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Veröffentlicht am 12.10.2021

Ährenmänner

Der perfekte Kreis
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England in den späten 80ern. Zwei Männer stehen schweigend in einem Feld, bewaffnet mit Stöcken und Seilen. Ihr Ziel: der perfekte Kornkreis. Viel Zeit haben sie nicht, die Sommernächte sind kurz, Kornkreisjäger ...

England in den späten 80ern. Zwei Männer stehen schweigend in einem Feld, bewaffnet mit Stöcken und Seilen. Ihr Ziel: der perfekte Kornkreis. Viel Zeit haben sie nicht, die Sommernächte sind kurz, Kornkreisjäger sind unterwegs, um zu enthüllen, wer dahintersteckt. Außerirdische vermuten die einen, Jugendliche mit Schabernack im Sinn die anderen. Redbone und Calvert nehmen das amüsiert zur Kenntnis, während sie das nächste Projekt in Angriff nehmen, vom Trapping-St-Edmunds-Sonnenwendenpendel bis zum Throstle-Henge-Asteroidencollier.

Nach seinem Überraschungserfolg „Offene See“, das Lieblingsbuch der Unabhängigen (Buchhändler) 2020, erscheint nun der neue Roman von Benjamin Myers. Und das schon jetzt, obwohl das Original in England erst für 2022 angekündigt ist. Inspiriert durch die Geschichte der beiden Kornkreis-Künstler Doug Bower und Dave Chorley, die in den 80ern in Südenglands Feldern für Furore sorgten, lässt er zwei Männer durch fiktive Orte Großbritanniens ziehen. Der eine kreiert die Kunstwerke, der andere sucht die Felder, beide geleitet von einem selbsterstellten Codex, der vor allem eines verhindern soll: das bekannt wird, wer hinter den Kornkreisen steckt.

Ihre Geschichte wird verwoben mit realen Ereignissen: dem Falkland-Krieg, der Schlacht im Bohnenfeld, der weltweiten Berichterstattung über das Phänomen der Kornkreise in einer Zeit weit vor dem Internet. Und mit einer liebevollen Beschreibung der Natur, die sonst fast nur Robert Macfarlane beherrscht, mit eindringlichen Warnungen vor der Umweltverschmutzung und einem kleinen, fast schon beiläufigen Kommentar auf die Corona-Pandemie.

„Der perfekte Kreis“ ist nicht perfekt, aber perfekt geschrieben. Myers lässt vieles ungesagt, seine zwei Hauptfiguren geheimnisvoll. Was alles war, was alles kommt, das spielt keine Rolle, es zählen nur dieser Sommer, diese Nächte in der Natur, diese Kunst in den Feldern. Der kurze, nur 240 Seiten lange Roman steckt voller Poesie, voller Liebe zum Süden Englands, voller Hingabe für die Kreationen dieser beiden stillen Typen mit ihrem ganz eigenen Codex, für die der perfekte Kreis vor allem eines ist: eine Frage der Ähre.

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Veröffentlicht am 19.03.2024

Besser als Rooney

Das Leben in Nuancen
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Im Englischen heißt dieses Buch „Wet Paint“ und wer schon einmal Wände gestrichen hat, weiß, wie lange es manchmal dauert, bis die Farbe trocken ist. Noch länger dauert es, bis das Leben wieder, naja, ...

Im Englischen heißt dieses Buch „Wet Paint“ und wer schon einmal Wände gestrichen hat, weiß, wie lange es manchmal dauert, bis die Farbe trocken ist. Noch länger dauert es, bis das Leben wieder, naja, getrocknet ist, wenn etwas wirklich Schlimmes passiert. In Eves Fall ist das der Tod ihrer besten Freundin Grace vor fünf Jahren.

Eve wohnt in einer WG mit einem Pärchen als alles den Bach runtergeht. Erst verliert sie ihren Restaurant-Job als sie sich gegen die sexuelle Belästigung eines übergriffigen Gastes wehrt. Betrunken knutscht sie mit ihrem Mitbewohner, der das Geständnis an Weihnachten seiner Freundin unter den Tannenbaum legt und prompt fliegt Eve aus der gemeinsamen Wohnung. Ihr alkoholkranker Vater möchte sie nicht aufnehmen, es bleibt nur Max, ihr seit Jahren platonischer und dann doch richtiger Freund. Und Eves große Angst, es mit Max so richtig zu ruinieren, die bleibt auch. Vor allem, weil sie Graces Tod noch immer nicht verarbeitet hat.

„Das Leben in Nuancen“ ist ein Buch über Trauer, über Verarbeitung traumatischer Erlebnisse, aber auch eines über die Lebensrealitäten von Late-20s und Thirty-Somethings. Eines über Großstadtleben und Aushilfsjobs, über persönliche Entwicklungen und wie unterschiedlich das Leben sein kann, auch wenn man nahezu gleich alt ist.

Ich mag es sehr, wie Chloe Ashby die Protagonistin angelegt hat, sie immer wieder stolpern und aufstehen lässt. Ich bin kein Kunstmensch und kann dennoch ihre Faszination greifen, mit der sie Woche für Woche ins Museum geht, ihre eigene Selbsthilfegruppe mit Manets Bardame Suzon, die plötzlich, genau wie Grace, weg ist, wenn auch nur in einem Pariser Museum und nicht auf einem Friedhof. Und mit gefällt wie Eve plötzlich merkt, dass sie nicht alleine ist, durch Max, durch ein kleines Mädchen namens Molly und trotz der Abwesenheit ihrer Eltern und Graces Tod.

Kein leichtes Buch, aber trotz der schweren Themen auch kein schwermütiges. Und für mich besser, intensiver und ehrlicher erzählt als die Romane von Sally Rooney. Wer die aber schon mag, liegt mit Chloe Ashby sicher richtig.

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Veröffentlicht am 19.03.2024

In einem Konzertland vor unserer Zeit

Wir könnten Freunde werden
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"Wie viele Konzerte werden pro Tag gegeben? Wie viele Menschen gehen pro Tag auf ein Konzert?" (Wir könnten Freunde werden, Seite 135)

Puh, vielleicht nicht die cleverste Lektüre in einer Pandemie, bei ...

"Wie viele Konzerte werden pro Tag gegeben? Wie viele Menschen gehen pro Tag auf ein Konzert?" (Wir könnten Freunde werden, Seite 135)

Puh, vielleicht nicht die cleverste Lektüre in einer Pandemie, bei akuter Konzertvermissung, beim Gedanken daran mal wieder mit einem schalen Bier in einem Plastikbecher in einer verschwitzten Menschenmenge bei Lieblingsliedern dümmlich, aber glücklich in Richtung Bühne zu grinsen.

Schon komisch, wenn ein Buch aus der Zeit gefallen wirkt, und das nicht daran liegt, dass für Zigaretten und T-Shirts noch DM fällig waren und Thees und Dirk und Arne und Jan und Rick und alle anderen einfach mal Mitte 20 und pausbackig waren, sondern weil die Idee, so, ich schnapp mir jetzt mein Wegbier und geh ins Underground (was ja leider eh nicht mehr geht, Ehrenfelder Abrissbirnen sei Dank) und höre mir Rock'n'Roll an, einfach mal seit fast einem Jahr auf Eis liegt.

Trotzdem, es ist eine tolle Reise in eine andere Zeit, eine Zeit, die vielleicht, ach was, bestimmt, irgendwann wieder einmal kommt, nicht mit alter Währung, aber mit altbewährten Mustern der Musikliebe. Und vielleicht ist es auch diese merkwürdige Zeit, in der wir gerade leben und lesen, die ein viertes Sternchen an dieses Buch hängt, das so etwas wie der Vorläufer der geschätzten Uhlmannschen Facebook Posts ist, herrlich ausufernd, oft quatschig, nicht selten emotional, manchmal anstrengend, aber immer wieder mit dem gleichen Abschlussgedanken: Danke, Thees!

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Veröffentlicht am 19.03.2024

Grand Theft Duster

Blacktop Wasteland
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Eine staubige Landschaft im Nirgendwo. Trailerparks. Schnelle Autos. Abgewrackte Rednecks. Die Welt von Blacktop Wasteland erinnert nicht nur ein bisschen an Grand Theft Auto V. Auch die Hauptfigur – Beauregard ...

Eine staubige Landschaft im Nirgendwo. Trailerparks. Schnelle Autos. Abgewrackte Rednecks. Die Welt von Blacktop Wasteland erinnert nicht nur ein bisschen an Grand Theft Auto V. Auch die Hauptfigur – Beauregard Montage – ist der typische Antiheld der erfolgreichen Videospielreihe. Er war mal im Knast. Er möchte das Beste für seine Familie. Er macht noch diesen einen Job. Und dann? Ja dann …

S. A. Cosby nimmt die Leser:innen mit in seine Heimat, in seine Vergangenheit. Aufgewachsen in Virginia, in einem Trailerpark, die Toilette im Hof, der Rassismus allgegenwärtig, alltäglich. Das Literaturstudium musste er abbrechen, um seine Mutter zu pflegen. Und dennoch: Zwischen der Betreuung und den Nebenjobs las er, schrieb er und veröffentlichte nach einer gefeierten Kurzgeschichte und zwei Romanen seinen Durchbruch: Blacktop Wasteland.

Beauregard Montage, genannt Bug, hat ein paar Jahre Jugendknast abgesessen, als Fluchtwagenfahrer Geld verdient und führt jetzt ein recht zurückgezogenes Leben mit eigener Werkstatt im verdammten Hinterland Virginias. Doch dann fehlt das Geld. Der eine Sohn braucht eine Brille, der andere eine Zahnspange, das Pflegeheim seiner Mutter fordert über 30.000 Dollar nach und die Konkurrenz hat seiner Werkstatt hat einen lukrativen Deal vor der Nase weggeschnappt. Da taucht ein alter Bekannter auf. Mit dem Plan für einen letzten Coup, der eigentlich nicht schiefgehen kann. Und natürlich schiefgeht.

Klingt nicht unbedingt neu, ist aber wahnsinnig gut erzählt. Cosby nimmt die Leser:innen mit auf eine oft schonungslose Reise in ein Land voller Konföderierten-Flaggen, Trumpismus, einem kaputten Gesundheitssystem, Gewalt, Medikamenten- und Drogensucht. Aber auch in eine Welt voller Familienbande, Hoffnung, actionreichen Verfolgungsjagden und fein aufblitzendem schwarzen Humor.

Der Dreh und Angelpunkt: Die Hauptfigur mit den zwei Gesichtern. Der Vater, Sohn und Ehemann Beauregard auf der einen Seite, der seine Werkstatt, seine Familie retten und schützen möchte. Und der Fahrer Bug, der seine spektakulären Fähigkeiten zu wilden Autofahrten und schonungsloser Selbstzerstörung von seinem Vater geerbt hat, eine weitere Geschichte, die diesen dichten Roman schnell vorantreibt.

Blacktop Wasteland liest sich wie ein Videospiel, wie eine Netflix Serie, wie ein rasant geschnittener Kinofilm. Kein Wunder, dass die Filmrechte schon verkauft sind. Genau wie die von Cosbys nächstem Roman. Und der ist nicht mal erschienen. Sieht schon ganz gut aus, die Zukunft von S. A. Cosby. Und das nach einer staubigen Jugend im Trailerpark.

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Veröffentlicht am 19.03.2024

Platsch!

Unterwasserflimmern
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Fünf Meter Anlauf, ein Sprung, ein Aufprall - PLATSCH - und dann ... dieser kurze Moment der Schwerelosigkeit unter Wasser, das Funkeln von gebrochenem Licht über einem, krachend laute Stille, bevor es ...

Fünf Meter Anlauf, ein Sprung, ein Aufprall - PLATSCH - und dann ... dieser kurze Moment der Schwerelosigkeit unter Wasser, das Funkeln von gebrochenem Licht über einem, krachend laute Stille, bevor es wieder hoch an die Oberfläche geht.

Unterwasserflimmern eben. Ein Gefühl, das jeden erwischen kann. Auch an Land. Wenn die langjährige Beziehung plötzlich implodiert. Wenn da etwas Unbestimmtes ist, das die Zukunft, das ganze Leben auf den Kopf stellen kann. Wie bei der Protagonistin in Katharina Schallers Debütroman.

Da ist der Freund, der mal eben für beide vor Freunden beschließt, dass es auch bei ihnen langsam Zeit für ein Kind wird. Und ein Grundstück gekauft hat für das gemeinsame Leben auf dem Land, raus aus der Stadt. Da ist die Affäre, verheiratet, Kinder, Zweitwohnung für Außereheliches. Da ist die Unbestimmtheit, wohin es im Leben gehen soll. Die Bestimmtheit, wo es nicht hin sollte. Und da ist ein Zug nach Italien, eine Mitfahrgelegenheit nach, vermutlich, Portugal. Und ein Mofatrip weiter ans Meer. Innehalten. Sortieren. Einen neuen Schock verdauen. Weiter sortieren. Zurück müssen. Nicht zurück wollen. Am liebsten immer unter Wasser bleiben, in diesem Zwischenmoment nach dem Platsch.

Eine Geschichte für alle um die oder über 30. Nicht jeder wird sie lieben, nicht jeder wird sie nachvollziehen können. Aber Unterwasserflimern ist ein Roman, der ein gewisses Maß an Empathie fordert, vielleicht sogar Empathie fördert. Der dafür sorgt, dass die ein oder andere übergriffige Frage nach Kindern, Ehe und Eigenheim nicht gestellt wird, auch wenn es nicht dem eigenen Lebensmodell entspricht.

Angenehm direkt geschrieben, entwickelt die Geschichte schnell einen Sog, der Leser:innen mit auf die Reise nimmt, mit unter Wasser zieht und rechtzeitig vor dem Auftauchen abbricht. Denn wie die Protagonistin ihr Leben weiterführt, geht nur eine Person etwas an. Sie selbst.

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