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Veröffentlicht am 15.09.2016

Freunde fürs Leben

Und damit fing es an
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In Rose Tremains neuem Roman steht die Freundschaft zwischen zwei Jungen im Mittelpunkt. Gustav wächst bei seiner verwitweten Mutter Emilie im fiktiven Matzlingen im Schweizer Mittelland auf und ist ...

In Rose Tremains neuem Roman steht die Freundschaft zwischen zwei Jungen im Mittelpunkt. Gustav wächst bei seiner verwitweten Mutter Emilie im fiktiven Matzlingen im Schweizer Mittelland auf und ist im Jahr 1947 fünf Jahre alt. Eines Tages kommt ein neuer Junge in seine Vorschulklasse. Der kleine Anton ist untröstlich. Gustav kümmert sich vom ersten Augenblick an um ihn und wacht ein Leben lang über ihn. Beide verbindet trotz der unterschiedlichen Lebensumstände eine tiefe Freundschaft. Während Gustav in bitterer Armut aufwächst, ist Anton das einzige Kind einer kultivierten jüdischen Bankiersfamilie. Anton ist ein musikalisches Wunderkind. Alle sagen ihm eine große Karriere als Konzertpianist voraus, aber so wird es nicht kommen, weil Anton versagt, wenn er vor Publikum auf einer großen Bühne spielen muss.
Rose Tremain erzählt die Geschichte der beiden Jungen und ihrer Familien in drei Abschnitten. Sie beginnt 1947 mit der Nachkriegszeit, geht dann ins Jahr 1937 zurück, als Emilie sich beim Schwingfest in den gutaussehenden Erich Perle verliebt und ihn heiratet und berichtet im dritten Abschnitt ab 1992 über Gustav und Anton in ihren mittleren Lebensjahren. Gustav hat jahrelang erfolgreich ein Hotel geführt, aber privates Glück bleibt ihm versagt. Ein Leben lang hat er vergeblich um die Liebe seiner Mutter gekämpft und versucht, nach den Grundsätzen der verbitterten Frau zu leben. Sie hat seinen früh verstorbenen Vater als Held bezeichnet, ihm aber dennoch nie verziehen, dass er die Existenz der Familie dadurch zerstört hat, dass er Juden rettete, was ihn den Job bei der Polizei kostete. Erst spät im Leben erfährt Gustav die Geheimnisse seiner Eltern und kommt nach längerer Trennung wieder mit Anton zusammen, der nach einem Zusammenbruch die Erkenntnis formuliert:. “Wir müssen die Menschen werden, die wir schon immer hätten sein sollen.“ (‚S. 327)
Die Autorin beschreibt in ihrem sehr schönen Roman, der so ganz anders ist als alle anderen, die ich von ihr kenne, jedoch nicht nur private Schicksale, sondern bezieht den historischen Kontext sehr gelungen mit ein, vor allem die Position der Schweiz im Zweiten Weltkrieg, die Angst vor “Überjudung“ und vor einer deutschen Invasion. Sie zeigt, dass die vielgerühmte Neutralität auch als Feigheit gedeutet werden kann und ethisch nicht vertretbar ist, wenn dadurch Tausende jüdischer Flüchtlinge in den sicheren Tod geschickt werden. Erich Perle hat sich moralisch vorbildlich verhalten, auch wenn er dafür einen hohen Preis zahlen musste. Ein zweites wichtiges Thema ist der Umgang der Schweizer Banken mit jüdischem Vermögen, was – wie wir heute wissen - zu einem bleibenden Imageschaden geführt hat.
Mir hat der Roman außerordentlich gut gefallen, und ich empfehle ihn ohne Einschränkung. Allerdings ist der deutsche Titel wie so oft ein völliger Fehlgriff. Der Originaltitel “The Gustav Sonata“ verweist nicht nur auf die Musik als durchgängiges wichtiges Thema, sondern stellt auch einen Bezug zur Struktur her, der im nichtssagenden deutschen Titel "Und damit fing es an" völlig verloren geht. Der Roman ist komponiert wie ein Musikstück mit drei Sätzen, wobei im mittleren Teil die “Tonart“ gewechselt wird, denn hier erzählt die Autorin die Geschichte der frühen Jahre konsequent im Präsens.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Anderssein

Was ich euch nicht erzählte
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In Celeste Ngs Debütroman “Was ich euch nicht erzählte“ geht es um eine Familie in einer Kleinstadt in Ohio im Jahr 1977. James, der Vater ist Amerikaner mit chinesischen Wurzeln und unterrichtet am örtlichen ...

In Celeste Ngs Debütroman “Was ich euch nicht erzählte“ geht es um eine Familie in einer Kleinstadt in Ohio im Jahr 1977. James, der Vater ist Amerikaner mit chinesischen Wurzeln und unterrichtet am örtlichen College amerikanische Geschichte. Seine Frau Marilyn ist eine weiße Amerikanerin, die ihr Medizinstudium wegen ihrer Schwangerschaft abbrechen musste und genau das wurde, was sie immer abgelehnt hatte: Hausfrau und Mutter. Außer ihrem konkurrenzlosen Liebling Lydia haben sie noch den älteren Sohn Nathan und die 11jährige Hannah. Eines Morgens erscheint Lydia nicht zum Frühstück. Zwei Tage später findet die Polizei ihre Leiche in einem See. Ein Unfall, Selbstmord oder Mord?

Vom ersten Satz an weiß der Leser, dass Lydia tot ist. Es geht der Autorin also nicht um eine übliche Krimi- oder Thrillerhandlung, auch wenn der Roman in den USA als “crime thriller“ bezeichnet wird. Es geht um das Wie und Warum. Sehr schnell wird deutlich, dass in dieser Familie so einiges nicht stimmt. Jeder hat hier ein Geheimnis, das er mit niemand teilt. Nathan weiß einiges mehr über das Leben seiner Schwester als seine Eltern. Die letzten drei Monate vor ihrem Tod hat sie sich mit Jack, einem dubiosen jungen Mann aus der Nachbarschaft getroffen, den Nathan für den Schuldigen hält. Die kleine Hannah verfügt in ihrer Rolle als Beobachterin, die alle übersehen, über fast telepathische Fähigkeiten. Sie weiß genau, was in Lydia vorgeht und hat ihre Schwester in der bewussten Nacht weggehen sehen. Weder Nathan noch Hannah teilen ihr Wissen mit den Eltern oder der Polizei.

Erzählt wird die Geschichte mit ständig wechselnden Perspektiven und auf verschiedenen Zeitebenen, die auch die Vergangenheit der Eltern einschließen. Der Leser kennt die Gedanken und Gefühle der Protagonisten und verfügt über einen Informationsvorsprang gegenüber den Beteiligten. Nur der Leser erfährt am Ende, warum Lydia wirklich starb. Die Eltern und Geschwister gewinnen nur bis zum einem gewissen Grad neue Erkenntnisse. Der Vater versteht, dass sich seine Hoffnung, seine Kinder würden als Repräsentanten der dritten Einwanderergeneration akzeptierte und voll integrierte Mitglieder der Gesellschaft sein, nicht erfüllt hat. Er hat sich ein Leben lang mit denselben Klischees und Beleidigungen konfrontiert gesehen: Schlitzauge, begleitet von den entsprechenden Gesten, Frühlingsrollen, Kegelhüte… (z.B. S. 190) Am längsten erliegt die Mutter der Illusion, eine rundum glückliche, brillante Tochter zu haben, der eine große Zukunft als Ärztin oder Naturwissenschaftlerin bevorsteht.

Neben der Thematik der gestörten Kommunikation, die auf viele Familien zutrifft, sind dies die spannend und berührend umgesetzten Themen des Romans: zum einen der allgegenwärtige Rassismus im Amerika der damaligen Zeit und die Ausgrenzung von gemischtrassigen Familien, von allen, die anders sind und anders aussehen und die Verheerungen, die Eltern mit einem falschen Verständnis von Erziehung bei ihren Kindern anrichten. Lydia leidet sehr unter dem von den Eltern ausgeübten Druck. Sogar jedes einzelne Geschenk ist eine unausgesprochene Erwartung, fordert ein bestimmtes Verhalten ein. Lydia weiß, "dass Aufmerksamkeit mit Erwartungen einherging, die - wie Schneeflocken - in der Luft trieben, sich niederließen und einen dann mit ihrem Gewicht erdrückten." (S. 256). Ihr Tod zerstört die nach außen intakte Familie vollends. Kann es für die Überlebenden einen Neuanfang geben?

Mir hat dieses berührende Psychogramm einer nicht funktionierenden Familie sehr gut gefallen.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Reise in die Vergangenheit

Die Sommer mit Lulu
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Im Mittelpunkt von Peter Nicholls Roman “Die Sommer mit Lulu“ stehen zwei Personen: Lulu Davenport und Gerald Rutledge. Ihre kurze Ehe endete noch während der Hochzeitsreise vor knapp 60 Jahren im Jahr ...

Im Mittelpunkt von Peter Nicholls Roman “Die Sommer mit Lulu“ stehen zwei Personen: Lulu Davenport und Gerald Rutledge. Ihre kurze Ehe endete noch während der Hochzeitsreise vor knapp 60 Jahren im Jahr 1948. Beide leben noch immer in einem kleinen Ort auf Mallorca, sind einander aber jahrzehntelang erfolgreich aus dem Weg gegangen. Eines Tages begegnen sie sich im Ort. Während Lulu ihren Ehemann hasserfüllt mit einem unflätigen Wortschwall überschüttet, sucht Gerald das Gespräch. Seit fast 60 Jahren versucht er, seiner Ex-Frau zu erklären, was damals wirklich geschah. Er folgt ihr. Es kommt zu einem heftigen Wortwechsel, und beide stürzen von den Klippen von Cala Marsopa ins Meer.
Mit dem Tod der Protagonisten nimmt der Autor das Ende vorweg. Was bleibt, ist zu berichten, was schon passiert ist, nicht, was passieren wird. Der Autor wählt dafür eine ungewöhnliche Erzählstruktur. Er erzählt die Geschichte rückwärts, beginnend im Jahr 2005 mit dem Tod der Ex-Partner, über die Etappen 1995, 1983, 1970,1966, 1956, August 1948, als ein bis zum Schluss nicht enthülltes Ereignis das Paar für immer trennte. Als Leser verfolgen wir die Geschichte, sind gespannt auf die Auflösung, die dann allerdings weniger spektakulär ist als vermutet, zumal man zum Ende hin durch Andeutungen schon eine Ahnung hat, worum es geht.
Außer der Geschichte von Lulu und Gerald erfahren wir auch von der über Jahrzehnte unerfüllten Liebe ihrer Kinder aus der jeweils zweiten Ehe: Lulus Sohn Luc und Geralds Tochter Aegina. Es gibt eine Vielzahl weiterer Figuren, über deren Schicksal und Lebensumstände wir informiert werden. Die meisten von ihnen verbringen viele Jahre lang jeden Sommer in dem von Lulu geführten kleinen Hotel Los Roques. Der deutsche Titel scheint sich darauf zu beziehen und nicht auf die nur wenige Tage dauernde Ehe von Lulu und Gerald im August 1948.
Der Autor behandelt eine Vielzahl von Themen neben den beiden Liebesgeschichten der vier Hauptpersonen. Das sind einmal die Beschreibungen einer wunderschönen Insel im Mittelmeer vor dem Massentourismus und dem Bauboom, die den Leser ahnen lassen, wie schön Mallorca einmal war. Zum anderen gibt es Nebenthemen wie einen betrügerischen Grundstücksdeal, dem Gerald zum Opfer fällt, Drogenschmuggel aus Marokko und immer wieder Homers Odyssee und das Segeln auf Odysseus´ Spuren. Hier fließt viel Autobiographisches ein, denn auch Peter Nichols ist ein begeisterter Segler und hat wohl teilweise ähnliches erlebt.
Von den Charakteren überzeugt mich Gerald am meisten. Lulu war die Liebe seines Lebens. Er kann die Vergangenheit nicht loslassen und verzweifelt darüber, dass sie ihn nie erklären lässt, dass er das Richtige gewollt und letztlich auch getan hat. Lulu ist ein ziemlich unsympathischer Charakter. Sie ist egozentrisch und kalt und benutzt vor allem ihre Schönheit bis ins hohe Alter für ihre Zwecke. Die Männer liegen ihr ein Leben lang zu Füßen. Nicht nur ihr Verhalten gegenüber Gerald schockiert den Leser. Auch die Art und Weise, wie sie ihren zweiten Mann Bernard nach kurzer Ehe abserviert und ihm die Möglichkeit nimmt, seinen Sohn aufwachsen zu sehen, spricht nicht für sie.
Der umfangreiche Roman erfordert ein gewisses Durchhaltevermögen. Am Schluss gibt es einen positiven Ausblick, denn der Autor mogelt ein bisschen mit der Zeitstruktur. Er geht noch einmal zum Jahr 2005 zurück und berichtet nicht nur über Lulus und Geralds Beerdigung, sondern auch über eine mögliche Zukunft für ihre Kinder. Mir hat der Roman mit kleinen Abstrichen gefallen.