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Veröffentlicht am 19.02.2021

Eine gelungene Fortsetzung des ersten Bandes

Hagebuttenblut
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Eigentlich wollte die Stockholmer Kommissarin Charlie Lager ihrem Heimatort Gullspång für immer den Rücken kehren, nun sucht sie ihn bereits zum zweiten Mal innerhalb weniger Monate auf. Denn da ist nicht ...

Eigentlich wollte die Stockholmer Kommissarin Charlie Lager ihrem Heimatort Gullspång für immer den Rücken kehren, nun sucht sie ihn bereits zum zweiten Mal innerhalb weniger Monate auf. Denn da ist nicht nur ihre Freundin Susanne, die nach der Trennung von ihrem Mann Hilfe braucht, sondern auch der Hinweis auf einen dreißig Jahre zurückliegenden Fall, der Charlie keine Ruhe lässt. Damals verschwand Francesca, die Tochter der steinreichen Familie Mild, spurlos. Charlie meint, Parallelen zu ihrem letzten Fall zu entdecken und begibt sich auf Spurensuche. Und die führt sie nicht nur zu dem einst imposanten und nunmehr verfallenden Herrenhaus der Familie, sondern auch tief in ihre eigene Vergangenheit.

„Hagebuttenblut“ (aus dem Schwedischen von Sabine Thiele) ist nach „Löwenzahnkind“ der zweite Band der Krimireihe um Charlie Lager, und ich schicke gleich vorweg: Es empfiehlt sich, die Bände in der richtigen Reihenfolge zu lesen. Zwar ist „Hagebuttenblut“ durchaus auch für sich selbst stehend les- und vor allem nachvollziehbar, doch gibt es so viele Verweise auf das vorangegangene Geschehen, dass eine nachträgliche Lektüre des ersten Bandes sich fast erübrigt.
Der Roman wird auf zwei Zeitebenen und aus zwei Perspektiven erzählt, die sich nicht nur sehr gut ineinanderfügen, sondern die vor allem die Figuren, allen voran die beiden Protagonistinnen Charlie und Francesca, immer wieder in Relation zum Ort, zur Handlung und nicht zuletzt zueinander setzen. Die Geschehnisse der Vergangenheit und der Gegenwart fließen gekonnt ineinander und verschränken sich, bis sie letztlich ein verblüffendes Ganzes ergeben.

„Hagebuttenblut“ – und natürlich auch sein Vorgängerroman „Löwenzahnkind“ – dürfte vor allem – aber sicherlich nicht nur – Anhänger*innen skandinavischer Krimis erfreuen. Ich empfehle es gerne weiter!

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Veröffentlicht am 15.01.2021

mäßige Spannung, aber originelle Figuren und eine dichte Atmosphäre

Totenwinter
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Wir befinden uns in einer Kleinstadt im tief verschneiten Värmland, in dem Temperaturen um den Gefrierpunkt schon als kleine Wärmeperiode gelten – verständlich, wenn das Thermometer ansonsten in der Regel ...

Wir befinden uns in einer Kleinstadt im tief verschneiten Värmland, in dem Temperaturen um den Gefrierpunkt schon als kleine Wärmeperiode gelten – verständlich, wenn das Thermometer ansonsten in der Regel minus zwanzig Grad anzeigt. In dieser – pardon! – Arschkälte wird die Journalistin Tuva unversehens Augenzeugin, wie der Besitzer der örtlichen Lakritzfabrik vom Dach seiner Produktionsstätte stürzt. Ein Unfall? Selbstmord? Oder steckt etwas anderes dahinter? Tuvas Interesse ist geweckt, umso mehr, als bald darauf eine weitere Leiche auf dem Fabrikgelände gefunden wird.

Zugegeben: Für einen Kriminalroman ist die Spannung aus meiner Sicht etwas dürftig. Warum ich das Buch trotzdem ausgesprochen gern weiterempfehle, liegt nicht nur daran, dass es wirksam meinen Schneehunger stillt, sondern vor allem an den originellen Figuren – allen voran Protagonistin Tuva – und den unglaublich atmosphärischen Beschreibungen. Tuva ist bisexuell, gehörlos, eigensinnig und ungesellig, sie will nicht gefallen, sie tut, was sie für richtig hält – und ich habe mich augenblicklich in sie verliebt. Daneben gibt es einen spukigen Taxifahrer, einen undurchsichtigen Ghostwriter mit sehr speziellen Ernährungsvorlieben, zwei unheimliche Schwestern, die ihren Lebensunterhalt mit dem Schnitzen von Kobolden (in die auch mal Einzelteile von toten Tieren eingearbeitet werden) verdienen, und da ist vor allem die Familie des zu Tode gekommenen Fabrikanten, Witwe, Mutter und Tochter, die einen äußerst eigenwilligen Lebensstil pflegen.

Auch die Atmosphäre, die Will Dean erschafft, hat mich in ihren Bann gezogen: Der verschneite Wald, die in die Jahre gekommene Fabrik, die scheinbar repräsentativen Räume der Fabrikantenfamilie, die bei näherer Betrachtung schon bessere Zeiten gesehen haben; dazu die allgegenwärtige buchstäblich lebensbedrohliche Kälte, die dunklen, ehrfurchtgebietenden (wenn nicht gar angsteinflößenden) Wälder, der kniehohe Schnee – all dies wird dermaßen lebendig und anschaulich beschrieben, dass ich förmlich in der Szenerie versank.

„Totenwinter“ ist übrigens der zweite (und aktuelle) Band einer Reihe. Auf den ersten, „Totenstille“, wird zwischendurch Bezug genommen. Zwar wird die Auflösung nicht verraten, aber einige Details über einzelne Figuren offenbart. Das sind zwar kleine Spoiler, die der Lektüre des ersten Bandes (ich habe ihn auch erst danach gelesen) insgesamt aber keinen Abbruch tun. (Wobei ich den hier vorgestellten zweiten Roman besser finde.)

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Veröffentlicht am 10.12.2020

Herrlich rotzig

Die juten Sitten - Goldene Zwanziger. Dreckige Wahrheiten
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Berlin, 1927. Die achtjährige Hedi wächst bei ihrer Großmutter Minna auf. Das wäre nicht weiter erwähnenswert, wenn – ja, wenn Minna nicht ein etwas heruntergekommenes Bordell nebst angeschmuddelter Schankstube ...

Berlin, 1927. Die achtjährige Hedi wächst bei ihrer Großmutter Minna auf. Das wäre nicht weiter erwähnenswert, wenn – ja, wenn Minna nicht ein etwas heruntergekommenes Bordell nebst angeschmuddelter Schankstube betriebe. Und so weiß die Achtjährige schon in ihrem zarten Alter richtig Bescheid: über das, was in den Stuben von Colette, der schönsten Hure Berlins, die von Paris träumt, und von Natalia, der russischstämmigen Domina so läuft. Über Kupplergesetze und Schnaps. Über das berüchtigte „Frühstückselixier“, das den Kopf so herrlich wattig macht. Über Strichjungen und Gigolos. Es ist wahrlich nicht die passendste Welt für ein Kind – aber es ist Hedis Welt, und die will sie unter keinen Umständen missen.
Los Angeles, 1954. Aus der kleinen Hedi ist eine berühmte Hollywood-Schauspielerin geworden: wunderschön, begehrt, gefeiert – und im Knast. Der unwiderlegbare Vorwurf lautet Mord. Hedi beschließt, dem braven, ein wenig unbedarften Journalisten Noah Goldenblatt ihre Geschichte zu erzählen und warum sie letztlich nicht anders enden konnte.

„Die juten Sitten“ von Anna Basener ist ein im allerbesten Sinne rotziger, wunderbar schamloser Roman über einen Mikrokosmos im Berlin der – vermeintlich – goldenen Zwanzigerjahre. Wo Volker Kutscher gar nicht erst hin- und „Babylon Berlin“ letztlich ein wenig verschämt wegsieht, darauf hält Anna Basener den Fokus mit aller Schärfe: optisch, plastisch, sprachlich. Hier wird nicht lange drum herumgeredet, hier wird das Kind – oder vielmehr der Körperteil und der Akt – unmissverständlich beim Namen genannt. Das ist bisweilen krass, zweifelsohne frivol, doch vor allem erfrischend deutlich und überaus unterhaltsam. Eine große Leseempfehlung für alle, die sich in die Zwanzigerjahre flüchten wollen und keine Berührungsängste haben.

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Veröffentlicht am 27.11.2020

Frostige Spannung

Frostgrab
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Zehn Jahre ist es her, dass die Ich-Erzählerin Milla ihre früheren Freunde zum letzten Mal gesehen hat. Damals waren sie ebenso talentierte wie vielversprechende Snowboarder: jung, ehrgeizig, auf dem Weg ...

Zehn Jahre ist es her, dass die Ich-Erzählerin Milla ihre früheren Freunde zum letzten Mal gesehen hat. Damals waren sie ebenso talentierte wie vielversprechende Snowboarder: jung, ehrgeizig, auf dem Weg zu sportlichem Weltruhm. Doch ihr Überschwang nahm seinerzeit ein jähes Ende, als eine von ihnen spurlos verschwand.
Jetzt sehen sie sich zum ersten Mal seitdem wieder: in einer einsam gelegenen Lodge auf einem Gipfel in den französischen Alpen. Was zunächst wie eine vorsichtige Wiederannäherung, ein zwangloses Wiedersehen scheint, entpuppt sich schnell als tödliches Psychospiel. Ihre Handys verschwinden plötzlich, die Seilbahn steht still, es ist frostig kalt und sie sind auf sich alleingestellt. Bald schon verdächtigt jeder jeden: Wem kann Milla trauen? Wer trachtet ihr und den anderen nach dem Leben? Und wer weiß, was damals, vor zehn Jahren, wirklich geschehen ist?

„Frostgrab“ (übersetzt von Jürgen Bürger), das Romandebüt der ehemaligen Profi-Snowboarderin Allie Reynolds, ist ein eiskaltes Kammerspiel, das sehr schnell Spannung aufbaut. Die Story wird auf zwei Zeitebenen erzählt, wobei die Ereignisse der Vergangenheit denen der Gegenwart in nichts nachstehen. Insbesondere Snowboarder*innen dürften an den Beschreibungen der Wettkämpfe und des Trainings ihre Freude haben, doch auch ich als bekennende Nicht-Wintersportlerin habe mich hervorragend darauf einlassen können – um ehrlich zu sein, habe ich mir einige der erwähnten Sprünge und Loops sogar auf YouTube angesehen. Was mich allerdings ein wenig enttäuscht hat, ist das Ende, das mir persönlich dann doch etwas zu schnell „abgehandelt“ wurde. Nichtsdestotrotz ist „Frostgrab“ ein frostig-kalter und durchgängig spannender Thriller, den ich durchaus empfehlen kann.

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Veröffentlicht am 06.11.2020

berückend und rätselhaft

Andrin
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Es ist eine kapitale Schaffenskrise, die die Protagonistin und Ich-Erzählerin Susanne, ihres Zeichens Schriftstellerin und Ghostwriterin, gerade heimsucht: Die Arbeit an der Biografie des Großindustriellen, ...

Es ist eine kapitale Schaffenskrise, die die Protagonistin und Ich-Erzählerin Susanne, ihres Zeichens Schriftstellerin und Ghostwriterin, gerade heimsucht: Die Arbeit an der Biografie des Großindustriellen, die zu schreiben ihr aufgetragen wurde, stockt; sie findet einfach keinen Zugang, weder zu dem Leben, noch zu der Person des literarisch zu Porträtierenden. Ihr Verleger hat die Idee: Susanne soll sich in sein Appartement in Italien zurückziehen: Ruhe, Entspannung, Blick aufs Meer – dann fließt auch wieder die Kreativität. Statt in Italien strandet Susanne indes in Voglweh, einem verborgenen, ja, verfallenen Bergdorf. Die einzigen zwei Bewohner der winzigen Siedlung, der ältere, überaus vielseitig begabte Andrin und seine Frau Uta, nehmen Susanne mit offenen Armen auf. Und was zunächst als kurzer Aufenthalt gedacht ist, dauert an und an und an. Ja, die verlassene Siedlung, die ewig drohenden Steinlawinen, das warmherzige Ehepaar und die grotesk üppige Vegetation werfen bei ihr Fragen auf – doch Susanne schiebt sie beiseite. Je mehr Zeit sie in Voglweh verbringt, umso mehr verliert sie sich bereitwillig in dem gleichmäßigen Rhythmus aus körperlicher Arbeit, fantastischem Essen, wohltuender Gesellschaft und tiefem Schlaf … doch wie lange kann dieses entrückte Leben realistischerweise andauern?

„Andrin“ ist ein faszinierender Roman, der wie ein Vexierbild mit der Realität und dem Alltag, wie wir sie kennen, spielt. Während der Lektüre fühlte ich mich vielfach an Marlen Haushofers „Die Wand“, Raphaela Edelbauers „Das flüssige Land“ und zum Teil auch an Ewald Arenz‘ „Alte Sorten“ erinnert. Doch trotz – oder gerade wegen – dieser Reminiszenzen, entfaltet „Andrin“ ein ganz eigenes, gefangennehmendes Erzähluniversum: Ein weitestgehend autarkes Leben fernab des hektischen Alltäglichen, das ausschließlich den eigenen und den Naturgesetzen folgt und in einer beinahe realitätsenthobenen, naturverbundenen Parallelwelt stattfindet – was Susanne erlebt, war für mich als Leserin zugleich irritierend und enigmatisch, bestrickend und verheißungsvoll.

Mein einziger – allerdings, wie ich einräumen muss, sehr, sehr subjektiver – Kritikpunkt ist der an einigen Stellen etwas zu umgangssprachliche und ein wenig flapsige Erzählstil. Doch das ist ausschließlich meinem persönlichen Geschmack geschuldet, denn er passt, das muss ich betonen, durchaus zu der recht burschikosen Ich- Erzählerin und tut der Erzählung keinerlei Abbruch.

Ich habe diesen Roman ausgesprochen gern gelesen und
empfehle ihn ebenso ausgesprochen gerne weiter.

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