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Veröffentlicht am 09.07.2023

Zwischen Wahn und Wirklichkeit

Flüchtige Freunde
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Die amerikanische Autorin Anna Caritj verwebt in ihrem atmosphärischen Debütroman „Flüchtige Freunde“ die mentale Entwicklung einer jungen, instabilen Frau mit einem mysteriösen Vermisstenfall an einem ...

Die amerikanische Autorin Anna Caritj verwebt in ihrem atmosphärischen Debütroman „Flüchtige Freunde“ die mentale Entwicklung einer jungen, instabilen Frau mit einem mysteriösen Vermisstenfall an einem Campus.

Leda ist an ihrer Universität in einer Schwesternschaft – nach dem Tod ihrer Mutter, den sie noch nicht verarbeitet hat und als Trauma in sich verkapselt trägt, verspricht sie sich dort Halt und Zugehörigkeit. Nach einer exzessiven Partynacht an Halloween, bei denen viele junge Männer und Frauen jegliche Hemmungen verlieren, wacht Leda ohne Erinnerung und einer blutigen Lippe auf. Sie fragt sich, ob sie in dieser Nacht Sexualverkehr mit ihrem Schwarm Ian hatte und ob dieser einvernehmlich war. Und gleichzeitig verschwindet nach dieser Party ihre flüchtige Bekannte im Schwanenkostüm Charlotte und ist nicht auffindbar. Wurde sie vergewaltigt und umgebracht?

Während am College-Campus großflächige Suchaktionen, Diskussionen und gesellschaftspolitische Events zu Charlotte stattfinden, verstrickt sich Leda in ihren Projektionen auf Charlotte immer mehr in ein verwirrendes Gedankenkarussell und in ein fast schon wahnhaftes Verhalten. Sie sucht Charlottes Haus auf, nimmt sich dort eine Reihe privater Postkarten mit und macht sich obsessiv auf die Suche nach Charlottes letzten Tagen und Verbleib. Dabei sucht Ian immer wieder Kontakt zu ihr – kann sie ihm vertrauen und was genau ist in der Halloween-Nacht passiert?

Packend und bewegend dringt Anna Caritj dabei in einer Art des ewigen Monologs tief in die Gedanken und Seele der Protagonistin ein – auch wenn sich vieles dabei wiederholt, sind die Erinnerungsfetzen an ihre Mutter gemischt mit ihrer Unsicherheit in Sachen Sex, Verbundenheit und Liebe sehr greifbar. Dabei nutzt die Autorin treffsicher-schöne Metaphern aus der Astronomie oder Tierwelt und nimmt erzählerisch jedes Detail in der Umwelt wahr. Filmisch und dicht schildert sie zudem das Campusleben und die anderen Handlungsorte wie Charlottes Haus oder Farm, in der sie das rabiate Herdenverhalten der Ziegen ausführlich beobachtet. Darüber hinaus spricht Caritj durch Ledas verworrene Wahrnehmung einige gesellschaftspolitische Themen an, allen voran selbstbestimmte Sexualität und Vergewaltigung. Aber auch Familie, Freundschaft, Trauer, Unsicherheit in Bindungen und die Suche nach Zugehörigkeit spiegeln sich vage im Roman, während so manche Hauptfigur wie Ian sehr blass in der Charakterzeichnung bleibt.

Doch leider stolpert das vielversprechende Debüt am Ende über das eigene Konstrukt – Leda versucht ihr verdrängtes Trauma und den After-Party-Blackout mit Charlottes Verschwinden zu verknüpfen und aufzulösen. Das schafft sie auch, aber nachdem in unzähligen, treibenden Kapiteln voller Zerrissenheit, Bedrohungen und drehender Bewegung mit repetitiven Fragen ein großer Spannungsanstieg konstruiert wurde, fällt die Auflösung und Heilung des Traumas psychologisch sehr knapp und unglaubwürdig aus. Auch die anfänglichen Bezüge zur Leda-und-Zeus-Mythologie (Originaltitel) verlaufen sich gnadenlos im Sande.

Trotzdem bleibt Anna Caritj eine sprachlich talentierte Autorin, von der gespannt erwartet werden darf, was noch von ihr erscheinen wird!

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Veröffentlicht am 15.10.2021

Durchs Licht strömende Erinnerungen

Wenn wir heimkehren
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Die Autorin Andrea Heuser begibt sich mit ihrem epischen Familienroman „Wenn wir heimkehren“ auf autobiografische Spurensuche ihrer eigenen Familie und Großeltern. Über mehrere Jahrzehnte und Generationen ...

Die Autorin Andrea Heuser begibt sich mit ihrem epischen Familienroman „Wenn wir heimkehren“ auf autobiografische Spurensuche ihrer eigenen Familie und Großeltern. Über mehrere Jahrzehnte und Generationen hinweg entwirft sie ein authentisches Bild des gebeutelten Nachkriegsdeutschland anhand von weitgestreuten, persönlichen Geschichten durch 80 Jahre Zeitgeschehen.

Im Mittelpunkt stehen Margot und ihre Männer (einschließlich Sohn Fred) in einer schwierigen Zeit. Im Köln der 1950er-Jahre trifft die alleinerziehende, resolute und doch innerlich zerrissene Margot auf den lebensbejahenden Willi, der trotz seelischen und physischen Kriegstraumata nicht die Lebensfreude verliert. Er ist fasziniert von Margot und es entsteht eine jahrzehntelange Liebe voller Widrigkeiten, Auseinanderdriften und Wiederzueinander finden, voller Schuld, Verdrängen und einfach Weitermachen. Heuser erzählt unheimlich detailverliebt, erschafft für jedes Jahrzehnt eine dichte, detailgetreue und gut recherchierte Zeitreise mit viel Lokalkolorit und melancholischen Erinnerungen. Auf den umfangreichen 600 Seiten ist die Geschichte rund um das ungleiche Paar Margot und Willi sowie dem intellektuellem Sohn Fred mit zahlreichen Rückblenden, Anekdoten und Abschweifungen in der Zeitleiste und an verschiedenen Orten versehen, bis das berührende und atmosphärische Epos am Ende in der Gegenwart ankommt. Darüber hinaus streut Heuser zahlreiche Liedzitate und anderen Redensarten auf verschiedene Sprachen ein – leider ein wenig zu viele.

Von den 1930er bis 90er-Jahren spannt Heuser eine weitläufig verzweigte Familiengeschichte, in denen verloren geglaubte Seelen immer weitermachen, zwischen Hoffnung, Freude und Schmerz schwanken und am Ende sehen, wie sich ihre Leben transgenerational verbinden, samt Traumata. Die Farben des Lichts und der Erinnerungen spielen eine zentrale Rolle, aber auch, was am Ende von all den Begegnungen bleibt.

Leider verliert sich die autobiografisch geprägte und poetisch in zwei Teilen erzählte Familiengeschichte an einigen Stellen zu sehr im Detail und in den vielen persönlichen und historischen Abschweifungen – eine Straffung und präzisere Strukturierung rund um einen roten Faden hätte hier sehr gut getan. Trotzdem insgesamt ein akribisch und gut recherchierter (Liebes-)Roman voller Erzählfreude über persönliche und fiktive Erinnerungen – und wie unterschiedlich diese betrachtet werden können, je nachdem „wie das Licht fällt“. Und ein unterhaltsames Stück deutsche Zeitgeschichte aus den (Nach-)kriegsjahren, den dazugehörenden Wunden und Träumen sowie der schwierigen Rolle als Frau – auch wenn es einige Längen beinhaltet, die den Lesefluss bremsen.

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Veröffentlicht am 14.10.2021

Satirisch kreisende Monologe

Die Party
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Ulrike Haidacher ist die eine Hälfte des österreichischen Kabarett-Duos „Flüsterzweieck“ und legt nun mit „Die Party. Eine Einkreisung“ ihren Debütroman vor, der aus Teilen aus ihrem letzten Soloprogramm ...

Ulrike Haidacher ist die eine Hälfte des österreichischen Kabarett-Duos „Flüsterzweieck“ und legt nun mit „Die Party. Eine Einkreisung“ ihren Debütroman vor, der aus Teilen aus ihrem letzten Soloprogramm basiert. Darin verläuft sich eine junge Softeis-Verkäuferin mit Aussicht auf einen Lektorenjob an der Universität auf groteske Weise auf dem Versöhnungsweg zu ihrer Schwester – sie landet in der Donau und danach pitschnass auf einer absurden Koch-Party mit pseudotoleranten und pseudointellektuellen Menschen und Möchtegern-Weltverbesserern. Partygeber ist ein selbsternannter hipper Regisseur, der selbstverliebt mit seinem Feminismus-Standpunkt prahlt, dahinter sich aber purer Sexismus versteckt. Seine Juristen-Bekannte Verena wird mit jedem Glas Prosecco unangenehmer – nicht nur, was ihre Meinungen betrifft, auch ihr Verhalten wird markanter und aufdringlicher. Ein junger Mann mit Hornbrille knackt auffällig laut seine Wasabi-Nüsse, während ein scheinbar „glückliches Paar“ seine eigene Fremdenfreundlichkeit lobt, aber ein spießiges Trachtenlabel entworfen hat und auf sich auf die alten Werte des Frauseins besinnt.

Die namenlose Softeis-Verkäuferin und Protagonistin ist die stille Beobachterin des illustren Geschehens, ihr Entsetzen über die gesprochenen Aussagen und ihr weitverzweigtes Denken gibt sie in kreisenden Monologen und assoziativen Verschachtelungen wider. Dabei trifft sie überspitzt und sarkastisch auf die wunden Punkte unserer Gesellschaft und enttarnt die Pseudo-Toleranz und leeren Plattitüden ihrer umstehenden Partygäste, ohne viel zu sagen. Wenn sie Wort ergreift, kommen nur wirre Sätze aus ihrem Mund, was die ganze Situation noch obskurer wirken lässt. Die Gäste frönen am Rohschinken und dem vielen Alkohol, Essensreste und Körpergerüche fliegen durch den muffigen Partykeller, während mit zunehmender Stunde die Erzählerin nicht nur physisch, sondern auch mit Worten immer weiter eingekreist wird und die fanatische Gesellschaft aus dem Ruder läuft. Eine Flucht gelingt ihr nicht, so muss sie bis zum bitteren und überraschenden Ende bei der egozentrischen Meute bleiben und sich eben so gut wehren, wie es ihr verbal möglich ist.

Der literarische Stil des satirischen Buches ist an Thomas Bernhard angelehnt, der in seinen Werken der Polemik häufig durch einen monologisierenden Ich-Erzähler Ausdruck verschafft hat. So besteht auch „Die Party“ aus kreisenden, bissigen und weit verschachtelten Monologen, während die Protagonistin auf der Party ein stummer Zuhörer ist und ihre Sicht auf die Dinge nur denkt. Diese seitenlangen Gedankenspiralen sind beim Lesen mitunter sehr anstrengend und schwindelerregend – auch wenn Haidacher durchaus provokante und pointiert-skurrile Sichtweisen auf die rechthaberischen Diskussionen über Feminismus, Frauenquote, Migration & Co. entwirft. Wie in einem endlosen Karussell, das sich immer schneller und ohne Stopp dreht, spielt auch Haidacher mit diesem sich steigernden, assoziativen Gedankenstrom über bestimmte Themen und fixe Meinungen und hält unserer Gesellschaft den Spiegel vor – österreichische Mundart und irre Petersilien-Situationskomik inklusive.

Ein nicht einfaches, intensives und schwindelerregendes Werk, das bissig-zynische Höhen und Lacher hat und im Bernhard-Stil treffsicher so manche gesellschaftliche Schwachstelle und idealistische Idee entlarvt, aber nicht jedem Lesevergnügen bereiten dürfte.

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Veröffentlicht am 30.08.2021

Entfremdung auf allen Ebenen

Der Brand
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Nach ihrem großen Erfolg von „Die Liebe im Ernstfall“ widmet sich die Autorin Daniela Krien in ihrem neuen Roman „Der Brand“ einer fast 30-jährigen Ehe, die ins Kriseln und Straucheln geraten ist. In Pandemie-Zeiten ...

Nach ihrem großen Erfolg von „Die Liebe im Ernstfall“ widmet sich die Autorin Daniela Krien in ihrem neuen Roman „Der Brand“ einer fast 30-jährigen Ehe, die ins Kriseln und Straucheln geraten ist. In Pandemie-Zeiten wollen Rahel (49) und Peter (55) aus Dresden eigentlich Urlaub in den bayerischen Alpen machen – da ihr gebuchtes Ferienhaus aber abgebrannt ist, müssen sie umdisponieren. Da trifft es der Zufall gut, dass eine gute Freundin um Hilfe bittet: Ruths Mann Viktor hat einen Schlaganfall erlitten, braucht auf der Reha in Ahrenshoop Unterstützung – Rahel und Peter fahren nach Uckermark auf Ruths idyllisches Anwesen, um Haus, Garten und die vielen Tiere zu betreuen.

Aufgeteilt in drei Kapiteln und drei Urlaubswochen beleuchtet Daniela Krien die Ehekrise und das Innenleben ihrer Protagonisten aus Rahels Perspektive – die Psychotherapeutin steckt mitten in den Wechseljahren und Stimmungsschwankungen, zudem setzt ihr es zu, dass Peter nicht mehr mit ihr schlafen möchte. Seit einem zugespitzt dargestellten Gender-Eklat und nachfolgendem Social-Media-Shitstorm fühlt sich der Literaturprofessor nicht nur von seinem beruflichen Umfeld, sondern auch von Rahel und der ganzen Gesellschaft zurückgewiesen. Auf dem Hofgut kümmert sich Peter um die Tiere – eine ältere Stute, ein flügelkranker Storch und eine einohrige Katze. Das Zurückziehen in die Natur und zu den Tieren bewahrt ihn vor einer ernsthaften Aussprache mit Rahel – Sprachlosigkeit durchzieht die Beziehung und Peter schmökert lieber in seinem alten Dresden-Buch oder anderen Literaturklassikern. Werden die Eheleute sich wieder annähern können? Während Rahel in Viktors Künstleratelier eine für sich lebensverändernde Entdeckung auf Zeichnungen macht, kündigt sich zudem Tochter und Drama Queen Selma samt Kindern an – auch sie steckt in einer Beziehungskrise und sucht um Rat.

Daniela Krien ist eine scharfe Beobachterin und feinfühlige Chronistin von menschlichen Widersprüchen und Beziehungen – auch in „Der Brand“ finden sich solche zart und präzise aufgefangenen Betrachtungen einer Ehe, die strauchelt und an der das Unausgesprochene und die Zeit nagt. Doch neben diesen Momenten stehen allerhand gesellschaftliche Bezüge, die in ihrer Gesamtheit überfrachtet, klischeehaft und teilweise unglaubwürdig eingeflochten werden. Krien wollte laut einem Interview in ihrem Roman darstellen, „warum sich freiheitlich und liberal gesinnte Menschen in unserer Gesellschaft zunehmend fremd fühlen“ – bei Peter, einem Literaturprofessor, nimmt das obskure Züge an, die vermuten lassen, dass das Querdenken auch im Akademikermilieu verbreitet ist: Zuerst liest er keine überregionalen Zeitungen mehr wegen fehlendem Realitätssinn, dann schaltet er die Nachrichten zu Corona-Zeiten aus, um sich seinen eigenen Verstand zu bedienen und am Ende schimpft er auf den Staat sowie auf westliche Mentalitäten, die über den Osten eingebrochen sind. An sich sehr wichtigte Themen, doch bei Krien kratzen sie ohne Tiefgang oder Facetten plakativ eingeworfen an der Oberfläche – die Charaktere sind sehr widersprüchlich und teils unrealistisch in ihrem Verhalten dargestellt.

Es brennt in „Der Brand“ auf vielen doppeldeutigen Bereichen und die Entfremdung findet nicht nur zwischen den gebildeten Eheleuten statt, sondern auch gegenüber der Gesellschaft, der Politik, den Medien und dem Staat – leider hat Daniela Krien hier eine sehr eindimensionale und oberflächliche Betrachtung eingenommen, die in der Gesamtkonstruktion nicht überzeugt. Neben der klaren, treffsicheren und literarisch wertigen Prosa sind das intensive Eintauchen in die Seelenleben und die atmosphärischen Beschreibungen von Hof und Tieren das Bemerkenswerte dieses Romans. Da aber auch hier manches in der Ehe- und Familiendynamik ins Klischee- und Spießbürgerhafte abdriftet, ist der Roman insgesamt eine kleine Enttäuschung – aber wunderbar szenisch arrangiert für das Vorabend-Programm im Fernsehen.

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Veröffentlicht am 30.07.2021

Verästelte Gedanken

Auszeit
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Henriette fühlt sich ihrem eigenen Leben nicht verbunden – die Mittdreißigerin hat schon immer mit Antriebsproblemen und Depressionen zu kämpfen, findet keinen für sie wünschenswerten Beruf und ihre Dissertation ...

Henriette fühlt sich ihrem eigenen Leben nicht verbunden – die Mittdreißigerin hat schon immer mit Antriebsproblemen und Depressionen zu kämpfen, findet keinen für sie wünschenswerten Beruf und ihre Dissertation über die Kulturgeschichte des Werwolfes stagniert. Eine Abtreibung hat ihr derzeit den Rest gegeben und sie weiß nicht, wohin ihr Leben verlaufen soll, während für sie alle anderen ein geordnetes Dasein führen. Ihre enge Freundin Paula überredet sie für eine Auszeit in einer Hütte im Bayerischen Wald – umgeben von der Natur und mit Yogaübungen sowie Massagen möchte sie die Traumata und Wunden Henriettes heilen. Und die Umgebung in der Nähe von Wolfsgehegen sei prädestiniert für die Weiterführung ihrer Doktorarbeit. Die Tage ziehen neben Paulas gedanklichen Reflexionen mit alltäglichen Dingen wie Kochen, Reden, Wein trinken und Spazierengehen dahin, bis Paulas On-Off-Freund Tom auftaucht und das Zweierteam aufmischt.

„Der Moment direkt vor dem Augenaufschlag ist eine Millisekunde im Negativbereich des Bewusstseins vor dem Beginn der Zeitrechnung des Tages. Alles ist schon in ihm angelegt: die Trauer oder die Freude des Kommenden.“ S. 16

Feinfühling, zart, direkt und poetisch taucht der Leser tief in Henriettes verästelte Gedanken und Selbstzweifel ein – geplagt von Grübelattacken sucht sie einen Sinn im Leben, beobachtet dabei ihre Umgebung und ihren bisherigen Lebensweg präzise und kreist immer um sich selbst. Sie denkt schmerzhaft über die Abtreibung und dem dazugehörigen One-Night-Stand nach und ordnet immer wieder ihre Wahrnehmung und ihr Befinden ein. Dabei fließen Bezüge zur Werwolfs-Transformation und seine verschiedenen Ausführungen ein.

„Die Deutung, dass es sich bei der Verwandlung in einen Wolf um einen Ausbruch des Bösen im Menschen handelte, ist falsch. Ich glaube, der Werwolf rennt durch die Nacht wie ein Wahnsinniger, der leben will.“ S. 65

Hannah Lühmann zeigt ein bewegendes und ruhiges Bild einer depressiven jungen Frau, das sehr authentisch und intim zugleich ist. Dabei steht nicht eine ganze 30er-Generation, die sich voller Möglichkeiten in der Entscheidungsfindung verliert, sondern Henriette und ihre düsteren Gedankenspiralen im Vordergrund. Der Roman entwickelt sich leise, vieles ist zwischen den Zeilen zu finden. Am Ende wartet eine überraschende, fast schon traumartige Wendung, die Paula aus ihrer depressiven Phase holen wird. Dieses fällt etwas unrealistisch aus und die Werwolf-Bezüge sind insgesamt schwierig einzuordnen.

Mit einer dichten, sensiblen sowie klaren Sprache zeichnet Lühmann in „Auszeit“ präzise und eindringlich das Seelenleben einer jungen Frau nach, die vom eigenen Leben überfordert ist und einfach nur voller Energie leben möchte – bei der inhaltlichen Komposition ist noch Luft nach oben und es bleibt spannend, was von der Autorin in Zukunft erscheint.

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