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Veröffentlicht am 01.07.2017

Wiese, Weide, Weide - und ein Leben im Westerwald

Was man von hier aus sehen kann
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"Wenn wir etwas anschauen, kann es aus unserer Sicht verschwinden, aber wenn wir nicht versuchen, es zu sehen, kann dieses etwas nicht verschwinden.“

Inhalt

Luise erzählt: von ihrem Freund aus Kindertagen, ...

"Wenn wir etwas anschauen, kann es aus unserer Sicht verschwinden, aber wenn wir nicht versuchen, es zu sehen, kann dieses etwas nicht verschwinden.“

Inhalt

Luise erzählt: von ihrem Freund aus Kindertagen, der auf dramatische Art und Weise ums Leben kam, von ihrer Großmutter Selma und deren absonderlicher Fähigkeit, den Tod in Form eines Okapis in nächtlichen Träumen vorauszusehen, vom Optiker, der ihre Großmutter liebt und unvollendete Briefe sammelt, von Elsbeth, Marlies, Herrn Rödder und dem buddhistischen Mönch Frederik. Und von ihrem Leben in einem kleinen Dorf im Westerwald, dessen Ausmaße nicht mehr ausmachen, als einen Waldrand, einen Bach, wenige Läden und die Uhlheck. Luise erzählt Banales und verpackt darin die Welt, sie schildert das Dorfleben im Alltäglichen und zeigt, wie es sich lebt, wenn man von Menschen umgeben ist, die alles andere als perfekt sind und dennoch so authentisch und notwendig, dass man sie im eigenen Leben nicht missen möchte. Luise beschreibt, wie wertvoll es ist, wenn man voll und ganz da ist, für sich selbst, für andere und für eine Gemeinschaft.

Meinung

Dieses Buch aus der Feder der deutschen Autorin Mariana Leky hat mich voll und ganz überzeugt und darüber hinaus noch überrascht. Selten habe ich ein Buch gelesen, in dem aus so wenig Handlung, so viel gemacht wurde. Denn im Nachhinein betrachtet, passiert in diesem Text nicht viel mehr als das ganz alltägliche, routinierte Leben, gespickt mit ein paar äußerst herkömmlichen Begebenheiten (Geburtstage, Hochzeiten, Todesfälle), die fast gar nichts besagen und lediglich einen Blick auf die Vergänglichkeit der Zeit offenbaren. Und doch habe ich jede Zeile dieses Romans genossen und so viel mehr zwischen den Zeilen entdeckt, als ich erwartet habe.

Zunächst einmal überzeugt der Roman mit einer gekonnt gewählten Erzählperspektive, die es ermöglicht auch die zahlreichen, kauzigen Nebencharaktere ins rechte Licht zu rücken. Trotz einer Vielzahl an Protagonisten fällt es dem Leser leicht, die einzelnen Personen auseinanderzuhalten und die Ereignisse aus Vergangenheit und Gegenwart in den richtigen Zusammenhang zu bringen. Die Dorfgemeinschaft wird aufs Beste charakterisiert und die Autorin legt großen Wert auf eine bewusste Rollenverteilung und eine klare Aussage bezüglich der geschaffenen menschlichen Charakterzüge. So findet man den bibelfesten Alkoholiker, dem das Leben den Inhalt raubte. Die abergläubische Frau mit dem Hang zu ausgefallener Garderobe und schlauen Lebensweisheiten, den pragmatischen Optiker, der immer präsent ist, wenn man ihn braucht, den Weltenbummler, der auf der Suche nach neuen Eindrücken seine Heimat immer wieder verlässt und sogar einen Hund, der mehrere Leben hintereinander lebt und den so schnell nichts aus der Bahn wirft. Dieses Zusammenspiel macht den Reiz des Buches aus, weil es ebenjene Menschen sind, die der Geschichte ihren Charme einhauchen.

Ausgesprochen gut gefallen hat mir auch die Emotionalität des Buches. Durchgehend humorvoll geschrieben mit sympathischen Witzeleien, ohne Klamauk und dann wieder vor allem im zweiten Teil des Romans mit tieftraurigen Begebenheiten, die mich zu Tränen gerührt haben und dennoch vollkommen ohne Kitsch und Klischee auskommen. Es sind auch diese kleinen Feinheiten, die Gefühlsregungen, die dieses Buch ausmachen, die tiefe Weisheiten vermitteln, die mich an die Vergangenheit und die Zukunft denken lassen und die eine Frage im Hintergrund formulieren, die da heißen könnte: „Was wird bleiben von Dir? Wem hast Du deine volle Aufmerksamkeit geschenkt? In wessen Leben warst Du anwesend? Und wie erinnerst Du dich an die wichtigen, prägenden Personen deiner eigenen kleinen Welt?

Fazit

Für mich war dieser Roman ein Lesehighlight, dem ich gerne 5 Sterne und eine besondere Auszeichnung verleihen möchte zum „Buch-der-alltäglichen-Besonderheit“. Eine schlichte, einfache Welt, die nur dadurch wirkt, wie sich die Menschen in ihr verhalten. Ein Buch ohne große Thematik, fast ohne Existenz einer Außenwelt, welches sich mit menschlichen Entscheidungen im Positiven wie im Negativen auseinandersetzt und von verpassten Chancen ebenso erzählt, wie von beeindruckenden Leistungen. Die Lektüre kommt ohne Politik, ohne Gott, ohne Glanz und Glamour aus und hinterlässt doch einen hellen Schein, der noch lange nachstrahlt. Absolute Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 15.06.2017

Überlebenskampf gewonnen, Zuversicht verloren

Herz auf Eis
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„Sie bleiben sitzen, einer vor dem anderen, vollkommen leer. Eine unwirkliche Stille hüllt sie ein. An diesem Abend rührt kein Wind an der Station und dem großen Haus, nur Stille, als wären sie nicht da, ...

„Sie bleiben sitzen, einer vor dem anderen, vollkommen leer. Eine unwirkliche Stille hüllt sie ein. An diesem Abend rührt kein Wind an der Station und dem großen Haus, nur Stille, als wären sie nicht da, als hätte die Insel sie bereits verschlungen.“

Inhalt

Ludovic und Louise wollen sich eine Auszeit gönnen und fahren mit ihrem Boot über die Weltmeere, um die unendliche Freiheit, die Urigkeit des Lebens vollends auszukosten, weitab jeder Zivilisation nur allein mit sich, ihrer Liebe und den Erfahrungen einer Weltreise. Als sie auf der Insel Stormness, die zu den Falklandinseln gehört haltmachen, ignorieren sie die Tatsache, dass es sich um Naturschutzgebiet handelt und ankern in einer Bucht. Eine alte,halbverfallene Beobachtungsstation dient ihnen als Obdach für die Nacht und sie erfreuen sich für wenige Stunden der Einzigartigkeit ihres Erlebnisses. Doch am nächsten Morgen erwartet sie eine bitterböse Überraschung, denn ihr Schiff ist verschwunden und nicht mehr auffindbar. Niemand weiß, wo genau sie sich befinden und die örtliche Witterung lässt es nicht zu, allzu lange dort zu verweilen. Es beginnt ein bitterer Kampf ums Überleben, geprägt von Hunger, Vorwürfen, Resignation aber auch gemeinsamer Hoffnung. Wird es ihnen gelingen, der Naturgewalt zu entkommen oder verlieren sie den ungleichen Kampf und ergeben sich den Weiten des Universums?

Meinung

Die französische Autorin Isabelle Autissier setzt mit ihrem Roman an einer sehr ungewöhnlichen Stelle an, an den Grundfesten des menschlichen Lebens, an primitiven Bedürfnissen und Verhandlungsweisen bar jeder Überlegung. Ihre geschaffene Extremsituation, die ein junges, verliebtes französisches Paar auf eine eisige, menschenlose Insel am Südpol verschlägt, bringt den Leser ebenso wie die Protagonisten mitten in ein menschliches Drama, aus dem es scheinbar kein Entrinnen gibt, außer dem sicheren Tod.

Besonders nennenswert empfinde ich die sachliche, objektive Erzählweise, die aus der dritten Person Singular ein facettenreiches Bild des Schreckens zeichnet. Die Autorin vermeidet es, eine Wertung zu fällen, sie umschifft die Klippen der Schuldfrage, sie verwischt auch die Konturen, die es normalerweise ermöglichen mit den Protagonisten nachzuempfinden, sich in ihr Schicksal einzuleben. Und doch gefällt mir diese distanzierte Beobachtung wesentlich besser als eine vielleicht vollkommen verzweifelte Ich-Erzählerin, die nur knapp dem Irrsinn Paroli bieten kann. Meine Lesestimmung war irgendwie zwischen immenser Spannung, tatsächlicher Abscheu und kopfschüttelnder Hilflosigkeit anzusiedeln.

Nach dem eigentlichen Showdown, war erst die Hälfte des Buches geschrieben und dann wechselt die Autorin in die Gegenwart, in eine Zeit, in der nichts mehr so ist, wie es war. In ein Szenario, geprägt von sensationssüchtigen Journalisten, vermarktungsfähigen Strategien – ganz so, wie man es auch im echten Leben erwarten würde. Aus der Stille wird nun ein Blitzlichtgewitter und die Medien stürzen sich wie die Aasgeier auf die Menschen hinter dem Drama. Schnell kommt es zu Fragen über Schuld, Reue und Verantwortung, noch schneller wird geurteilt und dennoch bleibt das Interesse an der Person nicht länger als ein Wimpernschlag erhalten. Was gestern die Massen bewegt hat, gerät heute schon in Vergessenheit. Auch diese Richtung der Geschichte hat mich sehr fasziniert, weil sie schonungslos ehrlich ist und den Bogen zwischen Unterlassung, Zweifeln und Aufbegehren spannt.

Fazit
Ich vergebe 5 Lesesterne für diesen bewegenden, ungewöhnlichen Erfahrungsroman, der bröckelnde Werte ebenso wie menschliches Versagen in das Zentrum der Geschichte bringt und den Leser sehr dankbar werden lässt für die Normalität seines alltäglichen Daseins. Eine Erzählung über Mut, Verlust, barbarisches Verhalten und das Zerbrechen einer intakten Liebesbeziehung, deren Existenz sich in den eisigen Wellen des Meeres verliert. Empfehlenswert für alle, die gerne anspruchsvolle Romane mit Tiefgang lesen und auch nach der Lektüre noch das Bedürfnis haben sich über das geschriebene Wort auszutauschen.



Veröffentlicht am 07.06.2017

Das Privileg der Schmetterlinge

Der Club
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„An diesem Morgen gab ich mir ein Versprechen, es schien mir wichtig, und eigentlich war es einfach: Ich werde nie wieder lügen.“

Inhalt

Nach dem Tod seiner Eltern wechselt Hans auf die Universität in ...

„An diesem Morgen gab ich mir ein Versprechen, es schien mir wichtig, und eigentlich war es einfach: Ich werde nie wieder lügen.“

Inhalt

Nach dem Tod seiner Eltern wechselt Hans auf die Universität in Cambridge und folgt damit einer Einladung seiner einzig verbleibenden Angehörigen, seiner Tante Alexandra. Ihr Verhältnis ist zwar leicht unterkühlt, doch die Ausbildung in altehrwürdigen Mauern erscheint dem jungen Mann durchaus reizvoll. Hinzu kommt die Möglichkeit den Boxclub der Schule aufzusuchen, sofern Hans zu dieser eingeschworenen Gemeinschaft Zutritt bekommt. Tante Alex gelingt es, mit Hilfe ihrer Studentin Charlotte, deren Vater ein alteingesessenes Mitglied ist, ihren Neffen in den legendären „Pitt Club“ unterzubringen. Schon bald erweist sich Hans als sehr guter Boxer und ebenbürdiges Mitglied der Gemeinschaft, findet Gleichgesinnte und feiert mondäne Partys. Doch bei all diesen gesellschaftlichen Verführungen vergisst er nicht, was sein eigentlicher Auftrag ist: Er soll ein Verbrechen aufdecken, welches schon einige Zeit zurückliegt und den Schuldigen wird er in den Reihen seiner neuen Freunde finden …

Meinung

Der 1985 geborene Autor Takis Würger ist selbst Boxer und Mitglied diverser Clubs an der Universität Cambridge, wie das Nachwort des Buches verrät. Und tatsächlich merkt man dem Roman eine gewisse Innerlichkeit und Kenntnis der örtlichen Rahmenbedingungen an. Gerade die Atmosphäre in den Clubs, die hippen Dinnerpartys, die vielen Drinks und die von Rauchschwaden geschwängerte Luft, Frauen die sich erfolgreichen Männern an den Hals werfen und Hinweise auf Intrigen und Absprachen die möglicherweise knapp an der Legalität vorbeischrammen, findet der Leser hier eindrucksvoll in Wort und Tat umgesetzt. Gerade dieser Aspekt konnte mich von dem Roman überzeugen, der sich auch gründlich und interessant mit der Boxermentalität, mit Begriffen wie Ehre, Freundschaft und Rückhalt beschäftigt. Insgesamt ein richtig gutes, rundes Buch, welches nicht nur eine Geschichte erzählt, sondern auch Kopfkino bietet.

Erzählt wird aus diversen Perspektiven, die gerade für den Leser einen Wissensvorsprung darstellen und ein sehr umfassendes Porträt liefern, welches durch die Erlebnisse der einzelnen Charaktere beschrieben wird. Opfer und Täter treffen sich auf der Bühne des Pitt Clubs oder an dessen verborgenen Hintertüren. Man spürt Wut, ebenso wie Rachgelüste, wie Gönnerhaftigkeit und Unschuldsbekundungen – Gewalt gibt es kaum und wenn, dann nur sehr endgültig und als scheinbar logische Folge eines geplanten Vorgangs.

Außerdem ist es dem Autor gelungen einen Roman zu schreiben, der kein klassischer Krimi ist und doch viele Parallelen aufweist. Gekonnt entsteht eine subtile Spannung hinter der man diverse Verbrechen vermutet, die man so genau gar nicht festmachen kann. Die Männer in sündhaft teuren Smokings verbergen mehr, als auf den ersten Blick ersichtlich ist. Und unter ihnen ein unbescholtener Hauptprotagonist, der ganz im Gegensatz zu anderen ehrenhafte Absichten hegt und nur im Sinne seines eigenen Gewissens handelt. Dadurch wird die Figur von Hans Stichler noch greifbarer und seine Position als Spion schwelt unter der Oberfläche. Werden die anderen entdecken, was er zu verbergen versucht?

Fazit

Ich vergebe 5 Lesesterne für diesen facettenreichen, anschaulichen Roman über einen Boxer und seine Rolle in einem Spiel, bei dem es um Gerechtigkeit, Aufklärung und Wiedergutmachung geht. Diese Lektüre präsentiert eine dichte Story auf relativ engem Raum und wirkt wunderbar ausgleichend, so dass man sich als Leser freuen kann, dem Schauspiel beizuwohnen und eigene Rückschlüsse auf menschliche Verhaltensweisen und unentschuldbare Fehler zu ziehen. Ein richtig kleines Juwel.

Veröffentlicht am 27.04.2017

Wirst du werden, wie sie es sich wünschen?

Was ich euch nicht erzählte
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„Man liebte so sehr und erhoffte so viel, und am Ende hatte man nichts. Kinder, die einen nicht länger brauchten. Einen Mann, der einen nicht mehr wollte. Nichts, nur man selbst und leeren Raum.“

Inhalt

Für ...

„Man liebte so sehr und erhoffte so viel, und am Ende hatte man nichts. Kinder, die einen nicht länger brauchten. Einen Mann, der einen nicht mehr wollte. Nichts, nur man selbst und leeren Raum.“

Inhalt

Für Familie Lee bricht mit dem ominösen Tod ihrer Tochter Lydia alles auseinander. Ihre einst so heile Welt, gerät in bedrohliche Schieflage, umso mehr, als sie begreifen müssen, dass ihr geliebtes Kind nicht etwa Opfer eines Gewaltverbrechens wurde, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit den Freitod gewählt hat. Lydia, war gerade einmal 16 Jahre alt und hatte noch ein verheißungsvolles Leben vor sich, stand kurz vor ihrem Schulabschluss und hätte auch bald die Fahrerlaubnis machen können. Marilyn und James, ihre Eltern versuchen zu rekonstruieren, was in ihrem Kind vor sich ging und müssen mit Erschrecken feststellen, dass sie sie überhaupt nicht kannten, dass Lydia weder Freunde hatte noch ein erfülltes Leben, obwohl sie seit Jahren all ihr elterliches Bemühen in dieses Mädchen gesteckt haben und darüber hinaus ihre beiden anderen Kinder immer mehr aus den Augen verloren haben …

Meinung

Dieser beklemmende Familienroman, der detailliert und perspektivenreich vom Verlust eines Kindes erzählt und dennoch so viel mehr ist als nur eine Erzählung über Liebe, Erziehung und Versäumnisse.

Gerade die abwechslungsreichen Handlungsschwerpunkte haben mich außerordentlich fasziniert, denn die junge Autorin Celeste Ng, setzt zahlreiche Akzente in ihrem Debütroman und verbindet eine menschliche Tragödie mit ebenso menschlichen Verhaltensweisen und absolut realistischen Einsichten. Es ist nicht nur ein Schrei nach Hilfe, der nicht gehört wird, es ist auch eine Auflehnung gegen die elterlichen Wünsche in jeder Generation und gleichermaßen eine Studie über die Entstehung von Liebe, den Verlust derselbigen und der bitteren Gewissheit, für jede Entscheidung, die man trifft eigenverantwortlich zu sein.

Die Erzählperspektive wechselt und alle Familienmitglieder sind mehr oder weniger Hauptprotagonisten, da immer ein anderer im Zentrum des jeweiligen Kapitels steht. Dadurch bekommt der Leser in gewisser Weise den Rund-um-Blick über die Familie Lee, über ihre Wünsche, Träume und Verfehlungen.

Während sich der Vater James, als Einwanderer mit chinesischen Wurzeln stets nur wünschte, ein Teil der Gemeinschaft zu sein und uneingeschränkt anerkannt zu werden, träumte die Mutter Marilyn den Traum einer Arztkarriere, die ihr als Frau mit drei Kindern verwehrt blieb. Lydia, die Tochter, die nie sie selbst sein durfte, weil alle Hoffnungen auf ihren Schultern lagen, sieht für ihr eigenes Selbst keine Zukunft, weil sie denkt, die elterliche Liebe beruht auf ihrem schulischen und außerschulischen Erfolg, den sie weder realisieren kann noch erreichen möchte. Nathan, der begabte Erstgeborene, der trotz seines Engagements und seiner klaren Zielvorstellungen weit hinter den Ansprüchen seiner Eltern zurückbleibt und auch Hannah, das Nesthäkchen, die stets nur die Lücke im System sucht und möglichst nie in Erscheinung tritt, weil sie ohnehin nicht wahrgenommen wird.

Und so zeigt uns die Autorin, wie schwer es ist, dem Glück und den Menschen, die man liebt gerecht zu werden, wenn man gerade als Elternpaar versucht, die eigenen Prämissen bei den Kindern zu setzen, ohne jemals hinterfragt zu haben, was diese im Laufe ihres Lebens für wichtig und entscheidend erachten.

Dieser unausgesprochene Gedanke, nimmt mich als Leser ungemein in die Verantwortung, weil er die ganz entscheidende Frage aufwirft, wie ausgeglichen und objektiv, dass eigene Empfinden über dem der Kinder steht. Sind es wirklich Talente, die man beim Nachwuchs entdeckt oder sind es verborgene Hoffnungen, für das eigene Missverhältnis? Wann beginnt Elternliebe gefährlich zu werden und wie gehe ich mit mehreren Kindern und ihrer vorgegebenen Geschwisterkonstellation um? Fragen, die mich während des Lesens bewegten, hallen immer noch nach und sprechen für den Tiefgang der Erzählung.

Fazit
Ich vergebe 5 Lesesterne für diesen intensiven, umfassenden Familienroman, der viele psychologische Überlegungen aufwirft und zielgerichtet mit diversen Charakterschwächen und Stärken jongliert. Die Autorin klagt nicht an, sie verurteilt nicht und wahrt bei dem Thema Elternliebe eine beneidenswerte Objektivität. Dennoch konnte ich nicht umhin, mich ganz persönlich angesprochen zu fühlen und zumindest für einen kurzen Moment zu überlegen, wie wertvoll und unabdingbar ein offener Dialog zwischen den Menschen einer Familie ist und welche Folgen es haben kann, sollte er fehlen. Absolut lesenswert!

Veröffentlicht am 06.04.2017

Der Soldat und das Mädchen

Heute leben wir
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„Damit das Spiel perfekt, das heißt ausgeglichen lief, mussten die Guten und die Bösen spiegelbildlich zueinander existieren. Es musste schlicht und einfach die Guten und die Bösen geben.“

Inhalt

Der ...

„Damit das Spiel perfekt, das heißt ausgeglichen lief, mussten die Guten und die Bösen spiegelbildlich zueinander existieren. Es musste schlicht und einfach die Guten und die Bösen geben.“

Inhalt

Der deutsche Soldat Matthias schlägt sich in den letzten Tagen des Krieges als ein getarnter amerikanischer Soldat der Mission „Greif“ durch und plant weitere Menschen zu töten, egal wie sinnlos seine Bemühungen auch sein mögen. Denn innerlich hat er längst mit den Idealen des Nationalsozialismus abgeschlossen, er ist sich sicher, dass Hitlerdeutschland seinem politischen Ende entgegenstrebt. Als ihm durch Zufall ein kleines, jüdisches Mädchen anvertraut wird, ändert sich für ihn von Grund auf alles. Er kann Renée, die mutige Jüdin mit dem durchdringenden Blick einfach nicht töten, sondern wählt stattdessen seinen Kameraden. Fortan ist er sich seiner Gefühle nicht mehr sicher, denn sein einst abgebrühter, automatisierter Tötungsmechanismus gerät ins Wanken und weicht zugunsten eines ungekannten Beschützerinstinktes. Er schreibt es sich auf die Fahne, das Mädchen irgendwie durch den Krieg zu bringen, ihr Überleben zu sichern und irgendwann von vorn anzufangen. Doch Matthias gerät in Gefahr, als ihn die Amerikaner als das entlarven, was er wirklich ist. Ein Soldat, der auf der falschen Seite steht und keineswegs überleben darf …

Meinung

Diese Romanvorlage der französischen Autorin Emmanuelle Pirotte wird bereits 2017 verfilmt. Sie verarbeitet in ihrem Debütroman die autobiografischen Erzählungen ihrer Großeltern, die im zweiten Weltkrieg selbst eine Jüdin vor den Deutschen versteckt hielten. Diese innere Beteiligung, die Identifikation mit dem Verlauf der Geschichte merkt man der Erzählung an.

Auf sehr ungewöhnliche und intensive Art und Weise setzt die Autorin eine zwischenmenschliche Beziehung in den Fokus der Erzählung und verpackt ganz nebenbei wichtige historische Fakten in der geschaffenen Rahmenhandlung. Dieser Aspekt hat mir ausgesprochen gut gefallen, denn anders als in klassischen Romanen deren Handlung sich mit dem Kriegsgeschehen beschäftigt, steht hier ein desillusionierter Soldat und sein Leben im Vordergrund. Es ist in erster Linie eine Charakterstudie über Entwurzelung, Einsamkeit und Lebensabkehr, die erst durch den menschlichen Faktor eine Änderung einschlägt und wieder Hoffnung schöpft. Hoffnung auf ein Leben abseits von Krieg, Zerstörung und Mangel, abseits von fragwürdigen politischen Überzeugungen und sinnlosen Vernichtungsmanövern.

Matthias ist ein Individualist, der nichts beschönigt, der einst aus eigener Überzeugung in die Kriegsmaschinerie Deutschlands eintrat und jahrelang zur Marionette des Bösen wurde, dennoch versinkt er weder in Selbstmitleid noch verspürt er Reue über seine tödlichen Handlungen. Vielmehr überdenkt er seine Aktionen und stellt alles unter ein lobenswertes persönliches Ziel: die Rettung einer unschuldigen Seele. Der Leser erlebt die Beziehung zwischen Matthias und Renée als faszinierend anders, seltsam intensiv und nur intuitiv greifbar, denn das Geheimnis, warum der Soldat gerade dieses kleine Mädchen verschont, bleibt im Ungewissen.

Auch die Nebenfiguren, die in der Geschichte verankert sind, bekommen eine gewichtige Ausprägung. Menschen, denen ihre Rechte genommen wurden, die aber dennoch charakterstark und ausdauernd für ihr persönliches Umfeld eintreten. Menschen, die sich ferngehalten haben vom System Hitler und seinen bösartigen Auswüchsen und die nichts weiter wollen, als ihren Frieden auf Erden. Menschen, die den Leser mit ihren Ansichten überzeugen, weil sie konsequent und ehrbar handeln.

Fazit

Ich vergebe 5 Lesesterne für diesen intensiven, spannenden Roman, der historische Fakten und psychologische Überlegungen gekonnt vereint. Eine Erzählung, die den Leser gefangen nimmt und immer etwas mysteriös bleibt. Gerade so als könne man nicht jeden Menschen einschätzen, weil es zu viele Unbekannte in seinem Charakterbild gibt. Lobenswert finde ich hier auch die sachliche Erzählweise, der es trotz der geschilderten Untaten gelingt, immer objektiv und nicht wertend aufzutreten. Ein Roman, der nicht mit den Emotionen des Lesers spielt und diese dennoch herausfordert.