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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 10.02.2018

Erschütternde Flucht durch Deutschland

Der Reisende
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„Ja, die Erde bebt, aber nur unter uns.“ (S. 77-78)
Wohin flüchtet man, wenn das ganze Land ein Gefängnis zu sein scheint? Vor dieser Frage steht Boschwitz‘ Protagonist Otto Silbermann, ein Jude in der ...

„Ja, die Erde bebt, aber nur unter uns.“ (S. 77-78)
Wohin flüchtet man, wenn das ganze Land ein Gefängnis zu sein scheint? Vor dieser Frage steht Boschwitz‘ Protagonist Otto Silbermann, ein Jude in der Zeit der ersten großen Verhaftungswelle Ende der dreißiger Jahre. Auf seiner Flucht durch Deutschland werden erschütternde menschliche Abgründe deutlich.
Etwas schmerzhaft ist es immer, Romane aus der Zeit der Judenverfolgung zu lesen. Man weiß nicht, wie man sich selbst verhalten hätte, man weiß unter Umständen nicht, wie Familienmitglieder sich verhalten haben, aber vor allem sind die Geschehnisse von damals so unsagbar furchtbar. Jedes Mal, auch bei diesem Buch, schnürt sich mir die Kehle zu, wenn ich von den Ungerechtigkeiten lese, die unschuldigen Menschen widerfahren sind; wenn ich lese, wie „ganz normale“ Leute geredet haben; wie diese ganz normalen Leute plötzlich all ihre Hemmungen verloren haben und sich tatsächlich – wie unglaublich! – im Recht gesehen haben. Machen ja alle.
„Was ich tue, das tun andere auch.“ (S. 59)
Besonders beeindruckend und erschütternd fand ich die Selbsterkenntnis Silbermanns, dass auch er nicht besser ist: Ausgestattet mit dem Glück, zumindest optisch nicht gleich als Jude verdächtigt zu werden, ertappt er sich wiederholt dabei, die Gesellschaft anderer Juden zu meiden, um nicht selbst „kompromittiert“ zu werden. Das verdeutlicht vielleicht mehr als alles andere, wie verlockend es gewesen sein muss, sich unsichtbar zu machen und einfach der Mehrheit anzuschließen – aus welchen Gründen auch immer und so falsch das auch ist. Wer von uns weiß wirklich, was er getan hätte?
Die autobiografischen Einschläge, die dieser Roman sicherlich hat (immerhin ist Boschwitz selbst jüdischer Emigrant aus der Zeit gewesen), sind vermutlich erhebliche Faktoren, die zur Glaubwürdigkeit und zur Intensität beigetragen haben. In jedem Fall: Ziemlich erschütternd und ziemlich lesenswert.

Veröffentlicht am 31.01.2018

Eine Familie im Nachkriegsberlin

Das Sonnenkind
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„In seinem Kopf gibt es keinen Frieden, wochenlang herrscht Waffenstillstand, aber dann brechen die Kämpfe eines Nachts wieder auf, und Scholze stürzt in seine Erinnerungen.“ (S. 47)

Kindheit in einer ...

„In seinem Kopf gibt es keinen Frieden, wochenlang herrscht Waffenstillstand, aber dann brechen die Kämpfe eines Nachts wieder auf, und Scholze stürzt in seine Erinnerungen.“ (S. 47)

Kindheit in einer Familie aus drei Generationen im Nachkriegsdeutschland: Detlev Meyer lässt den Leser hautnah miterleben, wie es ist, in dieser Zeit in Berlin aufzuwachsen, ohne dabei jedoch den Fokus von der Kindheit, vom Aufwachsen selbst und von den Menschen abzulenken.

Der kleine Carsten wird im Truseweg in Berlin Neukölln groß und an seiner Seite erleben wir die Familie, die Nachbarn und seine ganze Welt (die so viel mehr als den Truseweg nicht zu umfassen scheint). Die Handlung scheint leicht zu sein, doch davon darf man sich nicht täuschen lassen: Wir blicken schnell tiefer als die Fassaden es eigentlich zulassen möchten, und sehen Wesenszüge an den Figuren, die diese gern verborgen hätten.

Die Vermutung liegt nahe, dass die biografische Nähe seines kleinen Helden zu Detlev Meyer selbst der Grund dafür ist, dass das ganze Buch sich so glaubwürdig und echt liest. Dem Leser wird nichts auf die Nase gebunden, beinahe kommt das Gefühl auf, man entdecke die Welt zusammen mit dem kleinen Carsten, und manchmal möchte man ihn knuddeln, manchmal für das dem Kind eigene leicht übersteigerte Selbstbewusstsein schütteln. Und dann sind da noch die vielen anderen: Der große Bruder, der sich im Spannungsfeld zwischen Kindheit und Erwachsensein aufhält; die Mutter, die auch nicht nur tugendhaft ist; der Vater, der ein bisschen vom Krieg im Kopf mitgebracht hat; die Oma, die aus der Zeit der Kaiser und Grafen noch nicht über die Weltkriege mitgekommen ist; und schließlich der Opa, der über einige Aspekte seiner Vergangenheit lieber den Mantel des Schweigens breitet.
Viele kleine Figuren sind es, die dort aufeinandertreffen, und die im Zusammenspiel ziemlich facettenreich agieren.

Insgesamt bietet „Das Sonnenkind“ spannende Einblicke in eine Zeit vor unserer, es hebt den Vorhang vor den gutbürgerlichen Fünfzigern und lässt immer wieder tief blicken.
Sehr zu empfehlen ist übrigens auch das Nachwort von Matthias Frings, in dem er den Roman in das Leben seines Schriftstellers einordnet.

Veröffentlicht am 13.01.2018

Lebensgeschichte voller Liebe

Olga
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„Es war ein holpriges Glück, aber ein wirkliches Glück.“ (S. 157)

Olgas Lebensgeschichte ist eine Geschichte der Liebe: Der Liebe zu Herbert, der zu Eik und der zu Ferdinand; eine Geschichte von Liebe, ...

„Es war ein holpriges Glück, aber ein wirkliches Glück.“ (S. 157)

Olgas Lebensgeschichte ist eine Geschichte der Liebe: Der Liebe zu Herbert, der zu Eik und der zu Ferdinand; eine Geschichte von Liebe, die sich früh manifestiert und ein ganzes Leben lang Halt gibt. Es ist die Geschichte einer Frau, die ziemlich viel gehabt und eine Menge verloren hat, und zugleich die Geschichte eines Landes, das im zwanzigsten Jahrhundert immensen Stürmen ausgesetzt wird.

„Die Spiele der Kinder waren eher eine Vorbereitung auf den Daseinskampf als ein Vergnügen.“ (S. 9)
„Er sah nur das Dunkel der Nacht, so undurchdringlich, als wäre eine Decke über ihn gebreitet, und er wusste nicht, ob er vor dem da draußen Angst hatte oder vor etwas in ihm selbst.“ (S. 44-45)

Zwischendurch war ich mir nicht sicher, ob der Roman wusste, in welchem Tempo er sich fortbewegen wollte. Manche Episoden waren genüsslich und langsam erzählt, dann wieder wurden mehrere Jahre in wenigen Sätzen abgefrühstückt. Sobald man sich daran gewöhnt hat – und an die teils komplizierte Satzstruktur, die mich über einige Sätze hat stolpern lassen und mich so gezwungen hat, das Lesetempo zu verringern – und sich darauf einlässt, ist die Handlung äußerst spannend, und dann macht es Spaß, das Buch in Ruhe zu lesen.

Dass es in der Hauptsache um eine Figur namens Olga geht, ist nach dem Titel des Romans wenig verwunderlich. Und wenn ich oben geschrieben habe, dass Olgas Geschichte eine Liebesgeschichte ist, dann ist das genau so gemeint: Die Liebe zu dem einen oder anderen Mann zieht sich durch ihr ganzes Leben. Trotzdem, und das beeindruckte mich ganz besonders, ist Olga keine Figur, die ihr Wohlbefinden von jemand anderem abhängig macht, und bei all den Gefühlen zu anderen ist sie vielleicht eine der selbstständigsten Gestalten, die mir in der Literatur seit langem untergekommen ist. Ihre unaufgeregte, großzügige Art machte sie dabei auch noch wesentlich sympathischer als es ihren Männern je gelungen ist.
Da ist Herbert, der stolz auf sein Vaterland ist, der am liebsten die ganze Welt kolonialisieren würde und sich mit Begeisterung an den Kämpfen gegen die Herero beteiligt; da ist Eik, der sich in den Reizen des Nationalsozialismus verliert; und ein wenig versöhnlich am Ende Ferdinand, der Olgas Geschichte für sich selbst und den Leser aufdeckt.
Es fiel mehr ungeheuer schwer, Olgas Gefühle für die ersten beiden Menschen nachzuvollziehen, doch vielleicht hat sie einfach recht damit, wenn sie sagt „Ach, Kind, nicht die Eigenschaften machen, dass zwei zusammenpassen, die Liebe macht’s.“ (S. 108)

„Ich vermisse Dich bei allem, was wir gemeinsam gemacht haben und was ich jetzt alleine mache.“ (S. 165)
„Du bist weg, aber Du tust weh, als seist du noch da.“ (S. 212)

Ich mag es ja eigentlich schon echt ganz gern, wenn ich die Charaktere mag, die in dem Buch vorkommen, das ich gerade lese, und wenn ich die Figuren nachvollziehen kann, die im Kern der Handlung stehen. Bedingt dadurch, dass ersteres bei diesem Buch nicht bei allen geklappt hat, war auch das zweite von Zeit zu Zeit schwierig.
Trotzdem hat mir die Geschichte wirklich gut gefallen, sie war interessant und vor allem, und das ist ihr größter Pluspunkt, ist sie durch die verschiedenen Teile und Perspektiven einfallsreich und richtig gut erzählt.

Veröffentlicht am 17.10.2017

Lehrreiche Unterhaltung

Sex Story
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Zusammenfassung. "Sex Story" erzählt die Geschichte einer so existentiellen Sache für das Überleben unserer Spezies, die trotzdem in den letzten Jahrhunderten vor unserer Zeit mit Verachtung gestraft wurde. ...

Zusammenfassung. "Sex Story" erzählt die Geschichte einer so existentiellen Sache für das Überleben unserer Spezies, die trotzdem in den letzten Jahrhunderten vor unserer Zeit mit Verachtung gestraft wurde. Dabei ist von witzigen Anekdoten bis hin zu geschichtlichem Wissen alles dabei.

Cover und Aufmachung. Während das Cover ja vergleichsweise schlicht daherkommt und sich mit Andeutungen der Zeichnungen zufrieden gibt, die sich im Inneren des Einbands finden, sind die Zeichnungen im Buch wirklich hübsch und unterlegen den Inhalt sehr überzeugend mit Hintergrund. So ist es leicht, trotz des möglicherweise im Grunde erst einmal trockenen Themas, sich fesseln zu lassen und Bilder im Kopf zu haben - das ist bei den meisten anderen Büchern wahrscheinlich einfacher als bei einem Sachbuch über Sex.

Inhalt. Den Hauptteil des Buchs machen die geschichtlichen Abschnitte im Comicstil aus, die durch jede Epoche der menschlichen Entwicklung gehen und in denen echt viel Wissen steckte, das mir neu war. Etwas irritiert hat mich, dass im letzten Kapitel die Gegenwart mit der Zukunft zusammen gepackt wurde, aber die ersten 17 Jahre des 21. Jahrhunderts boten vermutlich noch nicht genug Stoff für einen eigenen Abschnitt.
Mit ein paar Seiten zu übergreifenden Themen und Erklärungen greift das Buch dann am Ende noch einige Dinge auf, die bis dahin nur kurz Erwähnung fanden und/oder weiterer Erklärungen bedürfen. Dieser Teil hätte für meinen Geschmack auch in einer etwas seriöseren Schriftart präsentiert werden dürfen (und ob man Sado-Maso grundsätzlich als psychische Störung abkanzeln muss weiß ich auch nicht so genau), aber seis drum.

Fazit. Abgesehen von kleineren Kritikpunkten bietet "Sex Story" einen wirklich umfassenden und spannenden Einblick in diverse interessante Themen um dieses eine große Thema, das seit Jahrhunderten die Menschheit beschäftigt.

Veröffentlicht am 17.10.2017

Nachdenklich machend durch Schönheit und Wahrheit

Stille
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"Denk daran, dass die Stille, die du erlebst, ein wenig anders ist als die, die andere erfahren. Alle haben ihre eigene." (S. 102)

Zusammenfassung. In diesem Buch finden wir die Gedanken, die sich Erling ...

"Denk daran, dass die Stille, die du erlebst, ein wenig anders ist als die, die andere erfahren. Alle haben ihre eigene." (S. 102)

Zusammenfassung. In diesem Buch finden wir die Gedanken, die sich Erling Kagge zum Thema Stille gemacht hat, in insgesamt 33 längeren und kürzeren Kapiteln. Dabei spricht er vom offensichtlichen bis zu den weniger offensichtlichen Teilen alles Denkbare an - ob er von der Stille am Südpol redet, von der Stille bei DJ-Sets oder von der Stille in der Großstadt.

Cover und Aufmachung. Die schlichte Optik des Umschlags hatte mich schon von Beginn an, doch das Buch hat es geschafft, meine Begeisterung noch vor Lesebeginn zu steigern: Nimmt man den Schutzumschlag ab (was ich grundsätzlich während des Lesens mache, sonst könnte ja was drankommen), so findet man das laute, rauschende Leben auf dem Buchdeckel. Wie könnte man ein Buch über Stille besser präsentieren?
Ebenfalls beachten muss man die Fotos und Bilder zwischen den Texten, die eine beeindruckende Ruhe ausstrahlen und deutlich machen, wieso der Autor einen Faible für Kunst hat.

Inhalt. Man darf auf keinen Fall einen durchgehenden roten Faden (abgesehen von der Stille als Thema) erwarten. Kagge liefert uns insgesamt 33 Ansätze einer Erklärung auf der Suche nach dem, was Stille bedeutet, was Stille sein kann und warum sie wichtig für uns ist, dabei stehen diese einzelnen Ansätze aber weitgehend alleine.
Auf die von ihm angesprochene Stille in moderner Musik achtete ich dann natürlich unbewusst in jedem Stück, dass ich seitdem gehört habe, über einige der von ihm referenzierten Menschen (Künstler, Dichter, Unternehmer) musste ich kurz recherchieren, denn ich kannte so gut wie niemanden von ihnen - insgesamt kann man also wohl sagen, dass mich das Buch sehr nachhaltig zum Nachdenken angeregt hat.
Zwischendurch zweifelte ich trotz meiner Begeisterung jedoch an der Notwendigkeit all dieser 33 Kapitel und hatte den Eindruck, dass Kagge ein wenig um etwas herum redet statt auf den Punkt zu kommen. Das waren aber nur sehr vereinzelte Momente.

Lieblingsstellen. "Zuhause fährt immer eiDn Auto vorbei, ein Telefon klingelt, pfeift oder brummt, irgendjemand redet, flüstert oder schreit. Insgesamt gibt es so viele Geräusche, dass wir sie kaum noch hören." (S. 23)
"Heißt das, wir - du und ich - sind verrückt? Ja, ich glaube, wir sind auf dem Weg, vollkommen verrückt zu werden." (S. 50)
"Die besten Dinge im Leben sind manchmal umsonst. Die Stille, die mir vorschwebt, findest du dort, wo du bist und wenn du es willst, in deinem Kopf." (S. 73)
"Du fährst zur See, und wenn du zurückkehrst, findest du möglicherweise das, wonach du gesucht hast, in dir selbst." (S. 81)
"Er wollte vermeiden, dass die Gruppe sich den ganzen Tag lang gegenseitig erzählt, wie fantastisch es ist, statt sich auf das Fantastische zu konzentrieren." (S. 96)
"Die Stille ist ebenso inhaltsreich wie die Wörter." (S. 116)
"Unterwegs zu sein, ist nahezu immer zufriedenstellender, als am Ziel anzukommen." (S. 123)

Fazit. Ein Buch, dass ich jedem empfehlen kann, der sich gern Gedanken über die Welt um ihn herum macht; ein Buch, das mich zum Nachdenken angeregt hat und sicherlich Einfluss auf meinen Blick auf die Welt um mich herum genommen hat; ein Buch, in das ich sicherlich wieder schauen werde.