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Veröffentlicht am 20.02.2022

Wenn eine Entscheidung zugleich richtig und falsch ist

Der Papierpalast
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Miranda Cowley Hellers Roman „Der Papierpalast“ ist nach dem Sommerquartier einer Familie in Back Woods am Cape Cod benannt, die sich dort jahrzehntelang jeden Sommer mit Freunden trifft. Das Ferienhaus ...

Miranda Cowley Hellers Roman „Der Papierpalast“ ist nach dem Sommerquartier einer Familie in Back Woods am Cape Cod benannt, die sich dort jahrzehntelang jeden Sommer mit Freunden trifft. Das Ferienhaus und die Schlafhütten sind aus gepresster Pappe gebaut und von Jahr zu Jahr in schlechteren Zustand. Im Mittelpunkt steht Eleanor genannt Elle Bishop, die mit diesem Ort Geheimnisse und schmerzliche Erfahrungen, aber auch den Beginn einer lebenslangen Liebe verbindet. Hier haben sich Elle und Jonas schon als Kinder kennengelernt. Der Roman erzählt 24 Stunden aus dem Leben der nunmehr etwa 50jährigen Elle mit Zeitangaben bis zum Augenblick der Entscheidung am Schluss. In den Teilen dazwischen wird ihr Leben und das ihrer Familie und der jeweiligen Partner von Großeltern beiderseits und Eltern erzählt. Daraus ergibt sich eine ungeheure Personenvielfalt, bei der man leicht den Überblick verliert. Bei dem Treffen in der Erzählgegenwart sehen sich auch nach langer Zeit Elle und Jonas wieder und haben zum ersten Mal Sex, obwohl ihre Ehepartner und andere Gäste ganz in der Nähe sind. Dieses Ereignis macht eine Entscheidung unumgänglich. Elle und Jonas haben nie aufgehört einander zu lieben, aber zumindest Elle ist mit ihrem Partner Peter und den Kindern glücklich. Sie liebt beide Männer. Menschen können nicht rückwärts fliegen wie Kolibris. Die Vergangenheit ist vorbei und lässt sich nicht mehr ändern. Nur für die Zukunft können wir mit vollem Risiko eine Entscheidung treffen. In der Nacht hat sie noch ihrem geliebten Mann Peter versichert, dass sie ihm gehört. Ist das so?
Miranda Cowley Hellers Roman wird zu Recht hoch gelobt. Es ist eine Familiengeschichte über mehrere Generationen, wo dunkle Geheimnisse lange verschwiegen und dann enthüllt werden. Die Autorin punktet mit sorgfältiger Charakterisierung vor allem der weiblichen Figuren, aber auch mit eindrucksvollen Naturbeschreibungen, die den Leser verstehen lassen, warum Cape Cod so berühmt ist. Ein sehr empfehlenswertes Buch.

Veröffentlicht am 17.01.2022

Vaterliebe

Erschütterung
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Im Mittelpunkt dieses Romans steht der Paläontologe Zach Wells mit seiner Familie. Er lebt in Altadena/Kalifornien und ist Professor an der Universität. Zach ist ein ungewöhnlicher Protagonist: sein Beruf ...


Im Mittelpunkt dieses Romans steht der Paläontologe Zach Wells mit seiner Familie. Er lebt in Altadena/Kalifornien und ist Professor an der Universität. Zach ist ein ungewöhnlicher Protagonist: sein Beruf langweilt ihn, sein Forschungsgebiet interessiert ihn nicht mehr – genauso wenig wie seine Studenten und Kollegen. Sich selbst findet er ebenfalls todlangweilig. Politik interessiert ihn ebenfalls nicht, auch nicht die aktuelle Rassismusdebatte, obwohl er selbst Farbiger ist. Seine Frau Meg arbeitet ebenfalls an der Universität und schreibt Gedichte. Sie haben die zwölfjährige Tochter Sarah, die Zach über alles liebt. Ihr Vater zu sein, sie am Leben zu erhalten betrachtet er als seine wichtigste Aufgabe. Die Ehe hat sich zu einer meist friedlichen Koexistenz entwickelt, ohne nennenswerte Liebe. Dann leidet Sarah plötzlich an der seltenen unheilbaren Krankheit Batten-Syndrom, und nichts ist mehr, wie es war. Ich-Erzähler Zach und seine Frau leiden unendlich, während sie dem raschen Verfall ihrer Tochter und schließlich ihrem Sterben zusehen, ohne ihr helfen zu können. Eines Tages findet Zach in mehreren im Internet gekauften Secondhand-Kleidungsstücken Zettel mit handgeschriebenen Hilferufen in spanischer Sprache. Irgendwann beschließt er, der bisher so wenig Empathie für seine Mitmenschen gezeigt hat, der Sache nachzugehen. In New Mexico stößt er auf weiße Nazis, die mexikanische Frauen aus dem Grenzgebiet entführen, gefangen halten und versklaven. Unter Gefahr für Leib und Leben organisiert er mit einigen Helfern eine Rettungsaktion. Er weiß, er kann sich nicht selbst erlösen, aber er muss etwas tun, um anderen zu helfen.
Dieses ungewöhnliche Buch mit eingestreuten wissenschaftlichen Passagen über seine Funde in Höhlen und Schachzüge aus den Spielen mit Tochter Sarah hat mir gut gefallen. Es ist ein Roman über Liebe, Verlust und Trauer, der dennoch viel (Selbst-)Ironie und Wortwitz enthält und sich gut lesen lässt. Dieser Autor hat viele Bücher geschrieben, aber nur drei wurden bisher ins Deutsche übersetzt. Ich werde ihn auf jeden Fall im Auge behalten. Eine klare Empfehlung für diesen Roman.

Veröffentlicht am 21.11.2021

Wer suchet, der findet

Der Sucher
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In Tana Frenchs neuem Roman “ Der Sucher“ tritt kein bekanntes Ermittlerteam auf. Es ist ein Standalone um den Cop Cal Hooper, der nach 25 Jahren Polizeidienst in Chicago einen kompletten Neuanfang wagen ...

In Tana Frenchs neuem Roman “ Der Sucher“ tritt kein bekanntes Ermittlerteam auf. Es ist ein Standalone um den Cop Cal Hooper, der nach 25 Jahren Polizeidienst in Chicago einen kompletten Neuanfang wagen will. Er hat eine hässliche Scheidung hinter sich, hat keinen guten Kontakt mehr zu seiner erwachsenen Tochter Alyssa und war unzufrieden mit seiner beruflichen Tätigkeit, in der die Grenzen zwischen Gut und Böse immer mehr verwischt wurden, nicht zuletzt auch durch systemischen Rassismus. Cal kauft ein heruntergekommenes, seit 15 Jahren leerstehendes Haus im Westen Irlands. Er wird teils freundlich, teils mit Misstrauen empfangen, lebt sich aber dennoch schnell ein. Bald fühlt er sich beobachtet und hört Geräusche auf seinem Land. Trey Reddy, 13 bedrängt Cal schließlich so lange, bis er bereit ist, nach dem sechs Monate zuvor spurlos verschwundenen Bruder Brendan, 19 zu suchen. Die Geschwister standen einander sehr nahe, sodass Trey nicht glaubt, dass Brendan einfach weggegangen ist, ohne ein Wort zu sagen. In dieser Zeit werden im Dorf immer wieder Schafe auf sehr grausame Weise getötet. War das ein Mensch oder ein Tier?
Cal befragt eine Reihe von Leuten aus dem Ort, was nicht gern gesehen wird. Er erhält mehr oder weniger deutliche Warnungen, die Sache auf sich beruhen zu lassen und gerät schließlich in große Gefahr genauso wie Trey und ihre Familie. Am Ende erfährt der Ex-Cop die Wahrheit, aber erst, nachdem er versprochen hat, dass sie nichts unternehmen werden.
Frenchs Roman zeigt, dass auch ein entlegenes, friedlich wirkendes Dorf Geheimnisse verbirgt, dass dort Verbrechen geschehen, die nicht ans Licht kommen dürfen, weil etliche Dorfbewohner darin verwickelt sind. Für Cal und den Leser ist es unbefriedigend, dass es am Ende weder Sühne noch Gerechtigkeit gibt. Frenchs Roman ist kein typischer Krimi mit reißerischer Spannung und vielen unerwarteten Handlungsumschwüngen. Es ist eine ruhig erzählte Geschichte, in der die Natur mit Flora und Fauna, mit Wetterumschwüngen und den Farben der Jahreszeiten eine ebenso große Rolle spielt wie die sorgfältige Zeichnung der Charaktere. Auch sprachlich überzeugt das Buch gerade durch die poetischen Beschreibungen der irischen Landschaft. Ich habe mich nicht gelangweilt und empfehle es allen, die nicht nur handlungspralle Reißer lesen.

Veröffentlicht am 07.09.2021

Nichts wirklich Schönes kann je nutzlos sein

Der perfekte Kreis
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Benjamin Myers neuer Roman beschreibt einen Sommer im Leben der Freunde Ivan Robin Calvert und Redbone. Die beiden Freunde wollen im Sommer 1989 ein ganz besonderes Projekt verwirklichen. In zehn Nächten ...


Benjamin Myers neuer Roman beschreibt einen Sommer im Leben der Freunde Ivan Robin Calvert und Redbone. Die beiden Freunde wollen im Sommer 1989 ein ganz besonderes Projekt verwirklichen. In zehn Nächten schaffen sie ebenso viele Kornkreise im Südwesten Englands, von denen jeder schöner und komplizierter ist als sein Vorgänger. Redbone entwirft die Skizzen, und Calvert erkundet die Umgebung ihres Heimatorts, um das perfekte Gelände für den geplanten Kreis zu finden. Sie haben ihren eigenen Verhaltenskodex. Niemand darf erfahren, wer sie sind und was sie tun, denn ihre nächtlichen Aktivitäten sind natürlich nicht legal: sie betreten fremdes Eigentum. Ihr Motto: „Nähre den Mythos und strebe nach Schönheit, ja, aber offenbare nie die Wahrheit.“ (S. 23) Die Freunde stehen einander sehr nahe, behalten aber den größten Teil ihrer persönlichen Geschichte für sich. Wir wissen, dass Calvert ein durch den Falkland-Krieg schwer traumatisierter Soldat ist und dass auch Redbone mit seinen inneren Dämonen kämpft. Beiden hilft ihr Projekt, die Traumata zu verarbeiten oder zumindest zeitweilig zu vergessen. Es gelingt ihnen, neun Kreise weitgehend ohne Störung zu schaffen – einmal müssen sie die Arbeit vorzeitig abbrechen. Als sie ihr Meisterwerk, die Honigwabe-Doppelhelix, fast fertiggestellt haben, passiert etwas Unvorhergesehenes.
"Der perfekte Kreis" ist eine handlungsarme Geschichte mit zwei sympathischen Protagonisten, aber auf äußere Handlung kommt es nicht an. Der Autor punktet in anderen Bereichen. Interessant ist die Reaktion der Öffentlichkeit auf die Kunstwerke. Es erscheinen Zeitungsartikel, in denen Verschwörungstheoretiker und andere Spinner zu Wort kommen. Für die meisten stecken Aliens hinter den Kunstwerken. Die Kreise ziehen eine Vielzahl von Besuchern an, die die Felder zertrampeln und die Ernte vernichten. Redbone und Calvert gehen sehr behutsam mit der Natur um. Sie knicken nicht einen Halm und verletzen kein Tier. Im gesamten Roman wird deutlich, wie sehr der Autor die Schönheit der englischen Landschaft liebt und wie wichtig ihm insgesamt der Schutz des Planeten ist. 1989 war der Klimawandel mit der globalen Erwärmung noch nicht eingetreten, aber er kündigte sich an.
Mir gefällt der Roman sprachlich genauso gut wie zuvor “Offene See“. Diese Poesie macht dem Autor so schnell keiner nach. Ein wunderschönes Buch.

Veröffentlicht am 07.09.2021

Ein Dabeiseiender schaut den anderen beim Leben zu

Das Archiv der Gefühle
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Im Mittelpunkt von Peter Stamms neuem Roman “Das Archiv der Gefühle“ steht ein namenloser ehemaliger Archivar. Im Zuge der Digitalisierung verlor er seinen Job im Pressehaus und ist auch fünf Jahre später ...


Im Mittelpunkt von Peter Stamms neuem Roman “Das Archiv der Gefühle“ steht ein namenloser ehemaliger Archivar. Im Zuge der Digitalisierung verlor er seinen Job im Pressehaus und ist auch fünf Jahre später noch arbeitslos. Das Archiv befindet sich jetzt im Keller seines Hauses, und er arbeitet täglich mehrere Stunden daran, es fortzuführen, beschriftet auch immer noch neue leere Ordner, um Ordnung in das Chaos der Welt zu bringen. Er ist ein ganz besonderer Mensch: Er ist zwar völlig allein, fühlt sich aber nicht einsam. Das liegt daran, dass er seit Jahrzehnten in einer Parallelwelt lebt. Als 15jähriger hat er sich in die Mitschülerin Franziska verliebt. Eines Tages gesteht er ihr, dass er sie liebt und bittet um einen Kuss. Sie gewährt ihm den Kuss, sagt ihm aber zugleich, dass sie ihn nicht liebt. Inzwischen sind beide 55. Er hat sie seit fast 30 Jahren nicht gesehen und liebt sie unverändert. In seiner Fantasie sind sie zusammen, lieben sich und ziehen gemeinsame Kinder auf. Die Fantasien wirken im Text wie Halluzinationen und überlagern die Realität. Der Protagonist hat nie aufgehört, ihre Karriere als Sängerin Fabienne und die Artikel über ihre diversen Beziehungen zu Männern in der Boulevardpresse zu verfolgen und ihre Akte stets auf dem neuesten Stand zu halten. Irgendwann nimmt er dann doch Kontakt zu ihr auf. Ihm ist im Laufe der Jahrzehnte bewusst geworden, dass das wahre Leben mehr bietet als all seine Fantasien und er endlich seine passive Zuschauerrolle aufgeben muss, um sein Leben nicht völlig zu verpassen. Ein wichtiger Schritt für einen Neuanfang ist dabei die Zerstörung seines Archivs, damit er nicht für immer ein Dabeiseiender, ein Zuschauer am Rande bleibt, der niemals die Initiative ergreift. Nur seine eigene Akte behält er, denn hier fehlt noch das letzte Kapitel: eine neue Ausrichtung seines Lebens. Wird sie gelingen?
Der ruhig erzählte, sprachlich hervorragende Roman hat mir gut gefallen, so wie viele seiner Vorgänger auch. Eine klare Empfehlung für jeden, der nicht nur handlungsbetonte Romane liest.