Platzhalter für Profilbild

Annis22

Lesejury Star
offline

Annis22 ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Annis22 über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 05.06.2025

Ausbruch aus patriarchalen und traditionellen Zwängen

Evil Eye
0

Yara ist glücklich. Sie hat einen Mann, zwei wunderbare Töchter und einen erfüllenden Job. Sie wollte es stets anders machen als ihre palästinensischen Vorfahrinnen und das ist ihr auch gelungen - denkt ...

Yara ist glücklich. Sie hat einen Mann, zwei wunderbare Töchter und einen erfüllenden Job. Sie wollte es stets anders machen als ihre palästinensischen Vorfahrinnen und das ist ihr auch gelungen - denkt sie.
Als sie nach einem Vorfall psychologische Beratung in Anspruch nehmen muss, offenbart sie Stück für Stück ihr Innenleben und stellt fest, dass sie genauso in patriarchalen Zwängen gefangen ist wie schon ihre Mutter und Großmutter.

“Evil Eye” ist ein Roman, der sich mit patriarchalen Strukturen in der westlichen Welt, aber auch mit denen im Nahen Osten auseinandersetzt. Wir haben eine Protagonistin, die denkt, sich von ihrer Vergangenheit befreit zu haben, jedoch immer noch tief in den Strukturen gefangen ist - ohne es zu merken.
Neben diesem Konflikt gibt es einen weiteren: Die innere Zerrissenheit Yaras. Denn sie fühlt sich weder Palästina zugehörig - wie ihre Eltern und Großeltern -, noch den USA, wo sie geboren wurde.
Von diesen beiden inneren Konflikten weiß Yara zunächst gar nicht, bzw. sie will nichts davon wissen und verdrängt jegliche negative Gefühle lieber. Doch es kommt zu Wutausbrüchen und verzweifelten Überreaktionen. Als sie sich im Rahmen einer psychotherapeutischen Behandlung mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen muss, werden Traumata zutage gefördert, die tief in ihr verwurzelt waren.
Etaf Rum hat mit Yara eine Protagonistin geschaffen, mit der ich unglaublich gut mitfühlen konnte, obwohl wir nicht viel gemeinsam haben. Obwohl ich viele Probleme und Sorgen nicht kenne, fühlte es sich beim Lesen an, als seien es meine eigenen. Ich bin ihr also gerne durch die 400 Seiten des Romans gefolgt und habe bereitwillig ihre Perspektive eingenommen.
Außerdem fand ich es spannend, die Traditionen und Geschichten ihrer Vorfahrinnen kennenzulernen und zu sehen, welchen Einfluss sie auf Generationen von Frauen hatten. Interessant ist hierbei, dass Yara zwar einerseits als Cycle Breakerin fungieren möchte, andererseits lernen muss, ihre Vergangenheit und die der palästinensischen Kultur anzunehmen.
Es gibt also keine einfache, allgemeingültige Lösung, sondern eine individuelle, menschliche.
Sehr berührt haben mich auch die Beschreibungen, in denen Yara anfängt, sich in ihre eigene Mutter hineinzufühlen, von den Vorwürfen zu Verständnis wechselt und ihr verzeihen kann.

“Evil Eye” ist ein Roman, der mir eine neue Perspektive ermöglicht hat. Ein Roman über Selbstermächtigung, den Ausbruch aus patriarchalen und traditionellen Strukturen und dem Versöhnen mit der Vergangenheit. ⭐️4/5⭐️

*Übersetzt von Heike Reissig



  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 03.06.2025

Die andere Seite der Mutterschaft

Der Verdacht
0

Als Mutter muss man seine Kinder lieben, oder?
Was, wenn es nicht so ist?
Und was, wenn man sein Kind für das Schrecklichste verantwortlich macht, was einem je passiert ist?

“Der Verdacht” beschäftigt ...

Als Mutter muss man seine Kinder lieben, oder?
Was, wenn es nicht so ist?
Und was, wenn man sein Kind für das Schrecklichste verantwortlich macht, was einem je passiert ist?

“Der Verdacht” beschäftigt sich mit einer Mutter, die erst voller Vorfreude auf ihr perfektes Familienglück ist und mit der Geburt von Panik ergriffen wird. Sie kann keine Liebe empfinden für das kleine Wesen, das unaufhörlich schreit, kämpft noch mit den Strapazen des Wochenbetts und fürchtet gleichzeitig, eine ebenso abwesende Mutter wie ihre eigene zu sein.
Von Anfang an hat sie das Gefühl, ihre Tochter kann sie nicht leiden und fragt sich, ob das auf Gegenseitigkeit beruht.
Viele Unsicherheiten und anfängliche Zweifel konnte ich gut nachempfinden und so schafft die Autorin eine interessante Mischung aus Verbundenheit und Distanziertheit zur Protagonistin.
Ungewöhnlich ist auch der Erzählstil, denn der Roman ist in Briefform geschrieben und spricht den (Ex-)Mann der Protagonistin direkt an. So erfahren wir die Sicht der Mutter selbst und fragen uns ständig, wie glaubwürdig die Erzählerin ist. Die so gesäten Zweifel bestehen bis zum Schluss.
Zwischendurch tauchen immer wieder Kapitel auf, welche die Generationen von Müttern vor der Protagonistin beleuchten und zeigen auf, wie sich die fehlende Fürsorge zum eigenen Nachwuchs durch den gesamten Stammbaum zieht.

Der Roman behandelt viele Themen, beschäftigt sich aber insbesondere mit der Frage, ob jemand böse geboren werden kann oder ob unsere elterlichen Projektionen einen Menschen zu dem formen, der er ist.

Ich konnte ihn kaum aus der Hand legen und wurde voll und ganz von der unterschwelligen Spannung eingenommen. Das Ende ist halboffen, die oben genannte Frage bleibt unbeantwortet und lässt einen etwas unbefriedigt zurück. ⭐️4/5⭐️

*Übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 20.05.2025

Fesselnd und bewegend

Unerhörte Stimmen
0

Leila wurde ermordet.
In ihren letzten Momenten lässt sie ihr Leben Revue passieren.
Jahrzehntelang war sie Prostituierte und damit gehörte sie zu einer Minderheit, den unerhörten Stimmen der Türkei.

Leilas ...

Leila wurde ermordet.
In ihren letzten Momenten lässt sie ihr Leben Revue passieren.
Jahrzehntelang war sie Prostituierte und damit gehörte sie zu einer Minderheit, den unerhörten Stimmen der Türkei.

Leilas Reise beginnt 1947 in einem abgeschiedenen Dorf Ostanatoliens, hier herrschen Gottesfurcht und (aus unserer Sicht) absurde Traditionen vor. Sie erlebt Unterdrückung, Missbrauch und wird erdrückt vom Wunsch des Vaters nach einem Sohn. Die zwei Ehefrauen des Vaters sind beide unglücklich, eine kann keine Kinder bekommen, die andere erleidet eine Fehlgeburt nach der nächsten.
Die Ungerechtigkeiten machen dabei extrem wütend, das ganze Familiengefüge ist enorm deprimierend und man macht innere Freudensprünge, als Leila ihrem Zuhause entflieht und in die große, bunte Stadt Istanbul kommt.
Doch der erwartete Wandel bleibt aus, auch hier wartet Schreckliches auf das junge Mädchen: Sie wird verkauft, muss sich von nun an prostituieren, gehört nun zu den Geächteten des Landes. Doch sie ist nicht die einzige Außenseiterin und mit den Jahren findet sie fünf außergewöhnliche Freundinnen, die das Leben lebenswert machen.
Ich bin Leila unheimlich gerne auf Ihrem Lebensweg gefolgt. Trotz all der Grausamkeiten lässt sie sich nicht kleinkriegen, behält stets ihr großes Herz und ihren Humor und steht für sich und ihre Liebsten ein. Elif Shafaks Schreibstil ist dabei sehr locker und pointiert, jedes Erinnerungsfragment Leilas sehr themenschwer und fesselnd, sodass man gar nicht merkt, dass mehrere hundert Seiten bis zur Ermordung 1990 vergehen.
Den kürzeren Teil danach fand ich etwas schwächer. Hier liegt der Fokus auf den zurückgebliebenen Freund
innen, den anderen “unerhörten Stimmen”. Wir lernen sie etwas besser kennen, auch mit ihnen meinte das Schicksal es nicht gut. Man merkt aber, wie die Kraft der Freundschaft sie durchs Leben trägt und wie wertvoll diese ist. Sie schmieden einen Plan, um Leila ein angemessenes Begräbnis zu schaffen. Die Schilderungen dessen waren mir persönlich zu slapstickartig und schwach, es passte absolut nicht zu der vorangegangenen Stimmung.

Dennoch habe ich “Unerhörte Stimmen” wahnsinnig gerne gelesen, habe die Protagonistin ins Herz geschlossen und ihren Lebensweg mit angehaltenem Atem verfolgt und dabei viel über die Türkei, ihre Politik und ihre Traditionen im letzten Jahrhundert gelernt. ⭐️4/5⭐️

*Übersetzt von Michaela Grabinger

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 15.05.2025

Unterschwellige Spannung bis zum Schluss

In ihrem Haus
0

1961, in einer niederländischen Provinz: Isabel lebt allein in dem großen Haus, in dem sich seit ihrer Kindheit nichts verändert hat.
Dann zieht die Freundin ihres Bruders vorübergehend ein und mit ihr ...

1961, in einer niederländischen Provinz: Isabel lebt allein in dem großen Haus, in dem sich seit ihrer Kindheit nichts verändert hat.
Dann zieht die Freundin ihres Bruders vorübergehend ein und mit ihr Isabels Misstrauen.
Denn es verschwinden immer mehr Gegenstände aus dem Haus und Eva verhält sich immer seltsamer.

“In ihrem Haus” erzählt die Geschichte zweier Figuren, die nicht wirklich sympathisch sind, deren Gefühlswelten dennoch mit voller Wucht auf die Lesenden projiziert werden. Es ist ein Buch, über dessen Inhalt man am besten so wenig wie möglich liest (selbst der Klappentext verrät zu viel), denn die ersten zwei Drittel leben von der unterschwellige Spannung, bei der man sich gemeinsam mit Isabel ständig fragt, was ihre Schwägerin in spe eigentlich vorhat und dutzende Theorien aufstellt. Warum ist sie so interessiert an Isabel, die selbst stets abweisend reagiert? Warum wollte sie unbedingt in diesem Haus leben? Wohin verschwinden die ganzen Gegenstände?
Ich wusste lange überhaupt nicht, wohin die Handlung führt und genau deshalb hatte das Buch eine unheimlich starke Sogwirkung auf mich.
Auch nach dem ersten Twist rätselt man weiter, woher Isabels Wut und Evas Albträume kommen, denn beide scheinen ihre Geheimnisse zu haben.
Yael van der Wouden schafft es, nicht nur für Spannung, sondern auch für jede Menge Emotionen zu sorgen. Man fühlt sehr intensiv mit den Protagonistinnen mit, was auch an den lebendigen Dialogen liegt (wobei das Nicht-Beenden der Sätze hierbei irgendwann sehr überstrapaziert wurde). Ihr kennt das Gefühl, einen Raum zu betreten, in dem zuvor gestritten wurde? Diese greifbare Anspannung in der Luft? Genau diese unentrinnbare Stimmung erzeugt die Autorin nur mithilfe von Worten.
“In ihrem Haus” ist ein Roman über Rache, Vergebung und Liebe. Ein Roman über Familie und das Klammern an Kindheitserinnerungen, über Glück und Verlust. Und zu guter Letzt setzt er sich mit der NS-Zeit in den Niederlanden auseinander. Ich konnte ihn kaum aus der Hand legen und bin nur so durch die Zeilen geflogen. ⭐️4/5⭐️

Dennoch habe ich einen Kritikpunkt, der allerdings SPOILER enthält:
Die Liebesbeziehung zwischen Isabel und Eva weckt zwar viele Emotionen bei den Leser:innen und die ambivalenten Gefühle sind toll beschrieben, dennoch trägt die Autorin teilweise etwas zu dick auf. Gerade am Ende ist es sehr theatralisch und schwülstig und hat mir ein bisschen die Freude am Buch genommen. Auch die Sexszenen sind sehr ausschweifend und detailliert beschrieben, hier hätte weniger gereicht, denn das Begehren der beiden ist auch so spürbar gewesen.

*Übersetzt von Stefanie Ochel


  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 13.05.2025

Unheimlich gute erste 3/4, aber enttäuschendes Ende

So ist das nie passiert
0

Eine Dinnerparty unter engen Freunden läuft aus dem Ruder, als Willa sich mit ihren Erinnerungen an ihre vor Jahrzehnten verschwundene Schwester auseinandersetzen muss.

Mit dieser spannenden Ausgangssituation ...

Eine Dinnerparty unter engen Freunden läuft aus dem Ruder, als Willa sich mit ihren Erinnerungen an ihre vor Jahrzehnten verschwundene Schwester auseinandersetzen muss.

Mit dieser spannenden Ausgangssituation startet “So ist das nie passiert”. Perspektivwechsel zwischen Willa und ihrer besten Freundin Robyn und Zeitsprünge zwischen Gegenwart und Vergangenheit lassen einen direkt tief in die Geschichte eintauchen und die ersten 300 Seiten konnte ich das Buch nicht aus der Hand legen.
Auch der leichte Schreibstil trug dazu bei, ja es ist kein literarisches Meisterwerk, aber für eine gute Geschichte bedarf es ja nicht unbedingt einer anspruchsvollen Sprache. Nachdem das Thema der verdrängten/ falschen Erinnerungen so prominent in der Eingangsszene platziert wurde, habe ich mit einer raffinierten Auflösung gerechnet, bei der nichts so ist, wie es in Willas Erinnerungen zu sein scheint.
Dahingehend wurde ich leider enttäuscht: Es läuft genau auf die Lösung hinaus, die die ganze Zeit angedeutet wurde, es gibt keinen großen Twist und der ganze Plot drumherum ist so konstruiert, dass ich nur dachte: “SO ist das NIE passiert.”
Das rosarote Ende hat mir dann den Rest gegeben, es fehlten nur noch flauschige Hundewelpen und Glitzerstaub, um das Bild perfekt zu machen.
Ich hatte also 300 Seiten lang ein wirklich tolles Leseerlebnis, die letzten 100 Seiten haben mich dann aber sehr enttäuscht. ⭐️3,5/5⭐️

*Übersetzt von Carola Fischer und Beate Brammertz

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere