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Veröffentlicht am 28.05.2025

Der Untergang des Hauses Coker

Nacht über Soho
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Es ist das Jahr 1926, die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg und das Sterben in den Schützengräben Flanderns ist noch frisch. Doch in den Clubs von Soho wird gekokst, getanzt und amüsiert, als gäbe es ...

Es ist das Jahr 1926, die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg und das Sterben in den Schützengräben Flanderns ist noch frisch. Doch in den Clubs von Soho wird gekokst, getanzt und amüsiert, als gäbe es kein Morgen. Halbwelt mischt sich mit Geldadel und Aristokratie, Pelz mit Pailletten. Hier ist Nellie Coker, frisch aus dem Gefängnis entlassen, die Königin der Clubs. Sechs Nachtklubs gehören zu ihrem Soho-Imperium, doch in der Abwesenheit der Matriarchin haben sich Konkurrenten bereits in Aufstellung gebracht. Eine feindliche Übernahme droht, und vielleicht der Untergang des Hauses Coker - denn Nelies sechs Kinder mischen zwar bereits im Geschäft mit, können aber größtenteils nicht mit dem Geschäftssinn und den eisernen Ellbogen ihrer Mutter mithalten.

Das ist die Szenerie in Kate Atkinsons historischem Roman "Nacht über Soho", der die glitzernden 1920-er Jahre zum Leben erweckt. Wäre es ein Berlin-Roman der gleichen Zeit, würde vielleicht noir-Stimmung dominieren, doch Atkinson erzählt auch Ernstes mit leichter Hand, einem gewissen Understatement und einer Prise Ironie. Britannia Cool statt deutscher Schwere gewissermaßen.

Kontrahenten hat Nellie Choker nicht nur in der Halb- und Unterwelt. Scotland Yard Detective Frobisher will ihr das Handwerk legen, gleichzeitig aber auch den Korruptionssumpf des örtlichen Polizeireviers trocken legen. Unerwartete Hilfe erhält er von einer Bibliothekarin aus York, die in die Großstadt gekommen ist, um zwei 14-jährige Ausreißerinnen zu finden, die von Bühnenruhm träumen und nur allzu schnell die Schattenseiten der Glitzermetropole kennenlernen. Dass die unscheinbare Bibliothekarin aus der Provinz nicht zu unterschätzen ist, stellt auch Cokers ältester Sohn schnell fest. Die junge Frau, die als Krankenschwester das Sterben im Ersten Weltkrieg miterlebte, hat eiserne Nerven und kann Krisensituationen bestens meistern.

Auch wenn es um verschiedene Verbrechen geht, ist "Nacht über Soho" eher Gesellschaftsroman und Porträt einer Ära als ein Kriminalroman. Die Clubs von Soho sind ein Ort von Selbstdarstellung und Lebenslust, aber auch eine Scheinwelt verlorener Illusionen und brutaler Gier. Spannende Unterhaltung ist hier mit überzeugendem Zeitkolorit kombiniert.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 27.05.2025

Whistleblower und Enthüllungen

Die Tesla-Files
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Als die Journalisten Sönke Iwersen und Michael Verfürden vom Investigativteam des Handelsblatts von einem zunächst anonymen Whistleblower kontaktiert wurden, ahnten sie noch nicht, dass der Gegenstand ...

Als die Journalisten Sönke Iwersen und Michael Verfürden vom Investigativteam des Handelsblatts von einem zunächst anonymen Whistleblower kontaktiert wurden, ahnten sie noch nicht, dass der Gegenstand ihrer Recherche in nur wenigen Jahren ganz dicht an den Schaltstellen der Macht sein würde. Doch Tesla-Chef Elon Musk war bereits zu diesem Zeitpunkt eine schillernde Figur. In ihrem Buch "Die Tesla-Files" schildern die beiden Journalisten die damalige Recherche - zunächst das ungläubige Staunen, wie sorglos bei Tesla anscheinend der Umgang mit sensiblen Daten gehandhabt wurde.

Zunächst waren sie skeptisch - die Unterlagen waren schließlich fast zu gut, um wahr zu sein. Auch die Rechtsabteilung sah den möglichen Fallout als bedrohlich an - was, wenn ein Schadensersatzprozess vor US-Gerichten drohen könnte? Die Reporter, die Zeitung, der Verlag mussten sich absichern, verifizieren, weitere Quellen finden, ehe der erste Artikel erscheinen konnte.

"Die Tesla Files" ist spannende Lektüre für alle, die auch "all the president´s men" zum Watergate-Skandal mochten, minur "Deep Throat" in der Tiefgarage. Zugleich beschreiben sie das langwierige Abklopfen, die vielen Hintergrundgespräche, die vor dem ersten Artikel standen. Daneben geht es auch immer wieder um die Biografie Musks, seine Unternehmen, seine Frauen, seine teils bizarren Auftritte.

"Die Tesla Files" ist nicht nur ein Buch über einen journalistischen Scoop, es nimmt auch einiges von dem vorweg, was Musk in den vergangenen Monaten im Weißen Haus brachial umsetzte. Sein Management- und Führungsstil, eine toxische Unternehmenskultur und ein monströses Ego offenbaren sich aus den ausgewerteten Daten, den Gesprächen mit Kunden, Mitarbeitern, Gewerkschaftern. Die Gier nach immer mehr Macht zeichnet sich dabei schon früh in Musks Biografie ab.

Mittlerweile scheint Musk in Weißen Haus keine größere Rolle mehr zu spielen. Angesichts der erratischen Verhältnisse in der Trump-Administration ist das sicherlich keine Gewissheit, dass Musk sich nun nur noch auf seine Unternehmen konzentriert. Beim Lesen von "Die Tesla-Files" wird das Phänomen Musk klarer, zugleich ist das Buch ein spannender Einblick in Investigativjournalismus.

Veröffentlicht am 26.05.2025

Familien- und Fluchtgeschichte

Wir Ostpreußen
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Wie lange hallt Vergangenheit, insbesondere ein Trauma aus der Vergangenheit, nach? Vor allem dann, wenn noch lebendige Erinnerung an unmittelbar Betroffene vorhanden ist, erhält sie sicher eine persönliche ...

Wie lange hallt Vergangenheit, insbesondere ein Trauma aus der Vergangenheit, nach? Vor allem dann, wenn noch lebendige Erinnerung an unmittelbar Betroffene vorhanden ist, erhält sie sicher eine persönliche Note. Das ist mir beim Lesen von "Wir Ostpreußen" von Jochen Buchsteiner deutlich geworden. Das Buch ist sowohl eine Familiengeschichte als auch die Geschichte der Flucht mit einem Treck aus Ostpreußen, über das Haff, beispielhaft für das Schicksal von 14 Millionen Menschen aus den früheren deutschen Ostgebieten am Ende des Zweiten Weltkrieges und in den Jahren danach.

Buchsteiners Großmutter, die aus einer Gutsbesitzerfamilie stammte, hatte kurz vor ihrem 90. Geburtstag die Geschichte ihrer Flucht für die Enkel aufgeschrieben - Jahre später machte sich Buchsteiner zusammen mit seinem Vater und seinem ältesten Sohn selbst auf den Weg, diese verlorene Heimat kennenzulernen und auf umgekehrtem Weg der Route der Großmutter zu folgen. Gleichzeitig erzählt er die Lebensgeschichte seiner Großeltern und die Wurzeln der Familie. Es ist ein persönlicher Blick, mit manchem Sentiment, aber unsentimental.

Nicht alles, was er sehen wollte, war erreichbar: Das historische Ostpreußen gehört mittlerweile teils zur russischen Exklave Kaliningrad - das frühere Königsberg, andere Teile sind heute polnisch oder litauisch. Und während eine Reise in die EU-Staaten Polen und Litauen unproblematisch ist, ist ein Besuch im russischen Gebiet auch schon vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine mit viel komplizierter Bürokratie verbunden. Insofern ist mancher Sehnsuchtsort für Buchsteiner unerreichbar.

Und ein Sehnsuchtsort ist Ostpreußen für den Autor wohl bis in die Gegenwart - nicht im Sinne revanchistischer Ansprüche, sondern in einem verklärten Bild eines geheimnisvollen Landes voller Schönheit, mit einem weiten Himmel und ländlicher Idylle. Das ist vielleicht auch der Herkunft geschuldet. Das Leben einer Gutsbesitzerfamilie sah anders aus als das ihrer Landarbeiter, oder eines schlesischen Bauern oder der Stahlarbeiter oder Bergleute in Oberschlesien. Für die einen war die Fallhöhe besonders groß, weil sie viel mehr Wohlstand und angenehmen Lebensstil zu verlieren hatten, aber am Ende waren sie alle entwurzelt und als Flüchtlinge in einem zerstörten Land, in dem sie nicht unbedingt als willkommene Landleute galten.

Dass die Geschichte weitergegangen ist, ist bei der Reise der Erinnerung für den Autor mitunter bedauerlich: Statt ländlicher Alleen eine Schnellstraße, riesige Werbeplakate am Straßenrand, Fertighaussiedlungen und Verkehrskreuze. "Polen umarmt das Neue mit der grimmigen Entschlossenheit des Erben, der Abstand zur Vergangenheit schaffen will", schreibt Buchsteiner, sehnt sich ein bißchen nach dem schäbigen Idyll, das Ralph Giordano bei einer Jahre 30 Jahre zuvor beschrieb, "Etwas Banales hat sich eingeschlichen, die Banalität der Globalisierung, die man mit dem mythischen Ostpreußen nicht recht in Verbindung bringen will."

Das erinnert an die Enttäuschung der Nachkommen deutscher Auswanderer, die Deutschland nur aus Familienüberlieferungen kennen und bei einem Besuch erstaunt sind, statt der erwarteten Fachwerkidylle ein ganz anderes und deutlich internationaleres Land vorzufinden. Gespräche mit den heutigen Einwohnern bleiben an der Oberfläche, oder scheinen der Beschreibung zufolge ein wenig verkrampft. Insofern bleibt es ein deutscher Blick auf Ostpreußen. Schade eigentlich, denn in den vergangenen 20 bis 30 Jahren haben sich in Polen viele Initiativen in den Gebieten gegründet, die "poniemieckie" sind, wo früher Deutsche lebten. Und junge Menschen, die dort längst ihre Wurzeln haben, arbeiten die Geschichte über das Erbe derjenigen auf, die dort einst lebten.

Veröffentlicht am 15.05.2025

Das Schicksal steht in den Sternen - oder doch nicht?

Stars
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Von Hegel, Kant oder Schopenhauer hat sich Carla Mittmann seit ihrem Philosophiestudium weit entfernt. Statt akademischer Weihen und Kritik der reinen Vernunft bestimmt die Abwicklung von Möbelbestellungen ...

Von Hegel, Kant oder Schopenhauer hat sich Carla Mittmann seit ihrem Philosophiestudium weit entfernt. Statt akademischer Weihen und Kritik der reinen Vernunft bestimmt die Abwicklung von Möbelbestellungen für Behörden ihr Dasein. Akademisches Prekariat eben, Leserinnen mit einem geisteswissenschaftlichem Abschluss werden bei der Lektüre von Katja Kullmanns Roman "Stars" wissend nicken, jedenfalls wenn ihr Studium ebenfalls in eine Zeit viel, in der auf dem Arbeitsmarkt nicht verzweifelt nach jungen Menschen gesucht wurde.

Die Horoskop-Webseite, die Carla betreibt, ist ein Überbleibsel eines Studienprojekts, eine on-off-Sache und kleiner Nebenverdienst. Sie hat sich eingerichtet in einem Alltag, der ausgesprochen unspektakulär ist. Für ihren Job ist sie überqualifiziert, aber immerhin, die Kolleginnen sind nett. Und den rechten Schwung für Veränderungen hat sie eh nicht, bis es zu einem nächtlichen Zwischenfall vor ihrer Zweizimmerwohnung in bescheidener Nachbarschaft kommt: Ein Stein fliegt durch ihr Schlafzimmerfenster, auf den Bürgersteig wurde die Botschaft "Freiheit für Carla Mittmann" gesprüht und vor ihrer Wohnungstür ist ein Karton mit 10.000 Dollar.

Carla weiß nicht, was sie davon halten soll, doch sie beschließt, etwas an ihrem Leben zu ändern. Sie sorgt für ein neues Branding ihrer Horoskopseite, präsentiert sich als Astrophilosophin mit internationaler Erfahrung, kündigt den Job im Möbelhaus. Und siehe da: Mit einer gut vernetzten High Society-Klientin nimmt ihr Astro-Service Fahrt auf. Clara erzielt Einnahmen, von denen sie nicht zu träumen gewagt hätte. Per aspera ad astra, gewissermaßen. Fernsehsendungen, Zeitschriftenartikel und ein wachsender Kundenkreis - und mittendrin Clara zwischen Selbstzweifeln und neuen Überzeugungen. Ist sie eigentlich ein Art Hochstaplerin, oder haben die Sterne ihr tatsächlich etwas zu sagen? Ist ihr das Schicksal samt vergleichsweise spätem Erfolg durch die Sterne vorbestimmt gewesen?

Kullmann erzählt locker und folgt dem Aufstieg ihrer Protagonistin, die als Ich-Erzählerin durch das Geschehen führt, mit Humor und einem Schuss Ironie. Die Pointe am Schluss sorgt dann noch einmal für einen gelungenen Abschlusspunkt.

Für Leser
innen, die Katja Kullmanns Sachbücher kennen, ist "Stars" sicherlich überraschend und ganz anders als ihre Bücher über Feminismus, Frauenrollen und Gesellschaft. Die Unterhaltung ist aber auch hier mit klugen Beobachtungen gewürzt.

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Veröffentlicht am 13.05.2025

Churchills Geheimnisse am Gardasee

Was am Ufer lauert
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Mit "Was am Ufer lauert" schickt Lenz Koppelstätter, bisher vor allem für seine Südtirol-Krimis bekannt, zum zweiten Mal die Polizeireporterin Gianna Pitti am Gardasee auf Ermittlungen. Hatte der erste ...

Mit "Was am Ufer lauert" schickt Lenz Koppelstätter, bisher vor allem für seine Südtirol-Krimis bekannt, zum zweiten Mal die Polizeireporterin Gianna Pitti am Gardasee auf Ermittlungen. Hatte der erste Band der Reihe angesichts der Einführung mehrerer Handlungsträger noch einige Längen, geht es nun mehr zur Sache. Nachdem ihr totgeglaubter Vater, ein Investigativjournalist, wieder aufgetaucht ist, deutet alles auf eine Vater-Tochter-Kooperation hin. Doch das Treffen mit einem Informanten am Seeufer gerät anders als gedacht: Gianna findet eine tote Frau und eine leere CD-Hülle. Später ist die Leiche sogar verschwunden. Und auch sonst gibt es manche gefährliche Situation.

Ist Gianna zunächst eher ahnungslos zu dem Treffen gestartet, kommen nach und nach mehr Informationen: Es geht um möglicherweise brisante Informationen, die auch die britische Geschichte umschreiben könnten. Winston Churchill verbrachte in den 1920-er und 30-er Jahren immer wieder seinen Urlaub am Gardasee und soll in jenen Jahren unter anderem Briefe an Mussolini geschrieben haben. War der eiserne Premierminister, der seine Landsleute auf den Krieg gegen Nazi-Deutschland eingeschworen hatte, etwa zumindest zeitweise ein heimlicher Faschist?

Es gibt sogar Verbindungen in die eigene Familie, denn Giannas Urgroßvater traf der Familiengeschichte zufolge öfter mit Churchill zusammen. Giannas Onkel, der Marquese, stürzt sich in die Familienarchive, während Gianna zum ersten Mal gemeinsam mit ihrem Vater recherchiert. Ihre eigentliche Chefin sieht es mit gemischten Gefühlen, ist Gianna doch ihre beste Reporterin. Das Verschwinden eines britischen Historikers und Churchill-Experten sind ein weiterer Hinweis, dass die Geister der Vergangenheit höchst lebendig sind und heftige Reaktionen in der Gegenwart hervorrufen.

Bei all ihren Unterschieden und gelegentlichen Kontroversen ziehen die Pittis an einem Strang, um die Wahrheit herauszufinden. Das ist spannend zu lesen und spart nicht mit viel Lokalkolorit. Daneben thematisiert Koppelstätter auch ein höchst aktuelles Thema, den Niedergang der traditionellen Zeitung, die angesichts kostenloser Onlineangebote plötzlich aus der Zeit gefallen scheint. Das wird eine Herausforderung ganz anderer Art für Gianna werden, wie sich am Ende herausstellt. Wobei die Darstellung ihrer Chefin, die mit Mitte 40 keine Ahnung von neuen Medien zu haben scheint, im modernen Medienbetrieb nicht wirklich realistisch sein dürfte - da hat der Autor wohl ein paar Vorurteile gegen Frauen und Technik.

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