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Veröffentlicht am 12.10.2021

Hard Knock Life

Die Hebamme
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Norwegen im 19. Jahrhundert. Das Leben der Menschen im Nordwesten ist karg. Das Erntewetter entscheidet, wie gut sie über den Winter kommen. Der Napoleonische Krieg reißt Familien auseinander und prägt ...

Norwegen im 19. Jahrhundert. Das Leben der Menschen im Nordwesten ist karg. Das Erntewetter entscheidet, wie gut sie über den Winter kommen. Der Napoleonische Krieg reißt Familien auseinander und prägt die überlebenden Soldaten bis zum Tod. Kinder kommen ohne Geburtshilfe zur Welt, nicht alle schaffen es, auch nicht alle Mütter. Doch es gibt Hoffnung. Hebammenschulen in Molde und Oslo, das damals noch Christiania hieß. Und junge Frauen, die diesen Beruf erlernen wollen – gegen alle Widrigkeiten.

Edvard Hoem zeichnet in „Die Hebamme“ das Leben seiner Ururgroßmutter nach. Einträge in Staats- und Reichsarchiven, in Kirchen- und Amtsbüchern sind die Grundlage des Romans, der mehr eine Chronik von Nesjestrand und dem Leben von Marta Kristine Andersdotter Flovik ist, eine fiktionale Geschichte anhand von echten Geschehnissen und Menschen, von denen, so schreibt Hoem selbst, niemand mehr weiß, wer sie waren.

Marta Kristine, auch Stina genannt, wuchs als Tochter der Dorfschuhmachers auf. Sie hatte ein enges Vertrauensverhältnis zum örtlichen Pfarrer, der immer ein offenes Ohr für sie hatte, auch, als sie unverheiratet schwanger wird, von einem Mann, der nicht der ist, den sie liebt. Der Pfarrer ist es, der sie auf die Hebammenschule aufmerksam macht, ihr ein Lehrbuch bestellt und ihr eine Ausbildung bei der Hebammenschule im nahen Molde verschafft.

Den Mann, den sie liebt, ihr alter Schulfreund Hans, lässt sie erst zappeln, bereut es dann, flüchtet sich in den Gedanken, dass dieser sie aufgegeben habe, und heiratet ihn dann doch, als dieser gebrochen, aber gesund aus dem Krieg zurückkehrt und seinen Antrag erneuert, den er ihr schon zu Schulzeiten gab. Sie bekommen Kinder, sie ziehen in ein größeres Haus, doch sie werden immer wieder von Schicksalsschlägen erwischt. Zwei ihrer Kinder sterben viel zu früh. Hans macht mehr und mehr Schulden. Der Schatten des Krieges wird ihn nie verlassen.

Und die Menschen in der Region, die verpflichtet sind, eine Hebamme zur Geburt zu bestellen, begehren dagegen auf und sehen in Stina keine richtige Hebamme, sie habe nicht die richtige Schule in Christiania besucht. Also macht sie sich auf, trotz der Kinder zuhause, um die sich Hans und ihre älteste Tochter kümmern, und zieht zu Fuß 600 Kilometer von Nesjestrand in die Hauptstadt, um die Ausbildung zu erhalten, die ihr Respekt und Einkommen bringen soll.

„Die Hebamme“ ist ein eindrucksvoller, aber auch schwermütiger Einblick in das Norwegen im 19. Jahrhundert, in das Leben und in das Leid seiner Familien. Hochemotional in seinen besten Momenten, aber leider zu oft auch zu nüchtern, zu sehr Chronik als Roman, zu oft mit kurzen Anekdoten gespickt, zu sehr mit Blick von außen als mit Fokus auf das Innere seiner Figuren.

Aber das Buch ist auch ein interessantes Portrait der Frauen dieser Zeit, besonders der Marta Kristine Andersdotter Flovik, der Hebammen-Stina, die 150 Jahre nach ihrem Tod ein würdiges literarisches Denkmal gesetzt bekommt. Von ihrem Ururenkel, den ihre Geschichte nicht los ließ, der nur wusste, was sein Vater ihm erzählen konnte: „Deine Ururgroßmutter, Marta Kristine«, sagte Vater, »ist nach Christiania gegangen, um Hebamme zu werden [...] dann ist sie wieder nach Hause gegangen und nicht weniger als fünfzig Jahre lang Hebamme gewesen.“

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Veröffentlicht am 12.10.2021

Vier Leben lang

Die letzten Romantiker
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Vier Geschwister, vier Leben. Die Skinners wachsen zu Beginn der 80er-Jahre in schwierigen Verhältnissen auf. Ihr Vater stirbt mit Anfang 30, ihre Mutter wird damit nicht fertig, leidet an Depressionen ...

Vier Geschwister, vier Leben. Die Skinners wachsen zu Beginn der 80er-Jahre in schwierigen Verhältnissen auf. Ihr Vater stirbt mit Anfang 30, ihre Mutter wird damit nicht fertig, leidet an Depressionen und verlässt ihr Zimmer für drei Jahre nur für das Nötigste. Die Kinder müssen das Leben alleine bewältigen und sich selbst auf die für sich abzeichnenden Lebenspfade begeben. Renee wird Ärztin, Caroline früh Mutter, Joe hat eine Zukunft als Baseball-Star vor sich und Fiona, die Hauptfigur in Tara Conklins „Die letzten Romantiker“, arbeitet bei einer NGO und schreibt einen feministischen Blog über ihre Sexualpartner.

Eine interessante, kurzweilige, manchmal tieftraurige Familiengeschichte über rund 100 Jahre, die insgesamt aber darunter leidet, dass die Autorin zu viel möchte. Die Figuren sind alle für sich durchaus spannend gezeichnet, aber dennoch bleiben manche Charaktere, manche Handlungen, gerade im Erwachsenenleben der vier Geschwister, zu unausgefüllt. Die letzten Jahre der Familie werden lediglich im Schnelldurchlauf erzählt, was zwar ein bekannter, aber häufig unbefriedigender Stil ist. Die Rahmenhandlung einer dystopischen, von Umwelteinflüssen stark in Mitleidenschaft gezogenen Zukunft hat für die Geschichte keinen Mehrwert, die charmante und interessante Verbindung zwischen der 102-jährigen Fiona im Jahr 2079 und der jungen Frau namens Luna bei ihrer Lesung hätte auch in einen kleineren, weniger aufgeladenen Rahmen ohne Stromausfälle und Soldaten gepasst.

Die letzten Romantiker ist ein gutes Buch, aber kein sehr gutes. Es ist unterhaltsam, es ist spannend und es ist mitfühlend, aber leider mit den genannten Punkten am Ende etwas unbefriedigend. Das Gute: Es ist alles in allem eine gute Grundlage für eine spannende Netflix Mini-Serie – die dann die Schwächen des Buches ausmerzen kann.

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Veröffentlicht am 17.07.2023

Zu wenig zu viel

Sylter Welle
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Max fährt nach Sylt. Ein paar Tage mit den Großeltern möchte er dort verbringen, so wie früher jeden Sommer. Bloß jetzt im Urlaubsbunker statt im Wohnwagen. Und auch sonst fällt ihm auf, wie sich seine ...

Max fährt nach Sylt. Ein paar Tage mit den Großeltern möchte er dort verbringen, so wie früher jeden Sommer. Bloß jetzt im Urlaubsbunker statt im Wohnwagen. Und auch sonst fällt ihm auf, wie sich seine Großeltern verändert haben – und wie wenig Zeit ihnen gemeinsam bleibt.

Eigentlich eine gute Story. Enkel-Großeltern-Beziehung, ein Urlaub auf Deutschlands teuerster Insel trotz Ommas Sparfuchsigkeit, Krankheiten – eine spannende Mischung für eine Geschichte. Bloß: All das nimmt vielleicht 30 der gut 220 Seiten ein. Der Rest: Rückblicke, Anekdoten, Zoten und Klischees. Immer, wenn Leßmann „droht“, tatsächlich in die Gegenwart, in die richtige Storyline einzuschwenken, macht er ein einen Schlenker wie ein Hase auf der Flucht, als wolle er die Wahrheit, das Ist verdrängen.

Wirklich kritisieren möchte ich das Erzählte nicht, zu unklar ist, ob es nun Biografie oder Autofiktion ist – der Kindstod der Tante und der Krebstod des Onkels, Opas Flucht im Krieg und der Konfessionskonflikt der Großeltern-Familien, die Streitigkeiten zwischen Omma und Mutter, die eigenen Depressionen. Bloß: Es ist zum einen zu viel, zum anderen ist die Geschichte auf Sylt, das Noch-mal-Zusammensein viel zu wenig, obwohl allein das wohl hunderte von Seiten füllen könnte.

Und das ist wirklich schade, denn wenn Omma sich bei ihrem Enkel einhakt und das Tempo bestimmt, ist das berührend und witzig. Und wenn Max seinen Oppa mit eingenässter Hose auf einer Inseltoilette findet und ihm seinen rosa Jogginganzug überlässt, ist auch das gleichzeitig herzzerreißend und amüsant, spätestens durch Ommas Nicht-Reaktion. Diese kleinen Szenen zeigen alle, was möglich gewesen wäre – für diese Geschichte, aber auch für Max Richard Leßmann als Autor.

So bleibt „Sylter Welle“ am Ende ein Roman, der sich schnell lesen lässt, aber nicht so viel Freude und Melancholie bereitet, wie er könnte, streckenweise auch mal nervt, wenn der Autor wieder einmal abdriftet, und doch irgendwie gut ist, aber halt auch nicht mehr. Er ist ein bisschen zu wenig und ein bisschen zu viel. Oder um es mit zwei Worten zu sagen, die ich beim lesen häufiger dachte: Ach Max!

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Veröffentlicht am 19.03.2024

Unterhaltsam, aber zu perfekt.

The Distance from me to you
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Drei Sterne für die Geschichte. "The Distance from me to you" ist kein zweites "Wild". Das ist auch nicht tragisch. Das eine ist die wahre Trail- und Lebensgeschichte der Autorin. Dieses hier ist ein Jugendbuch, ...

Drei Sterne für die Geschichte. "The Distance from me to you" ist kein zweites "Wild". Das ist auch nicht tragisch. Das eine ist die wahre Trail- und Lebensgeschichte der Autorin. Dieses hier ist ein Jugendbuch, bei der die fiktive Protagonistin nach dem Highschool-Abschluss ihren Rucksack packt und sich (eher trotzig als notgedrungen) alleine auf den Weg macht.

Der Weg, der Appalachian Trail von Maine nach Georgia, bleibt dabei leider blass und austauschbar. Ein paar Wegpunkte werden genannt, so richtig wichtig sind sie nicht. Kendra, die Hauptfigur, begegnet einem Bären und einem Elch, aber ansonsten könnte die Geschichte auch in Australien oder sogar auf einem verlängerten Rheinsteig spielen.

Trotzdem ist Kendras Wanderung unterhaltsam. Der erste Anstieg scheitert, dann kommt sie ins Rollen und trifft einen wunderlichen Jungen, der ganz andere Probleme als das perfekte Mädchen aus der fast perfekten Familie hat. Problematisch wird es erst, als er abseits des Trails wandern möchte - und sie ihm trotz aller Alarmglöckchen folgt.

Warum nur zwei Sterne für das Buch? Der Schreibstil ist ermüdend. Zu oft wird nach gedacht und diese Gedanken in kleine, um Verständis werbende Sätze aufgeteilt. Die Hauptfigur soll gemocht werden und dafür wird ständig getrommelt.

Fast noch schlimmer: Die Autorin scheut sich, die Protagonistin nackig zu machen und in wahre Abgründe zu blicken. Nicht wortwörtlich, ein paar mal legt Kendra ihre Klamotten beiseite und schaut abseits des Trails auch über eine Klippe. Aber im übertragenen Sinn macht sie es nicht.

Die Wanderung ist trotz des miesen Starts zu perfekt. Kendra bekommt keine Blasen (da sie ihre Schuhe brav eingelaufen hat), sie hat immer Proviant dabei, sie hat für alles und jeden Verständnis. Die einzigen kleinen Dramen: Ihr Lieblingsshirt ist irgendwann so verschwitzt und dreckig, dass es im Mülleimer landet und ihr Körper nach der Hälfte der Wanderung nicht so drahtig wie erhofft. Oh, und das iPhone ist kaputt.

Das mag natürlich alles einen Sinn verfolgen: Die Autorin möchte eine Hauptfigur, die alles alleine auf die Kette bekommt, die sich durch nichts aus der Ruhe bringen lässt. Als Vorbildfunktion für andere Mädchen, die nach der Schule ihren Rucksack packen wollen. Aber Vorbilder dürfen auch mal auf die Nase fallen, Pläne über den Haufen schmeißen, weinen. Sie müssen nicht immer stark sein. Und es ist etwas schwierig, dass sich Kendras Rolle genau dann ändert, als sie das macht, was man tunlichst lassen sollte - als sie den Trail verlässt.

Mit diesen warnenden Gedanken im Hinterkopf ist es aber ein durchaus unterhaltsames Buch. Eines, das Lust auf weitere großartige Wanderbücher macht. Wie "Picknick mit Bären", "Laufen. Essen. Schlafen." und natürlich "Wild". Und das motiviert, die Wanderstiefel zu schnüren und loszulaufen. Aber denkt immer dran: Es ist nicht immer alles perfekt. Auch nicht auf dem Trail.

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Veröffentlicht am 19.03.2024

Der SAT.1-FilmFilm

Der erste letzte Tag
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Man kann sich das so gut vorstellen: Matthias Schweighöfer, irgendwo zwischen halbseriös und üblich zerknautscht. Jella Haase, leicht angepunkt, aber aus gutem Hause. Ein klappriges Auto und zahlreiche ...

Man kann sich das so gut vorstellen: Matthias Schweighöfer, irgendwo zwischen halbseriös und üblich zerknautscht. Jella Haase, leicht angepunkt, aber aus gutem Hause. Ein klappriges Auto und zahlreiche Gastauftritte von Promis aus der Film-, Musik- und Wasauchimmerfürneunterhaltung-Branche. Und natürlich mit einem Gastauftritt von Sebastian Fitzek, hupend am Steuer eines Wohnmobils oder als Obdachloser im Luxushotel. Hauptsache augenzwinkernd.

Warum dieser leicht aufgebauschte Mix als Einleitung? So ist das Buch. Leicht aufgebauscht. Dezent ausgedrückt. Ehrlich gesagt: Fitzeks erster Nicht-Thriller strotzt nur so vor Kalauern und Flapsigkeiten, vor doppeläugigem Zwinkern, auf den Schenkel klopfen und mit dem Ellenbogen in die Seite stupsen. Ein Seht-her-ich-kann-auch-anders. Leider ist das furchtbar anstrengend. Und leider ist da furchtbar viel verschenktes Potenzial.

Okay, der Plot ist nicht neu, es gab da die auch viel zu lange, über mehrere Episoden gestreckte Marshall-und-die-fremde-Frau-Story bei How I Met Your Mother mit dem gleichen Kontext (noch gar nicht erwähnt, also: Es geht kein Flieger, es gibt nur noch einen Mietwagen, zwei sich unbekannte und grundverschiedene Leute teilen ihn sich und los geht die wilde Fahrt). Zwischen den Zeilen ist da aber mehr.

Die Geschichte von ihm, Livius, ist halbwegs uninteressant. Blasser Typ, Ehe im Eimer, Buchvertrag für langweiliges Sachbuch kurz vor dem Abschluss, joa. Sie ist deutlich geheimnisvoller: gutes Elternhaus, aneckende Attitüde, unberechenbar – und … nun, ohne zu spoilern, es gibt da eine Sache, die Livius und der Leser erst spät(er) erfahren.

Ich hab’s erwähnt, es ist furchtbar anstrengend, nervig, flach – der perfekte Mix für den nächsten SAT.1-FilmFilm und perfekt für Leute, die sowas mögen. Ehrlich, meine Meinung ist völlig subjektiv, es wird viele Leute geben, die das Buch mögen werden, die sich amüsieren, denen es beim Lesen anders geht bei mir. Das ist total in Ordnung. Für mich ein Stern und auf zum nächsten Buch. Dachte ich bis zum Ende. Oder besser: bis kurz davor.

Und jetzt wird’s schräg: Ich erhöhe auf zwei Sterne – immer noch nicht gut, aber hey. Und: Ich ärgere mich eigentlich noch mehr. Das Ende ist richtig gut. Ich habe Bücher gelesen, die ich super fand und deren Ende ich unnötig und doof fand, hier ist es genau umgekehrt. Das Ende hat genau die richtige Lautstärke, es ist leise, dezent, ohne blöde Witzchen, nicht konstruiert, es ist menschlich, es ist warm, es ist wirklich schön. Und dann sitze ich da und frage mich, warum nicht das ganze Buch in dieser Tonalität geschrieben ist.

Oder in drei Worten: Mensch, Fitzek, ey!

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