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Veröffentlicht am 14.04.2020

nicht verschieben - machen

Wir holen alles nach
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„Wir holen alles nach“, „Das können wir auch noch später machen“, das sind Sätze, die jeder von uns gern benutzt, um Dinge, Anschaffungen und Unternehmungen, auf unbestimmte Zeit zu verschieben. Doch die ...

„Wir holen alles nach“, „Das können wir auch noch später machen“, das sind Sätze, die jeder von uns gern benutzt, um Dinge, Anschaffungen und Unternehmungen, auf unbestimmte Zeit zu verschieben. Doch die Zeit vergeht, sie rinnt dahin bis im letzten Lebensdrittel deutlich wird, dass noch mehr offene Dinge für später vorhanden sind als die übrig gebliebene Lebenszeit und die Möglichkeiten darin zulassen.

Dieses Grundthema beschreibt uns Martina Borger anhand von zwei Frauen, der alleinerziehenden Mutter Sina und der von Altersarmut bedrohten Witwe Ellen. Sina ist ständig hin- und hergerissen zwischen Karriere und ihrem 9-jährigen, sehr schüchternen Sohn Elvis, hat noch kein gesundes Maß, um beides im Einklang zu haben, gefunden. Dies wird durch ihr stetes gestresst Sein zum ganz deutlich Ausdruck gebracht. Ellen nimmt ihr armes Witwendasein an, hält sich mit diversen Nebenjobs über Wasser. Sie macht dabei einen recht zufriedenen Eindruck. Als Elvis’ Empfehlung zum Übergang zum Gymnasium gefährdet ist, treffen beide Frauen aufeinander. Ellen übernimmt Elvis‘ Nachhilfe.

Elvis und Ellen lernen sich kennen. Nach relativ kurzer Zeit blickt Ellen hinter die Kulissen des sehr folgsamen und ruhigen Jungen. Plötzlich stehen böse Themen und Verdächtigungen im Raum. Diese stellen die beiden Frauen ganz gewaltig auf die Probe. Jede hat mit ihrem Gewissen zu kämpfen. Auch ihre gerade entstehende Freundschaft ist vom Aus bedroht.

Jetzt nimmt die Geschichte richtig Fahrt auf. Martina Borger legt verschiedene Fährten aus, die der Leser aufnehmen kann. Es baut sich eine Ahnung zu Geschehnissen auf, die man eigentlich gar nicht bewahrheitet haben möchte. Die Emotionen schlagen ihre Wellen, man ist mittendrin und kann das Buch nicht mehr weglegen.

Genauso muss ein schöner Roman sein, aktuelle Themen, die die Menschen ansprechen und berühren, die mit geschmeidig lesbarer Sprache aufbereitet sind. So stört es auch nur ganz wenig, dass Ellen ihr ökologisches Bewusstsein etwas oberlehrerhaft erklärt. Insgesamt bleibt mir nichts anderes übrig, als den Roman wärmstens zu empfehlen.

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Veröffentlicht am 06.04.2020

Überraschend, fesselnd, zeitweise erdrückend

Die Tanzenden
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Schon das hübsche Cover zu Victoria Mas‘ „Die Tanzenden“ deutet auf das Ereignis hin, dem die gesamte Pariser Hautevolee entgegenfiebert, den Ball zu Mittfasten. Es ist mit einer Leichtigkeit gezeichnet, ...

Schon das hübsche Cover zu Victoria Mas‘ „Die Tanzenden“ deutet auf das Ereignis hin, dem die gesamte Pariser Hautevolee entgegenfiebert, den Ball zu Mittfasten. Es ist mit einer Leichtigkeit gezeichnet, die sich genauso auch im Roman wiederfindet. Doch die fühlbaren Federn des schwingenden Kleides verkörpern für mich nicht nur Amüsement, sondern auch einen gewissen Schwebezustand und ein Stück weit Vogelfreiheit.

Louise und Eugénie sind Patientinnen im Hôpital de la Salpêtrière in Paris, das im ausklingenden 19. Jahrhundert als Zentrum für gynäkologisch definierte Hysterie bekannt war. Jean-Martin Charcot und Joseph Babinski haben seinerzeit dort praktiziert. Neben den Vorbereitungen für den anstehenden Ball, erzählt der Roman vor Allem von den Lebensumständen der Frauen, die in der Salpêtrière untergebracht sind, um dort behandelt zu werden. Die Behandlungsmethoden sind abstoßend, die Wehrlosigkeit der als geisteskrank abgestempelten Frauen ist wahnsinnig erdrückend. Die Nerven zart besaiteter Leser werden ganz schön strapaziert. Besonders erschüttert hat mich der Vorgang einer Einweisung in die Salpêtrière. Die Einfachheit, mit der man sich über diesem Weg seiner unliebsamen oder unbequemen Frauen entledigen konnte, hat mich maximal schockiert. In diesem Sinne waren doch die Frauen insgesamt einfach nur vogelfreie Wesen.

Trotzdem sollte man sich die Lektüre gönnen. Victoria Mas transportiert das Grauen aus dem Behandlungszimmer derart galant mitten in den lesenden Kopf, dass man den Roman eigentlich nicht mehr aus der Hand legen möchte. Nicht nur die bildliche Vorstellung der Szenerie hat eine starke Präsenz, sondern auch die Empfindungen und Ängste der zum Behandlungsobjekt degradierten Frauen. Sprachlich ist das Geschehen leicht und sanft wie eine Feder aufgesetzt, was durch den extremen Kontrast zur Handlung eine angenehme Wirkung auf mich hatte.

Zudem gibt es wunderbare Charaktere. In diesem Roman sind es allesamt Frauen. Am besten haben mir die Protagonistinnen Genevière und Eugénie gefallen, aber auch die Nebenfigur Thérèse als Ruhepol unter den Patientinnen hatte meine Sympathie. Bei Genevière hat mir ihre Entwicklung gefallen. Nach jahrelanger Routine und Erfahrung dehnt sie die gelebten Regeln, erfährt durch die Änderung des Blickwinkels Erkenntnisgewinne, die sie niemals für möglich gehalten hätte. So entwächst sie der strengen im Hintergrund agierenden grauen Maus und wird zur Organisatorin eines richtig großen Coups. Eugénie ist intelligent und weltoffen, blickt über ihren Tellerrand hinaus. Leider ist sie zu impulsiv, um ihr Wissen clever einzusetzen. Beiden gemein ist der Mut, den es braucht, der Männerwelt aller Unterdrückung zum Trotz gegenüber zu treten.

Victoria Mas hat der Lesegemeinde mit ihrem Debütroman „Die Tanzenden“ ein über alle Maßen tolles Buch geschenkt. Sie behandelt ein schweres Thema mit einer Leichtigkeit, die ihresgleichen sucht. Sehr gern lege ich euch die Lektüre ans Herz.

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Veröffentlicht am 30.03.2020

Gefühle im Kontext ihrer Zeit

Die Geschichte der Gefühle
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Wenn die Gefühle eines Menschen oder einer Gruppierung sichtbar werden, durch sprachliche oder körperliche Reaktionen, erscheint es leicht, diese zu deuten und zu verstehen. Die spontane Bewertung von ...

Wenn die Gefühle eines Menschen oder einer Gruppierung sichtbar werden, durch sprachliche oder körperliche Reaktionen, erscheint es leicht, diese zu deuten und zu verstehen. Die spontane Bewertung von Gefühlsregungen anderer erfolgt jedoch oft auf Basis des eigenen Erfahrungsschatzes, führt somit den Betrachter unter Umständen in die Irre. Maßgeblich für die Auseinandersetzung mit den Gefühlen in der Historie ist für Rob Boddice (S. 75) daher, „[…], das affektive Erleben in der Quelle zu rekonstruieren, ohne eine heutige Perspektive einzunehmen.“

Nachdem er zunächst sehr genau seine Methodik und Vorgehensweise in diesem Buch, wie auch seine Zielsetzung erklärt, reist der Leser mit Rob Boddice episodenartig durch die Jahrhunderte und begegnet den Gefühlen darin, beginnend mit der menis des Archills bis hin zu den Emojis unserer Zeit. Besonders gefallen haben mir dabei die Episoden über die angeführten Frauen wie z. B. Hildegard von Bingen und Mary Wollstonecraft, zudem die Theorien von René Descartes zur Bewegung der Seele und die Betrachtungen zu William Hogarths „Die vier Stufen der Grausamkeit“. Einerseits hat mich die fortschrittliche Denke einiger Protagonisten fasziniert, andererseits aber auch so manche zu jener Zeit natürliche Einstellung erstaunt bzw. ins Grübeln gebracht.

Im Ergebnis hat die Geschichte der Gefühle mein gedankliches Zentrum für Toleranz angetriggert, nicht nur im historischen, sondern auch im interkulturellen Kontext. Mein Bewusstsein für den Background der gefühlsäußernden Personen wurde deutlich nachgeschärft.

Durch die wissenschaftliche Herangehensweise, die den Leser immer wieder an die Zielsetzung und Methodik der Arbeit erinnert, erscheint die in meinen Augen gelungene Auseinandersetzung mit den historischen Gefühlswelten für den fachfremden, aber interessierten Leser zeitweise, genau genommen in den jeweils einleitenden Kapiteln, etwas sperrig. Insgesamt war es für mich dennoch ein erhellendes Lesevergnügen, das ich gern weiterempfehle.

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Veröffentlicht am 30.03.2020

Aufregende Zeit entspannt erzählt

Die Schule am Meer
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Der Roman von Sandra Lüpkes erzählt oberflächlich betrachtet den gesamten Lebenszyklus eines Internats auf Juist. Er startet kurz nach der Gründung des Internats als nacheinander die jüdische Lehrerin ...

Der Roman von Sandra Lüpkes erzählt oberflächlich betrachtet den gesamten Lebenszyklus eines Internats auf Juist. Er startet kurz nach der Gründung des Internats als nacheinander die jüdische Lehrerin Anni Reiner und der Pianist und Dirigent Eduard Zuckmayer, späterer Musiklehrer, auf der Insel ankommen. Es folgt eine intensive Auseinandersetzung mit den Lehrmethoden und den Ritualen an der Schule, die ihre praktischen Lerninhalte im Einklang mit der Natur und im gleichberechtigten Miteinander von Schülern und Lehrern vermittelt.

Die Geschichte auf das Schulkonzept zu reduzieren, würde jedoch das, was den Roman ausmacht, unterschlagen. „Die Schule am Meer“ berichtet über Sorgen und Nöte von Männern und Frauen, thematisiert die Ängste der Kinder, befasst sich mit der entbehrungsreichen Zeit nach dem Großen Krieg und erklärt im Erzählen die Beweggründe für manche Missetat. Sandra Lüpkes vermittelt mit ihrem Bericht über Jungenstreiche, Mutproben und Freundschaft einen Gesamteindruck zum Lebensgefühl der Menschen in der Weimarer Republik. Zugleich beleuchtet sie den schleichenden, zunächst noch recht stillen Aufstieg der Nationalsozialisten.

Betrachtet man die Figuren, so haben es mir die beiden schon erwähnten Lehrer und der Schüler Maximilian am meisten angetan. Anni Reiner ist mir besonders nah. Sie hinterfragt immer wieder ihr gemeinsames, aber auch ihr eigenes Handeln. Nur so ist Weiterentwicklung möglich. Anni ist stets engagiert und auch wenn ihr das Leben mächtig übel zuspielt, lässt sich nicht so leicht unterkriegen. Mit Mut und Cleverness behält sie stets das Ziel im Auge. Den von ihr verkörperten Emanzipationsgrad im Zusammenhang mit dem zeitlichen Hintergrund fand ich einfach nur faszinierend.

Eduard Zuckmayer zeichnet sich durch ein überdurchschnittliches Einfühlungsvermögen aus. Ob dies aus seinen Erlebnissen im Ersten Weltkrieg resultiert oder in seiner Verbundenheit zur Musik begründet ist, lässt sich nicht abschließend feststellen. Seine Entwicklung vom Kriegsversehrten hin zum Vorbild für seine Schüler, das auch in der Lehrerschaft Hochachtung genießt, habe ich ebenso gemocht, wie seine stille Liebe.

Maximilian, Moskito genannt, war für mich der Abenteurer schlechthin in diesem Roman. Obwohl er als typischer Underdog an der Schule am Meer beginnt, findet er schnell Anschluss und wächst nach und nach über sich hinaus. Dabei vergisst er nie, wo er herkommt und wem er was zu verdanken hat. Sein Gemeinschaftssinn und sein unnachgiebiger Einsatz für andere verkörpern wohl am besten die pädagogische Ausrichtung der Schule.

Ich habe „Die Schule am Meer“ sehr gern gelesen. Beginnend ab 1925 habe ich dabei ein ganzes Jahrzehnt bereist und einen Querschnitt der Gesellschaft durch die verschiedenen Charaktere kennengelernt. Freud und Leid sind genauso mit von der Partie gewesen wie Abenteuer und Liebe. Dabei ist der Roman zu keinem Zeitpunkt ins Schnulzige abgedriftet. Sehr zuvorkommend habe ich auch den angenehm flott lesbaren Schreibstil empfunden. Die recht langen Kapitel, die ich normalerweise nicht so mag, fielen dadurch nicht weiter ins Gewicht. Witzig fand ich die Wahl der Kapitelüberschriften.

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Veröffentlicht am 17.03.2020

Zeitenwende

Milchmann
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Die Fragestellung, „Wo ist da der Sinn? Was hat das für einen Zweck?“, taucht nicht nur im Roman mehrfach auf, sie begleitet den kopfschüttelnden Leser über weite Strecken, weil man einfach nicht glauben ...

Die Fragestellung, „Wo ist da der Sinn? Was hat das für einen Zweck?“, taucht nicht nur im Roman mehrfach auf, sie begleitet den kopfschüttelnden Leser über weite Strecken, weil man einfach nicht glauben mag, dass es je eine dermaßen krude Gesellschaft gegeben hat. Wir blicken auf die Geschehnisse mit unseren heutigen Erfahrungswerten, können es nur schwerlich glauben. Die Geschichte um den „Milchmann“ ist eingebettet in den Nordirland-Konflikt der Siebziger Jahre.

Um nicht zu spoilern, hebe ich nachfolgend die Besonderheiten des Romans, die mich am meisten begeistert haben, hervor, ohne dabei auf die Handlung an sich einzugehen. Einen gelungenen Überblick dazu liefert bereits der Klappentext.

Ganz ungewöhnlich ist die Namenlosigkeit des Romans. Kaum eine Figur wird beim Namen genannt. Die Unterscheidung der Charaktere gelingt Anna Burns über den Beziehungsstatus, den diese zur Protagonistin bzw. zur Gesellschaft haben. Was mir anfänglich den Kopf zermartert hatte, kam mir nach der Gewöhnungsphase sogar entgegen. Für mich war es erstaunlich, wie gut ich mir die Figuren vorstellen und auseinander halten konnte. Mir kam es vor, als ließen sich durch die Namenlosigkeit viel besser Eigenschaften an die Charaktere anheften.

Über weite Passagen hatte ich das Gefühl, ich würde eine Dystopie lesen, obwohl der Roman einen Ausschnitt der Siebziger Jahre im Nordirland-Konflikt abbildet. Möglicherweise haben mich die überspitzten Ausführungen der Autorin und die Penetranz an Aufzählungen und Wiederholungen in diesen Irrgarten getrieben. Bemerkenswert dabei war allerdings, dass mir genau das Dystopische, dieses theoretisch Mögliche, aber praktisch heutzutage in Mitteleuropa nicht Vorstellbare maximal gut gefallen hat. Es lässt nämlich die Geschichte um den Milchmann übertragbar erscheinen, portierbar in das Hier und Jetzt oder in die nahe Zukunft.

Besonders beeindruckt war ich letztlich von der Gedankenwelt der Protagonistin, die im Roman als Ich-Erzählerin ausgeprägt ist. Durch die Erzählperspektive wurde ich ganz nah an die Hauptfigur herangeführt, so dass ich bereit war, in ihren Gedankenkarussellen mitzufahren. Ihre Überforderung durch die Ereignisse, ihre Enttäuschung gegenüber der Gesellschaft, ihre Angst und ihr drohender Komplettabsturz sind allgegenwärtig und hautnah spürbar. Die rasenden Gedanken kommen so realistisch rüber, dass ich beim Lesen in die Rolle der Erzählerin geschlüpft bin und mich gefühlsmäßig in ihrer Situation wiederfand. Ich war aufgeregt, wütend, zum Teil klopfte mir das Herz bis zum Hals.

Insgesamt ist „Milchmann“ ein fordernder, weil so ungewöhnlicher Roman. Man muss sich drauf einlassen. Belohnt wird der Leser mit einer Spannung, die sich bis zum Wendepunkt in der Geschichte unermesslich steigert. Der Roman ist alles andere, aber kein Mainstream. Ich fand ihn hervorragend.

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