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Veröffentlicht am 15.11.2023

Die liebe Verwandtschaft

Flitz und Fluse - Gespenster-Training leicht gemacht
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Eigentlich geht’s Familie Grausewitz blendend. Sie sind in neues altes Haus gezogen, das herrlich vermodert ist, ein kleines Geschwistergespenst ist im Anmarsch – aber leider auch Tante Twister aus dem ...

Eigentlich geht’s Familie Grausewitz blendend. Sie sind in neues altes Haus gezogen, das herrlich vermodert ist, ein kleines Geschwistergespenst ist im Anmarsch – aber leider auch Tante Twister aus dem fernen England. Sie möchte prüfen, ob die Kinder Flitz und Fluse echte Mac oh Schrecks sind – oder doch nach dem Vater kommen, in den Augen der Tante ein Waschlappen. Doch die Grausewitze bereiten sich gut auf den Besuch der alten Dame vor.

„Flitz und Fluse – Gespenster-Training leicht gemacht“ zielt auf eine ganz alltägliche Gruselgeschichte ab: Besuche der lieben Verwandtschaft. Für viele ein größerer Horror als Spinnen, Werwölfe oder eben Geister. Und da passt es ganz gut im Bild, dass der angekündigte Tantenbesuch Schweißperlen auf den Laken erkennen lässt, besonders beim Vater der Gespensterfamilie, der tatsächlich – wie alle vier Grausewitz-Geister – ein friedliebender und freundlicher Geist ist. Doch zusammen mit Onkel Polter bekommen Flitz und Fluse alle Tricks beigebracht, um Tante Twister einen gehörigen Schrecken einzujagen – und am Ende hilft ihnen der Mut, den nur Kinder haben und der auch anderen – echten – Kindern Mut macht.

Das kleine Gruselbuch von Annette Moser ist eine schöne Vorlesegeschichte für Kinder ab 4 Jahren mit tollen Illustrationen von Alex Peter. Einige Ideen sind besonders witzig, darunter Onkel Polters Wohnort – eine Hüpfburg. Und auch die Erkenntnis, wovor sich Gespenster (neben Besuchen der Verwandtschaft) so richtig gruseln, ist sehr charmant.

Negativ fällt dagegen das Bodyshaming in Bezug auf Onkel Polter und Papa Grausewitz auf – Dinge, die schon bei Gespenstern nicht ins Gewicht fallen, sollten Kindern nicht als Floh ins Ohr gesetzt werden. Das ist bedauerlich und macht den Lesespaß etwas kaputt, da es nicht nur an einer Stelle des Buchs vorkommt.

Alles in allem dennoch ein vergnügliches, manchmal etwas zu klamaukiges Vorlesebuch für die dunkle Jahreszeit, in der alles ein wenig gespenstischer wirkt und spätestens zu Weihnachten Besuche von Onkels und Tanten drohen.

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Veröffentlicht am 01.09.2023

Toxic

Cleopatra und Frankenstein
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Eigentlich muss eine Rezension von „Cleopatra und Frankenstein“ mit Trigger-Warnungen starten. Vielen Trigger-Warnungen: Alkoholmissbrauch, Drogenmissbrauch, Depression, Suizid, Machtmissbrauch, toxischer ...

Eigentlich muss eine Rezension von „Cleopatra und Frankenstein“ mit Trigger-Warnungen starten. Vielen Trigger-Warnungen: Alkoholmissbrauch, Drogenmissbrauch, Depression, Suizid, Machtmissbrauch, toxischer Beziehung, toxischen Freundschaften, Demenz, Tod und vermutlich noch ein paar. Wer damit klar kommt, dürfte an Coco Mellors Debütroman Spaß haben. Oder sagen wir lieber: „Spaß“.

Cleo trifft Frank in einer Silvesternacht. Ein halbes Jahr später heiraten sie. Nicht für ihr Visum, wie Freunde lästern, aus Liebe, auch wenn sie ein ungleiches Paar mit zwanzig Jahren Altersabstand sind. Sie Künstlerin, er Agenturchef. Im New Yorker Freundeskreis gibt es Überschneidungen, im Rauschmittelkonsum auch, aber schnell nutzt sich die rosarote Brille ab. Sie rutscht zurück in ihre Depression, er in den Alkoholismus, ein Drama reiht sich ans nächste, bis es zu einer Katastrophe kommt.

„Cleopatra und Frankenstein“ ist so eine Art Anti-Friends oder -How I met your Mother. Die Figuren tun sich alle nicht gut, sind egoistisch, egozentrisch, unsympathisch, süchtig und selbstzerstörerisch. Fast ohne Ausnahme. Dennoch entwickelt die Geschichte ihren ganz eigenen Reiz, die das Buch zu einem – wie es auf dem Klappentext steht – echten Pageturner machen. Coco Mellors stellt in rasanter Geschwindigkeit die Figuren vor, ihre kleinen und großen persönlichen Dramen, führt plötzlich noch einmal, nach mehr als der Hälfte des Buchs, noch einmal eine neue, nicht ganz unwichtige Figur in einem komplett neuen Schreibstil ein, lässt eine andere, relevant eingeführte so fallen, wie die Figur eine der beiden Hauptpersonen. Das ist eigen, eigenartig vielleicht auch, aber auch ein gewisses Vergnügen.

Der Roman wird in einem Atemzug mit Sally Rooney genannt, ist dabei aber deutlich schneller, amerikanischer, lauter. Kann man mögen, kann man doof finden, muss jeder für sich selbst entscheiden. Auf fast jeder Seite werden Alkohol und/oder Drogen konsumiert, wer damit nicht klar kommt, wird an diesem Buch kein Lesevergnügen finden. Das ist alles sehr belastend, fast fragwürdig, findet im Ende des Buchs aber einen passenden Abschluss.

Eines lässt sich auch ohne Spoiler verraten, ja, eh ahnen: Dieser Roman, diese Figuren werden kein happy end finden können. Aber ein happiest possible ending. Der Weg dahin ist aufregend, nervenaufreibend, anstrengend. Aber auch unterhaltsam und stark geschrieben. Und das macht „Cleopatra und Frankenstein“ zu einem der interessanteren Bücher 2023.

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Veröffentlicht am 04.05.2023

(Vielleicht zu) Wholesome

Die Tage in der Buchhandlung Morisaki
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„Das Leben ist lang. Zwischendurch muss man auch mal innehalten, Pause machen. Du ankerst hier nur ein Weilchen, und wenn du dich wieder erholt hast, stichst du wieder in See.“

Eigentlich sind in „Die ...

„Das Leben ist lang. Zwischendurch muss man auch mal innehalten, Pause machen. Du ankerst hier nur ein Weilchen, und wenn du dich wieder erholt hast, stichst du wieder in See.“

Eigentlich sind in „Die Tage in der Buchhandlung Morisaki“ gleich zwei Geschichten versteckt. Die erste handelt von Takako, deren Leben aus den Fugen gerät, als ihr Freund sich verlobt – aber nicht mit ihr. Sie kündigt, zieht sich zurück, bis ihr Onkel anbietet, über seinem Antiquariat zu wohnen. Der Buchhandlung Morisaki. Die zweite Novelle schließt anderthalb Jahre später an, lässt sich aber wenig beschreiben, ohne zu spoilern.

Satoshi Yagisawas Erzählungen sind, in einem Wort beschrieben, wholesome. Die Figuren erleben traurige Momente und schaffen es, mit der Hilfe anderer und etwas Zeit für sich, ihr Leben in eine positive Bahn zu lenken. Beide Novellen lassen sich in einem Rutsch durchlesen, die perfekte Lektüre also für eine längere Bahnfahrt, einen Abend auf dem Balkon oder eingemümmelt mit Tee unter einer Sofadecke. Aber!

Mir persönlich war das manchmal etwas zu flach. Zu gut, zu nett, zu schön, zu lieb, zu, ja, wholesome. Nicht, dass ich Feel-Good-Storys nicht mag, aber dennoch verschenkt der Autor hier das Potenzial, das er gelegentlich aufblitzen lässt, wenn er die Protagonistin durch Klassiker der japanischen Frühmoderne blättern lässt. Vielleicht sind hier ein paar Anspielungen versteckt, die europäische Leser:innen nicht ganz greifen können, wenn sie diese Romane kennen. Aber hier hätte ich, besonders im ersten Teil, gerne mehr erfahren, mehr gelesen, denn asiatische Romane schaffen es häufig, unbekannte Welten zu öffnen, neues aus fremden Kulturen zu lernen.

Gelegentlich klappt dies sehr gut, wenn zum Beispiel Takaros Onkel das Viertel Jimbōchō ganz liebevoll beschreibt und sie sich irgendwann doch entschließt, aus ihrem Zimmer heraus die Welt neu zu entdecken, ins Café zu gehen und andere Antiquariate zu durchstöbern. Wenn es im zweiten Teil des Buches hinaus geht aus der Stadt, in die Berge, in einen Schrein. Doch leider sind diese Momente ein bisschen zu rar gesät, genau wie der Tiefgang der Geschichten. Ja, da sind Dramen in beiden Teilen, doch durch die Erzählweise sind diese nicht so emotional, wie sie sein könnten, vielleicht auch müssten.

Das macht „Die Tage in der Buchhandlung Morisaki“ zu keinem schlechten Buch, im Gegenteil. Aber auch zu einem Doppelroman, der mehr hätte sein können. Aber vermutlich muss das auch nicht immer sein. Schließlich fühlt man sich nach der Lektüre weniger betrogen oder um etwas gebracht, sondern eigentlich ausnahmslos … gut.

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Veröffentlicht am 03.04.2023

Fast verkitschte Naturentspannung

Kleine und große Wunder der Natur
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Meditativ oder esoterisch? Das ist ja eh ein schmaler Grat, wobei geneigte Leser:innen hier eher an Apps oder YouTube Tutorials denken und weniger an Kinderbücher. Aber: Bei „Kleine und große Wunder der ...

Meditativ oder esoterisch? Das ist ja eh ein schmaler Grat, wobei geneigte Leser:innen hier eher an Apps oder YouTube Tutorials denken und weniger an Kinderbücher. Aber: Bei „Kleine und große Wunder der Natur“ ist man hier gar nicht so weit weg. Ein entspanntes Vorlesevergnügen, das gelegentlich droht, ins Kitschige abzurutschen.

Gabby Dawnay nimmt uns mit in die Wälder, zu Rehen und Hirschkäfern, Bienen und Pilzen. Sie beschreibt in einfachen Worten, mit welchen Phänomen die Natur begeistert, wie Bäume miteinander interagieren oder was die Photosynthese ist. Ziemlich anschaulich, schon für kleine Kinder ab 4 Jahren, und wunderschön von Mona K illustriert.

Dawnay selbst bezeichnet sich auf ihrer Instagram Seite als Poetin (nicht direkt, sie beschreibt sich zunächst als Kinderbuchautorin und Kritzelerin und, recht sympathisch, als Bummlerin und Prokrastinateurin). Und ja, poetisch sind ihre Texte, aber, so ist das eben mit der Poesie – sie ist oft nah am Kitsch gebaut. Daher ist „Kleine und große Wunder der Natur“ kein Kinderbuch für jede:n. Man muss sich darauf einlassen, dass es plötzlich zu solchen Gedanken und Liedern wie hier bei Motte und Mond kommt:

„O Mond, lieber Mond, mit so lieblichem Schein, ich möchte verliebt sein und nicht länger allein. Aber wie soll das nur gehen? Stumm und klein, wie ich bin. Ohne Stimme zum Rufen … Wo flieg ich nur hin?“

Puh? Ja schon, ein bisschen. Ein bisschen schön aber auch. Und, jetzt sind wir wieder am Anfang: auch schön entspannend. Dawnay schreibt keine aufregenden, mitreißenden Geschichten über die Faszination Natur, sondern entspannte kleine Episoden, die die Fantasie anregen und gleichzeitig alles ein bisschen runterfahren. Ein Kinderbuch als Meditation vor dem Schlafgehen, eine kleine Traumreise durch das Leben eines Hirschkäfers oder den Pollensammeltag der Biene und dann eine gute Nacht und süße Träume von der Natur.

Ist so schlecht nicht und sieht dabei fantastisch aus. Auch dank der Haptik des Hardcovers mit Goldprint, der schönen Farben und der schon genannten Illustrationen. Und ein bisschen lehrreich ist es auch, denn jedes Kapitel schließt mit einer kleinen Zusammenfassung, einer Art Übersichtsblatt, deutlich sachlicher. Sollte man vor dem Schlafen nicht mehr vorlesen, das wirkt dann wie ein Werbespot nach der YouTube Traumreise - ein Rausreißer aus der Ruhe danach. Und die Eingangsfrage? Immer noch ein schmaler Grat – aber vermutlich ist das Buch eher meditativ. Entscheiden müsst ihr das selbst.

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Veröffentlicht am 29.03.2023

Keine perfekte Geschichte

Dein Taxi ist da
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„Aber das ist keine perfekte Geschichte. Das war sie von Anfang an nicht.“ (Seite 150)

Aber eine gute, das schon. Vielleicht nicht für die Figuren von Priya Guns‘ „Dein Taxi ist da“. Aber durchaus für ...

„Aber das ist keine perfekte Geschichte. Das war sie von Anfang an nicht.“ (Seite 150)

Aber eine gute, das schon. Vielleicht nicht für die Figuren von Priya Guns‘ „Dein Taxi ist da“. Aber durchaus für die Leser:innen ihres Debütromans. Vielschichtig ist er, vielleicht zu vielschichtig, zu voll, zu übertrieben manchmal, und daher nicht perfekt. Aber er ist launig, rasant, emotional, verwirrend und am Puls der Zeit.

Damani ist Fahrerin für RideShare, eine Taxi-Unternehmen, das ihren Fahrer:innen immer weniger zahlt – im Buch ist an einer Stelle von 25 % einer 120 Dollar-Fahrt für Damani die Rede – und so die Wut, den Protest von Damanis Freund:innen entfacht. Das ist ein Teil der Geschichte. Der vielleicht interessanteste, politisch brisanteste und stärkste, wenn sich die Fahrer:innen mit Demonstranten anderer Bewegungen auf die Straße begeben, aber auch eigene Aktionen planen. Was schade ist: Dieser Aspekt verliert sich irgendwann, zumindest in seiner Wichtigkeit.

Es geht um Armut und Existenzängste, Damani und ihre Mutter fürchten ständig, ihre Wohnung aufgrund von Mietrückständen verlassen zu müssen, seit ihr Vater gestorben ist. Und trotz abgeschlossenen Studiums ist kein „richtiger“ Job für sie in Aussicht. Es ist auch eine queere Liebesgeschichte, die rasant beginnt und in einer Katastrophe endet, um am Ende – tja nun, da setzt eine weitere Geschichte ein.

Denn das Auseinanderbrechen von Damani und Jolene, gefolgt von Stalking(ängsten), Verfolgungsjagden und Spendensammlung ist insofern verwirrend, dass nicht ganz aufgelöst wird, ob wir hier eine unzuverlässige Erzählerin haben oder eine Ex, die an paranoider Schizophrenie leidet, ohne hier eine tiefere Ebene zu erreichen.

Etwas anstrengender sind die Einschübe einer Vloggerin und – immerhin nur in einem späteren Kapitel auftauchenden – Tweets, die auf die Handlung anspielen. Das lässt sich aber verzeihen, denn Priya Guns hat in ihrem Debüt tolle Figuren entwickelt, nicht nur mit der Hauptperson, sondern auch mit den weiteren Charakteren wie Miss Patrice, Shereef und eben jener Jolene.

„Dein Taxi ist da“ bündelt Zukunfts- und Existenzängste, Rassismus, Familie und Liebe zu einer spannenden, leicht konfusen, aber grundsympathischen Geschichte. Nicht perfekt. Aber lesenswert. Und wichtig.

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