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Veröffentlicht am 01.04.2021

Ein Buch, das nachhallt

Der gefrorene Himmel
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Richard Wagamese, der leider bereits 2017 starb, ist beim Blessing Verlag gleich doppelt vertreten: Nachdem im vergangenen Jahr bereits "Das weite Herz des Landes" erschien, kam nun vor kurzem "Der gefrorene ...

Richard Wagamese, der leider bereits 2017 starb, ist beim Blessing Verlag gleich doppelt vertreten: Nachdem im vergangenen Jahr bereits "Das weite Herz des Landes" erschien, kam nun vor kurzem "Der gefrorene Himmel" heraus - und dieses Buch hat mich sprachlich womöglich sogar noch mehr beeindruckt. Wagamese war Ojibwe, ein indigener Schriftsteller, der in seinen Büchern indianische Identität und den Umgang der Mehrheitsgesellschaft mit den First Nations thematisiert. So manches Element aus "Der gefrorene Himmel" findet Parallelen in Wagameses eigener Biografie, der in Heimen und Pflegefamilien aufwuchs und erst als erwachsener Mann zu seinen Ojibwe-Wurzeln fand.

Saul Indian Horse, dem Ich-Erzähler geht es ähnlich: Mit acht Jahren endet er in einem staatlichen Heim unter Leitung von Priestern und Nonnen, wo den Kindern ihr Indianertum mit aller Gewalt ausgetrieben werden soll. Gewalt, Misshandlung und Missbrauch sind an der Tagesordnung, Fluchtversuche werden mit drakonischen Strafen geahndet und das "Indianerfeld" auf dem Schulgelände ist voll mit den namenlosen Gräbern jener Kinder, die sich selbst töteten, um dem Leben im Heim zu entkommen.

Saul findet seine Rettung im Eishockey: Zwar darf er beim Spiel der älteren Jungen, die von einem hockeybegeisterten Priester trainiert werden, nicht mitmachen. Doch er darf die Eisbahn vorbereiten, und bringt sich heimlich Schlittschuhlaufen und Hockeytechniken bei. Der schmächtige 13-jährige ist ein Naturtalent, der eine symbiotische Beziehung zu dem Spiel und zum Eis zu haben scheint, wie sich herausstellt, als er durch den Ausfall eines Spielers plötzlich selbst eine Chance erhält.

Mehr noch: Sein Hockeytalent verschafft Saul die Chance, das Heim zu verlassen und beim Reservatteasm "Moose" zu spielen, dessen Trainer die Vormundschaft für ihn übernimmt. Zum ersten Mal seit der Trennnug von seinen Angehörigen hat Saul wieder so etwas wie eine Familie. Sein Talent und sein Gespüt für das Spiel überzeugt auch Skeptiker. Er ist so gut, dass auch "weiße" Mannschaften Interesse an ihm haben. Doch Saul muss gleich mehrfach erleben: Für das Publikum, die Medien, für die Gegner, selbst für die eigenen Mannschaftskameraden ist er immer nur "der Indianer". Rassismus wird zur ständigen Erfahrung, ebenso Anfeindungen: "Das Eis ist weiß,und die Spieler sind es auch."

In einem Hollywood-Drehbuch würde Saul als einsamer Held alle Widerstände überwinden und triumphieren, Wagamese hingegen zeigt, wie Saul in eine Abwärtsspirale gerät, als Gelegenheitsarbeiter von Job zu Job zieht, ein immer schwereres Alkoholproblem entwickelt und buchstäblich ganz unten ankommen muss, bis er nicht nur seine Sucht, sondern seine Vergangenheit konfrontiert und erkennt, was er erfolgreich verdrängt hat.

Ist in "Das weite Herz des Landes" der junge Ich-Erzähler ein Ojibwe, der von seinem weißen Pflegevater nach bestem Wissen mit den Traditionen seines Volkes bekannt gemacht wird, ist Saul ein Entwurzelter. Doch wenn er auf dem Eis steht, wenn er in der Wildnis unterwegs ist, hat er das Gefühl, das Land spreche zu ihm. Die Lebensgeschichte von Saul ist harte Kost, doch Wagamese schreibt geradezu poetisch, mitunter mythisch. Etwa wenn Saul Visionen von seinem Urgroßvater hat. Dann durchdringt ein Hauch von Schamanismus die Welt dieses lakonischen, stillen Erzählers.

Hatte Schreiben für Wagamese die gleiche therapeutische Wirkung wie Eishockey für Saul? Vielleicht hat auch er Dämonen mit seinen Büchern bezwungen. Die Behandlung der "First Nations" durch die Mehrheitsgesellschaft, für die sich die kanadische Regierung mittlerweile entschuldigt hat, war jedenfalls abscheulich. Wagamese schafft es, ohne Selbstmitleid den Finger in die Wunden zu legen - und verleiht den Opfern und Überlebenden gerade dadurch ihre Würde. Ein beeindruckendes Buch von einem großartigen Autor.

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Veröffentlicht am 14.02.2021

Kälte und Poesie

Das Gewicht von Schnee
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Mein Land ist kein Land, es ist der Winter, hat ein kanadischer Dichter einmal geschrieben, und diese Zeilen gingen beim Lesen von Christian Guay-Poliquins Buch "Das Gewicht von Schnee" wie ein Echo ...

Mein Land ist kein Land, es ist der Winter, hat ein kanadischer Dichter einmal geschrieben, und diese Zeilen gingen beim Lesen von Christian Guay-Poliquins Buch "Das Gewicht von Schnee" wie ein Echo durch meinen Kopf. Denn in diesem ungewöhnlichen Roman voll spröder Poesie spielt der Winter und das Überleben zwischen Schnee- und Eismassen eine Hauptrolle. Schon bei den zunächst verwirrenden Kapitelüberschriften - das Buch beginnt mit "38" - kein Fehler bei der Gliederung, sondern die aktuelle Schneehöhe, wie sich nach und nach herausstellt.

Und auch wenn der Autor viele eindrucksvolle Wort und Formulierungen findet, um diesen gewaltigen Winter immer wieder neu zu beschreiben, ist "Das Gewicht von Schnee" kein Naturroman, sondern ein distopisches Kammerspiel voll zunehmender Paranoia. Der namenlos bleibende Ich-Erzähler ist in sein Heimatdorf zurückgekehrt, um noch einmal seinen Vater zu sehen. Doch auf dem Weg dahin hatte er einen schweren Unfall, beide Beine sind mehrfach gebrochen, er ist vollkommen hilflos. Fast hätten die Dorfbewohner, die ihn fanden, ihn wie ein verletztes Tier von seinen Leiden erlöst, zumal sie fürchteten, die knappen Medikamente könnten für ihn verbraucht worden. Doch in dem Moment, in dem er als einer der Ihren erkannt wurde, erhält er die Chance zum überleben.

Es ist ein Fremder, ein alter Mann namens Matthias, der sich um den Verletzten kümmert - in einem Haus, etwa eine Stunde Fußweg vom Rest des Dorfes entfernt und selbst gestrandet. Er möchte nichts lieber, als wieder zurückzukehren in die Stadt, aus der er gekommen ist, um sich um seine in einem Pflegeheim wartende Frau zu kümmern. Doch das ist nicht möglich: Der Himmel voller Schneewolken hat seit Wochen nicht aufgehört, "das Land zu begraben. Die Welt steht still. Wartet auf den Frühling. Von hier gibt es keinen Ausweg. Die Berge zerschneiden den Horizont, der Wald umzingelt uns von allen Seiten, das Weiß sticht ins Auge."

Doch es ist nicht alleine der strenge Winter, der die Dorfbewohner gefangen hält. Die Stromversorgung ist zusammengebrochen, aber wohl auch die öffentliche Ordnung im ganzen Land. Gerüchteweise ist von Plünderungen die Rede in den Städten, von Milizen, von bürgerkriegsähnlichen Zuständen - vielleicht aber gibt es jenseits des eingefrorenen Dorfes, in dem die Lebensmittel immer knapper werden, auch ein besseres Leben. Heimlich arbeitet jeder an seiner Exit-Strategie, auch Matthias, während der Erzähler zunächst zu schwach ist, um überhaupt zu reden oder irgendwelches Interesse an seiner Umgebung zu entwickeln. Als er die Lage erkennt, will aber auch er nicht alleine zurück bleiben. Bis dahin, so schreibt er sei jeder "der Gefangene des anderen".

In einer Welt, in der alle Gewissheiten dahin sind und die Natur allemal stärker, können die Einzelnen nur auf ihr Überleben hoffen. Viele der Umstände der Außenwelt bleiben dabei vage, der Erzähler und Matthias gefangen in ihrer Einsamkeit, der wechselseitigen Abhängigkeit in dem entlegenen Dorf und der Hoffnung, am Ende zu überleben. Der Winter steht dabei für die Schönheit und Brutalität des Lebens an sich. Nicht nur das isolierte (Über-)leben in einem verlassenen Haus - eigentlich nur seiner Veranda, die ist leichter zu heizen) schafft eine klaustrophobische Atmosphäre, in der menschliche Nähe und gegenseitiges Belauern gleichermaßen im Spiel sind. Für diese verstörende Schönheit voller Ängste hat Guay-Poliquin mit "das Gewicht von Schnee" die passende Sprache gefunden.

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Veröffentlicht am 23.12.2020

Beklemmend-düster und voller Spannung

Olympia
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Die historischen Kriminalromane von Volker Kutscher über den Kommissar Gereon Rath und seine Frau Charlotte haben bei allen Unterschieden in Genre und Leserschaft eine Gemeinsamkeit mit der Harry Potter-Serie: ...

Die historischen Kriminalromane von Volker Kutscher über den Kommissar Gereon Rath und seine Frau Charlotte haben bei allen Unterschieden in Genre und Leserschaft eine Gemeinsamkeit mit der Harry Potter-Serie: Sie werden immer dunkler und düsterer. Waren die in der Endphase der Weimarer Republik angesiedelten ersten Bücher noch geprägt von der schillernden Atmosphäre des damaligen Berlin, dem Tanz auf dem Vulkan angesichts der politischen Spannungen und des Machtzuwachs der Nationalsozialisten, ist mit dem achten Band, "Olympia" das Jahr 1936 erreicht. Das Nazi-Regime hat sich voll etabliert und will die Olympischen Spiele in Berlin zur Propagandashow für das neue Deutschland machen. Mindestens ebenso wie um die Aufklärung eines Todesfalls im Olympischen Dorf geht es um die Frage, wie der Einzelne in einer Diktatur ein anständiger Mensch bleiben kann, und wie sehr das System jeden Bereich des täglichen Lebens erfasst.

Gereon Rath ist für den Sicherheitsdienst erpressbar geworden und Polizisten der alten Schule im Landeskrimimalamt zunehmend selten. Dafür prägen die schwarzen Uniformen der SS das Bild, verwischen beim Sicherheitsdienst die Grenzen zwischen SS und Gestapo. Nach dem Tod eines amerikanischen Sportmanagers soll Gereon Rath ermitteln und wird von einem alten Widersacher, mittlerweile Obersturmbannführer bei der SS, ins Olympische Dorf geschickt.

Augenzeuge des Zwischenfalls wurde ausgerechnet Fritze, der einstige Pflegesohn der Raths, der nun bei einem überzeugten Nationalsozialisten lebt und als leidenschaftlicher Hitlerjunge beim "Ehrendienst" die Athleten aus aller Welt unterstützen soll. Dass er besonders für schwarze Athleten wie den amerikanischen Läuferstar Jesse Owens schwärmt, isoliert ihn allerdings innerhalb der anderen Jugendlichen.

Während die SS angesichts weiterer Todesfälle um jeden Preis Beweise für eine kommunistische Verschwörung zur Störung der Spiele finden will, ahnt Gereon immer mehr, dass der Tod des Sportfunktionärs und die übrigen Todesfälle nichts miteinander zu tun haben. Denn die anderen Toten, bei denen teilweise zunächst von Unfällen ausgegangen war, dienten alle in einer Spezialeinheit Hermann Görings. Mehr noch: Sie alle waren in einen Zwischenfall verwickelt, mit dem auch Gereon Rath zu tun hatte.

Da ich nicht alle Bücher der Serie kenne, haben Kenner der vorangegangenen Bände hier offensichtlich Vorteile. Aber auch mit Band acht in die Lektüre einzusteigen, trübt die Spannung nicht. Da allerdings Figuren vorangegangener Titel wieder auftauchen, brauchte ich allerdings ein bißchen, um die Zusammenhänge zu verstehen.

Gereon Rath erkennt: Hier übt jemand systematisch Rache. Ist auch sein eigenes Leben in Gefahr? Seine Ehefrau "Charly", die die Nationalsozialisten hasst und verachtet, begibt sich ebenfalls auf gefährliches Terrain: Neben ihrem offiziellen Job als Privatdetektiven hilft sie Menschen, die aus Deutschland fliehen müssen, bei der Beschaffung falscher Papiere. Immer öfter fragt sich auch die preußische Patriotin und leidenschaftliche Berlinerin, ob ihr Platz noch in einem Deutschland sein kann, dass ihr fremd und verhasst geworden ist. Doch kurz bevor Charly und Gereon ihre Pläne, mit tschechoslowakischen Pässen als angebliche Deutschböhmen mit den übrigen Olympiatouristen die "Rückreise" nach Prag anzutreten, eskaliert die Situation. Ein dramatisches Finale lässt viele Fragen offen, einschließlich der Zukunft dieser Serie.

Atmosphärisch dicht, beklemmend und spannend - "Olympia" ist großes Kopfkino, mit glaubwürdigen Charakteren und bildstarker Schilderung des Berlins des Jahres 1936. Viel mehr als "nur" ein Kriminalroman, lässt dieses Buch den Leser gewissermaßen direkt ins Herz der Finsternis steigen

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Veröffentlicht am 25.10.2020

Berührender Abschied vom sterbenden Vater

Sterben im Sommer
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Persönlicher geht es wohl nicht: Mit "Sterben im Sommer" setzt sich Zsuzsa Bánk mit der unheilbaren Krebserkrankung ihres Vaters auseinander, mit seinem Tod, dem ersten Jahr ohne ihn. Es ist buchstäblich ...

Persönlicher geht es wohl nicht: Mit "Sterben im Sommer" setzt sich Zsuzsa Bánk mit der unheilbaren Krebserkrankung ihres Vaters auseinander, mit seinem Tod, dem ersten Jahr ohne ihn. Es ist buchstäblich Trauerarbeit, die sie als Ich-Erzählerin leistet. In der Hörbuchversion ist Lisa Wagner eine Idealbesetzung für die Umsetzung des Buches. Ihre ruhige, manchmal spröde Stimme lenkt nicht ab von den Worten, ist nicht betont gefühlig, sondern nimmt sich angenehm zurück und erlaubt die Konzentration auf die of poetische und reflektierende Sprache der Autorin. Immer wieder macht Bánk mit vielen Wiederholungen den Einsruck, als Ringe sie noch beim Schreiben um das exakt passende Wort, als wolle sie damit dem Leser (oder Hörer) eine ganz bestimmte Nuance näher bringen.

"Sterben im Sommer" startet mit einem letzten Familiensommer in der ungarischen Heimat der Eltern, die das Land nachdem niedergeschlagenen Aufstand 1956 verlassen haben. Noch einmal, ein letztes Mal, will der Vater im Balaton schwimmen, will im Obstgarten sitzen, will mit der Familie einen ungarischen Sommer an einem Ort voller Erinnerungen verbringen. Die Diagnose "unheilbar" ist da schon gestellt, alle wissen: Dies ist das letzte Mal.

Es kommt anders, noch während der Ferien verschlechtert sich der Gesundheitszustand des Vaters, er muss ins Krankenhaus, mit Blick auf das ungarische Gesundheitssystem entscheidet sich die Familie für eine Klinik in Österreich. Der Urlaub wird zum Pendeln zwischen Balaton und Krankenhaus. Die Stoßgebete "Bitte noch nicht jetzt" kommen häufiger. Der letzte Sommer findet in Krankenzimmern, im Gespräch mit Ärzten statt, es ist der Anfang eines unausweichlichen Endes, bis zu dem gefürchteten Moment, in dem die Ärzte die Familie vor eine Entscheidung stellen: Es kann nichts mehr getan werden, - soll das Ende durch weitere Chemotherapie herausgezögert werden, oder soll der Vater in ein Hospiz kommen?

Der Tod ist allgegenwärtig in "Sterben im Sommer" - erst als gefürchteter Abschluss, dann als Realität. Bánk beschreibt die Momente, auf die Freunde und Angehörige selbst dann nicht vorbereitet sind, wenn sie wissen: Es gibt keine Hoffnung, alle Therapien und Behandlungen sind letztlich aussichtslos, sichern nur ein bißchen Extra-Zeit. Bánk schildert Verzweiflung und Frustration im Umgang mit Ärzten, für die das Sterben der Patienten so zur Alltagsroutine gehört, dass die Empathie auf der Strecke geblieben ist, die Hilflosigkeit angesichts der vielen Behördengänge und Entscheidungen, die nach dem Tod eines Angehörigen zu treffen sind, aber auch Solidarität und Zusammenhalt, den die Familie durch Nachbarn und Freunde erlebt.

"Sterben im Sommer" ist konsequent aus der Sicht der Erzählerin beschrieben, es geht um ihre Gefühle, ihren Weg, das Erlebte zu verarbeiten, um ihre Erinnerungen an den Vater. Die übrigen Angehörigen sind da eher Randfiguren. Das mag einige stören, ist aber letztlich schlüssig: Wie Tod und Trauer erlebt werden, ist schließlich eine ganz persönliche und individuelle Erfahrung. Die Phasen des Sterbens, zwischen Leugnung, Zorn bis hin zur Akzeptanz - sie scheinen auch für die Hinterbliebenen zu gelten.

So reflektiert die Sprache in "Sterben im Sommer" ist, so ungefiltert ist der Schmerz der Erzählerin zu spüren. Das tut weh, auch beim Lesen oder Zuhören, insbesondere dann, wenn eigene Erfahrungen und Erinnerungen an das Sterben und den Tod geliebter Menschen wieder aufgerissen werden wie eine mehr oder weniger vernarbte Wunde. "Sterben im Sommer" ist definitiv keine "nebenher"-Lektüre, man muss sich darauf einlassen auf diese so gar nicht leichte Lese-Kost. Ein eindringliches, einprägsames und nachdenklich machendes (Hör-)Buch.

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Veröffentlicht am 08.10.2020

Suche nach den Wurzeln

Das weite Herz des Landes
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Eins mit der Natur und trotzdem unvertraut mit den eigenen Wurzeln - das ist für Franklin Starlight, den Protagonisten von Richard Wagameses Roman "Das weite Herz des Landes" kein Widerspruch. Denn der ...

Eins mit der Natur und trotzdem unvertraut mit den eigenen Wurzeln - das ist für Franklin Starlight, den Protagonisten von Richard Wagameses Roman "Das weite Herz des Landes" kein Widerspruch. Denn der 16-jährige Ich-Erzähler, der bei einem Ziehvater auf einer entlegenen Farm aufwächst und schon als Kind selbständig jagte, tagelang allein in der Wildnis unterwegs war, weiß kaum etwas über seine Familie. Seine Mutter kennt er überhaupt nicht, seinen alkoholkranken Vater hat er nur selten gesehen und dann nicht in bester Erinnerung erhalten. Doch nun bittet der ihn um einen buchstäblich letzten Wunsch: Zum Sterben will er in die Berge, ein Tal überblicken und dann im Sitzen mit dem Gesicht nach Osten begraben werden, so wie einst die Krieger seines Volkes, von denen er eigentlich nichts weiß.

Auch Richard Wagamese fand laut Klappentext erst als Erwachsener zu seinen indigenen kulturellen Wurzeln. Die Starlights sind "McJibs" - Nachkommen von Ojibwe-Indianern und Schotten, und als einziges nicht-weisses Kind in der Klasse hat Franklin oft die Frage umgetrieben, was er eigentlich sei. Sein Ziehvater, fast durchgehend im Buch nur "der Alte" genannt, ist weiß, hat aber sein Bestes getan, ihm "Indianersachen" nahe zu bringen, allen voran das Eins sein mit der Natur, den Respekt vor ihr, vor den gejagten Tieren, die man zwar tötet, bei denen man sich aber auch bedankt. Der Alte ist kein Mann vieler Worte, eher so ein knorriger Rancher, wie man sie auch aus klassischen Western kennt.

Wagameses ruhige Erzählweise lässt den Leser eintauchen in die kanadischen Wälder, in die Begegnung mit einem Grizzly, die Jagd, die Weite der Landschaft und der Menschen, die mit, nicht gegen die Natur leben. Die Vater-Sohn-Geschichte ist zugleich eine Coming of Age-Erzählung, wobei Franklin reifer wirkt als mancher doppelt so alte Mann. Die Tage mit dem unsentimental beschriebenen Vater, der immer weiter abbaut, sind buchstäblich die letzte Gelegenheit für beide, eine Vergangenheit aufzuarbeiten, von der Franklin nichts weiß. Das letzte Kapitel im Leben des Einen wird so auch zu einem neuen für den Anderen.

Manchmal ist Wagamese so lakonisch wie der "Alte", mal sind seine Beschreibungen von spröder Poesie. Die Enwurzelungvon Franklins Vater Elrond, der in einer schmutzigen Fabrikstadt Gelegenheitsarbeiten nachgeht, steht im starken Kontrast zu dem naturverbundenen Leben auf der Farm. Doch über ihr kulturelles Erbe müssen Vater und Sohn gleichermaßen rätseln. Auch wenn die Geschichte der "first nations" nicht die Hauptrolle spielt, ist der Verlust dieser Identität unter den Nachfahren der indianischen Ureinwohner ein roter Faden, der sich durch das Buch zieht. Anders als etwa in W.P. Kinsellas "Dance me outside"-Kurzgeschichten geht es hier nicht um das oft depremierende, von Alkohol- und Drogenmissbrauch und hohen Selbstmordraten geprägte Leben in den Reservationen, sondern um die entfremdet jenseits alter Gemeinschaften aufgewachsenen indigenen Menschen.

Fern von jeglicher Indianerromantik und Naturkitsch ist "Das weite Herz des Landes" unsentimental, aber nicht ohne Optimismus. Der Ausspruch "In der Stille liegt die Kraft" hat für dieses Buch und seinen jungen Protagonisten allemal Gültigkeit.

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