorin Anna Caritj verwebt in ihrem atmosphärischen Debütroman „Flüchtige Freunde“ die mentale Entwicklung einer jungen, instabilen Frau mit einem mysteriösen Vermisstenfall an einem ...
Die amerikanische Autorin Anna Caritj verwebt in ihrem atmosphärischen Debütroman „Flüchtige Freunde“ die mentale Entwicklung einer jungen, instabilen Frau mit einem mysteriösen Vermisstenfall an einem Campus.
Leda ist an ihrer Universität in einer Schwesternschaft – nach dem Tod ihrer Mutter, den sie noch nicht verarbeitet hat und als Trauma in sich verkapselt trägt, verspricht sie sich dort Halt und Zugehörigkeit. Nach einer exzessiven Partynacht an Halloween, bei denen viele junge Männer und Frauen jegliche Hemmungen verlieren, wacht Leda ohne Erinnerung und einer blutigen Lippe auf. Sie fragt sich, ob sie in dieser Nacht Sexualverkehr mit ihrem Schwarm Ian hatte und ob dieser einvernehmlich war. Und gleichzeitig verschwindet nach dieser Party ihre flüchtige Bekannte im Schwanenkostüm Charlotte und ist nicht auffindbar. Wurde sie vergewaltigt und umgebracht?
Während am College-Campus großflächige Suchaktionen, Diskussionen und gesellschaftspolitische Events zu Charlotte stattfinden, verstrickt sich Leda in ihren Projektionen auf Charlotte immer mehr in ein verwirrendes Gedankenkarussell und in ein fast schon wahnhaftes Verhalten. Sie sucht Charlottes Haus auf, nimmt sich dort eine Reihe privater Postkarten mit und macht sich obsessiv auf die Suche nach Charlottes letzten Tagen und Verbleib. Dabei sucht Ian immer wieder Kontakt zu ihr – kann sie ihm vertrauen und was genau ist in der Halloween-Nacht passiert?
Packend und bewegend dringt Anna Caritj dabei in einer Art des ewigen Monologs tief in die Gedanken und Seele der Protagonistin ein – auch wenn sich vieles dabei wiederholt, sind die Erinnerungsfetzen an ihre Mutter gemischt mit ihrer Unsicherheit in Sachen Sex, Verbundenheit und Liebe sehr greifbar. Dabei nutzt die Autorin treffsicher-schöne Metaphern aus der Astronomie oder Tierwelt und nimmt erzählerisch jedes Detail in der Umwelt wahr. Filmisch und dicht schildert sie zudem das Campusleben und die anderen Handlungsorte wie Charlottes Haus oder Farm, in der sie das rabiate Herdenverhalten der Ziegen ausführlich beobachtet. Darüber hinaus spricht Caritj durch Ledas verworrene Wahrnehmung einige gesellschaftspolitische Themen an, allen voran selbstbestimmte Sexualität und Vergewaltigung. Aber auch Familie, Freundschaft, Trauer, Unsicherheit in Bindungen und die Suche nach Zugehörigkeit spiegeln sich vage im Roman, während so manche Hauptfigur wie Ian sehr blass in der Charakterzeichnung bleibt.
Doch leider stolpert das vielversprechende Debüt am Ende über das eigene Konstrukt – Leda versucht ihr verdrängtes Trauma und den After-Party-Blackout mit Charlottes Verschwinden zu verknüpfen und aufzulösen. Das schafft sie auch, aber nachdem in unzähligen, treibenden Kapiteln voller Zerrissenheit, Bedrohungen und drehender Bewegung mit repetitiven Fragen ein großer Spannungsanstieg konstruiert wurde, fällt die Auflösung und Heilung des Traumas psychologisch sehr knapp und unglaubwürdig aus. Auch die anfänglichen Bezüge zur Leda-und-Zeus-Mythologie (Originaltitel) verlaufen sich gnadenlos im Sande.
Trotzdem bleibt Anna Caritj eine sprachlich talentierte Autorin, von der gespannt erwartet werden darf, was noch von ihr erscheinen wird!