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Veröffentlicht am 14.07.2025

Eine mutmachende Geschichte

Amphibium
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Susie mou liegt im Bett, als die elfjährige Sissy aus der Schule kommt. Die Vorhänge, wie immer zugezogen, liegt sie auf der Seite und sieht zur Wand. Ein Blick in den Kühlschrank spiegelt Sissys innere ...

Susie mou liegt im Bett, als die elfjährige Sissy aus der Schule kommt. Die Vorhänge, wie immer zugezogen, liegt sie auf der Seite und sieht zur Wand. Ein Blick in den Kühlschrank spiegelt Sissys innere Leere. Sie füllt eine Schale mir Cornflakes und schüttet die restliche Milch darüber, sie schmeckt sauer.

Sissy kennt Luke Perry nicht, trotzdem hat sie seinen Aufkleber aus der Illustrierten in der Arztpraxis geklaut. Jetzt klebt er unter dem Regal über ihrem Bett, wo nur sie ihn sehen kann. Ihr ist egal, wie er heißt, sie gibt seinem Gesicht eigene Namen (Ramses, Adam oder Freddie) und träumt davon, ihn zu verführen, um ihn dann zu ertränken. Sie hat gemerkt, dass, wenn sie sich auf ihre Matratze hockt und die rechte Ferse zwischen die Beine klemmt, das Becken ein wenig kreisen lässt, ihr Gesicht heiß wird und es in ihr flutet und pocht, wie die Supernova.

Koko aus Griechenland ist nicht mehr da, aber er war der Namensgeber für ihre Mutter. Er nannte sie Susie mou (meine Susie) oder matia mou (meine Augen) anders für ich liebe dich. Sie haben Koko irgendwo draußen auf der Nordsee gelassen. Vielleicht ist er immer noch auf den Bohrinseln, spart für ein kleines Häuschen mit Garten für Mom und seine Tochter.

Neue Schule, neue Sissy. Tegan sitzt auf einer Bank, kichert und flüstert mit einem anderen Mädchen. Hinter ihnen stehen sechs weitere in der Schlange. Sie hat die Illustrierte More auf dem Schoß, aber darum geht es nicht. Sie wollen alle in den Genuss kommen, neben Tegan zu sitzen, denn Tegan ist cool. Sissy läuft die Schulhofbegrenzung auf und ab und schaut ihnen verstohlen über die Schulter zu.

Fazit: Tyler Wetherall hat ein feinfühliges Romandebüt geliefert. Mit großer Empathie versetzt sie sich in ein junges Mädchen, dessen Mutter an einer Depression erkrankt ist. Sie ist nicht in der Lage, sich um ihre Tochter zu kümmern, die sich selbst überlassen bleibt. Die Mutter leidet unter ihrer Unfähigkeit und überträgt die Schuldgefühle auf die Tochter, die sich für deren Wohlergehen verantwortlich fühlt. Die Ängste der Mutter führen zu Übersprungshandlungen mit Fluchttendenzen. Derweil versucht Sissy ihr Leben zu meistern und den rasanten Sprung vom Kindsein zur Frau zu vollenden. Die Autorin trifft genau den richtigen Ton, hat in ihrer klugen Protagonistin die Richtige gefunden, um mich an meine eigenen pubertären Nöte zu erinnern. Immer in Begleitung der Angst, Nein zu sagen, des Gefühls, sich zu verweigern führe dazu, nicht gemocht zu werden. Diese Enttäuschung, wieder nur benutzt worden zu sein und die Hingabe an augenscheinlich Stärkere. Wetherall hat einige mystische Elemente eingebracht, die mich nicht gestört, sondern eher das Besondere an der jungen Heldin Sissy hervorgehoben haben. Die Ich-Erzählung im Präsens erleichtert den Lesefluss und bringt mich ganz nah an Sissy heran. Eine traurige, schöne, kluge und mutmachende Geschichte, die ich ganz arg genossen habe.

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Veröffentlicht am 10.07.2025

Authentisch und spannend

Sein Name ist Donner
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David ist auf dem Weg zu Rab, der außerhalb des Reservats Gras verkauft. Doch der Drecksack lässt sich von David nicht vorführen. David sucht nämlich nach dem Schein und tut ganz überrascht, weil seine ...

David ist auf dem Weg zu Rab, der außerhalb des Reservats Gras verkauft. Doch der Drecksack lässt sich von David nicht vorführen. David sucht nämlich nach dem Schein und tut ganz überrascht, weil seine Hosentaschen leer sind. Muss er eben noch mal wiederkommen. Auf dem Rückweg ins Reservat stolpert er fast über Fellis. Der liegt stöhnend im Dreck. Er hatte am Morgen den Bus verpasst, um sein Methadon zu holen und hielt es für eine gute Idee Schnaps zu trinken, um die Übelkeit zu dämpfen. Im Sumpf war er dann nachdenklich geworden, hatte sich kurz hingesetzt, war dann aber eingenickt und festgefroren. David zückt sein Taschenmesser und Fellis kreischt. Er versucht seine Haare selbst zu befreien, bleibt jedoch chancenlos. David schneidet ihm ein gutes Stück seines langen Haars ab und bringt ihn zu Fellis Mutter Beth.

David und seine Mom hatten das Leben im Süden mit seinem Vater aufgegeben und waren nach Maine ins Reservat gezogen. Seine Mutter stammt von der Penobscot Nation. Als sie her gekommen waren fand David, beim Spielen vor dem Haus in einer Senke, ein Glas mit Zähnen, Maiskörnern und grauem Haar. Als er es seiner Mom gezeigt hatte, musste er alles fallen lassen und mit ihr ins Haus gehen, wo sie telefonierte und zwei Zigaretten rauchte. Dann kam Frick der Medizinmann, sprach Gebete, räucherte David und Mom mit Salbei und weihte das Haus. Seine Mom dachte nicht an einen Spaß, sie glaubte, dass jemand ihnen ernsthaft schaden wollte. Und irgendwie sollte sie recht behalten, denn kurz darauf zog Frick bei ihnen ein, stellte seine Zahnbürste neben Davids, verteilte seine Haare im WC und trank mit Mom Wein aus Pappkartons.

Fazit: Morgan Talty, selbst Angehöriger der Penopscot Indian Nation, hat eine generöse Geschichte gezeichnet. Er hat mich in seine indigene Heimat entführt und mir mit großem sprachlichem Können gezeigt, wie traumatisiert die Menschen seines Stammes sind. Einst in Freiheit lebend bestritten sie ihren Unterhalt mit Jagen und Sammeln. Heute leben sie im Reservat als Menschen zweiter Klasse. Die Mutter des Protagonisten wurde durch Kriege und Kolonialisierung über viele Generationen traumatisiert. Man wies ihnen ein kleines Gebiet, in dem sie sein dürfen. Innerhalb des Reservats herrscht Perspektivlosigkeit. David und die anderen jungen Leute teilen multiple Abhängigkeiten. Fast jeder im Reservat ist alkoholabhängig. Geld ist schwer zu beschaffende Mangelware. Der Autor zeigt die ganze Ausweglosigkeit, ein unabhängiges, selbstständiges Leben zu führen. Sein lakonischer, teils komischer Erzählstil verpackt das ganze Elend in mundgerechte Häppchen und macht den Lesefluss erträglich. Die Eindrücke von Geistern, die an Wasserrohre klopfen, verfluchte kleine Kinder, die Schabernack treiben und schmutziges Geschirr, das mit einem Tuch abgedeckt wird, damit die Geister sich nicht eingeladen fühlen, haben mich so gut in seine Kultur hineinfühlen lassen, dass ich fast Dankbarkeit für seine Gastfreundschaft empfinde. Ich war mittendrin in der Familie des Hauptakteurs und habe mich an den Maisküchlein und am Schweinebauch mit Farnkrautspitzen erfreut. So eine authentische, spannende und wertvolle Geschichte.

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Veröffentlicht am 30.06.2025

Männliche Depression sichtbar gemacht

Es gibt kein Zurück
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Aldus Wieland Mumme von manchen Willi genannt, hadert mit seinem Namen, seit er denken kann, deswegen nennt er sich einfach A. W. Mumme. Er arbeitet als Freiberufler für das Bundesradio und liest seine ...

Aldus Wieland Mumme von manchen Willi genannt, hadert mit seinem Namen, seit er denken kann, deswegen nennt er sich einfach A. W. Mumme. Er arbeitet als Freiberufler für das Bundesradio und liest seine eigenen Essays über skandalöse oder problematische Themen. Nach dreißig Jahren beim Sender weiß er alles über Rhetorik, Betonung und Stimme. Als er mit Halsschmerzen im Bett liegt, lauscht er seinem Ersatz, der weder die Größe des Entwurfs, die List des Angriffs, den Zorn über die schweigende Mehrheit so nötig verlauten lässt. Eher kommt die verbale Darbietung Mummes Essay rüber, wie beim Schulfunk für Erwachsene.

Mumme mag seine eigene Stimme eigentlich nicht. Wenn er sie hört, spürt er das Kind, das ohne Vater aufwuchs, das kehlige Schmusekind der Mutter. Schon in der Schule hatte Mumme Anpassungsschwierigkeiten. Er war nie einer Meinung, vor allem nicht mit großen Gruppen, aber auch Lehrer mussten Überzeugungsarbeit leisten. Er war das Kind des Zweifels, sein Mantra, das Dissens.

Seine Spezialität ist die Glosse, das nimmt den aktuellen und zweifelsfrei strittigen Themen die Schärfe. Als Mia Farrow Woody Allen im Zeichen des Rosenkriegs vorwarf, er habe sich an seinen Kindern vergangen, hat Mumme daraus eine Glosse gemacht. Er bezog selbst keine Stellung und bot wenig Angriffsfläche. Er ist einzigartig in seinem Metier. Jetzt ist er vierundsechzig und die Rentenversicherung hat ihm mitgeteilt, dass ihm knappe Tausendzweihundert zustehen, wenn er in zwei Jahren den Antrag einreicht. Da kommt die Idee seiner Agentin gerade recht. Er solle eine Autobiografie schreiben. Und Mumme geht ohne restlose Überzeugung in sich.

Fazit: Ulf Erdmann Ziegler verhandelt das Thema Depression. Mit viel Ruhe und Feingefühl zeichnet er einen Protagonisten, der überaus intelligent und kommunikationsbegabt ist. Seiner Mutter verdankt er, viel von der Welt gesehen zu haben, aber dadurch auch heimatlos und entwurzelt zu sein. Eine Vaterfigur hatte er nicht. Aus der unsteten Kindheit entsteht das Bedürfnis nach Sicherheit, weswegen er fast sein gesamtes Arbeitsleben beim gleichen Sender bleibt. Eine jahrelange Freundschaft ist an Corona zerbrochen. Seine Frau ist in der Geschichte physisch kaum anwesend, weil sie erfolgreich als Abgeordnete im Bundestag sitzt. Mumme hat beruflich eine Ausdrucksmöglichkeit gefunden, die ihn intellektuell fordert, doch bleibt er dabei vage und unangreifbar. Seine Hörer lieben ihn und das pimpt seinen Selbstwert. Im privaten bleibt er ebenso vage und harmoniebedürftig. Nichts stört ihn, er hat keinen Diskussionsbedarf. Bald ist er den Job los, mit dem er sich identifizieren konnte. Was bleibt, sind Erinnerungen. Es ist diese typische Gefahr bei Männern, Gefühle zu unterdrücken und Bedürfnisse zu bagatellisieren, die in die lavierte Depression führt. Niemand bemerkt den enormen Leidensdruck, den die Betroffenen selbst kaum als solchen wahrnehmen, weil sie es nicht anders kennen. Bricht dann durch Berentung oder Trennung ein Teil der Festung weg, kann es durchaus zu Kurzschlusshandlungen kommen. Der Autor hat das alles sehr versiert und überzeugend dargestellt und damit ein wichtiges Buch geschaffen. Und noch dazu ganz und gar unterhaltsam.

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Veröffentlicht am 26.06.2025

Facettenreich und tiefsinnig

Kind der Liebe. Roman
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Die Familie Kids ist polymorph, polygam, polyglott und polyphon. Der Vater ist Diplomat und Ökonom und nimmt weltweit Aufträge an, die Mutter ist schön. Zusammen sprechen sie sieben tote Sprachen und fünf ...

Die Familie Kids ist polymorph, polygam, polyglott und polyphon. Der Vater ist Diplomat und Ökonom und nimmt weltweit Aufträge an, die Mutter ist schön. Zusammen sprechen sie sieben tote Sprachen und fünf lebendige. Sie sind auf der ganzen Welt zu Hause und doch nirgendwo. Der Vater kommt problemlos immer an diese Mitarbeiter, die ihnen folgen, um ihm zu assistieren und ihr eigenes Leben hintanzustellen. So auch Aias, der Liebhaber der Mutter. Aias ist anders als die anderen Mitarbeiter. Älter und klüger und er lässt sich nicht von der Autorität des Vaters einschüchtern.

Es kommt der Tag, der kommen musste. Die Eltern ziehen nach Sao Paulo und später nach Kuba und Kid muss in eine Schule, um von anderen Kindern umgeben zu sein und die Sinne in sozialen Interaktionen zu schärfen. Die Internatsmitglieder kommen alle aus elitären Kreisen. Nicht wenige leiden unter Panikattacken, weil sie jederzeit gegen ein Lösegeld entführt werden könnten, deswegen sind alle bewaffnet. Kid ist noch weit davon entfernt, sich eingelebt zu haben und erlebt schon einen Akt der Gewalt. Ein kurzer flehender Brief an die Mutter und Kid landet wieder im elterlichen Schoß.

Gemeinsam verbringen sie die Ferien in ihrer Villa am Rande eines italienischen Fischerdorfes. Kid wird Zeugin der starken mütterlichen Anziehung zu Aias. Jeder Tag ähnelt dem anderen. Nach einem gemeinsamen Frühstück sucht Kid den Strand auf, schwimmt und versinkt in dem Meer hormongetränkter jugendlicher Gedanken. Ihr Mittagessen, zumeist ein Fischgericht, nimmt die Familie gemeinsam in einer Strandbar ein. Zum Abendessen, treffen sie sich wieder in der Villa, wo die Dame des Haushaltes, eine italienische Nonna, das Abendessen zubereitet hat. Intensive philosophische Diskussionen und eine Menge Cognac runden die Familienabende ab. Die Tragödie nimmt ihren Lauf, als Kid sich brennend für die Verbindung zwischen Mutter und Aias interessiert.

Fazit: Die 1933 geborene, mehrfach ausgezeichnete Dichterin, Dramatikerin und Autorin war die erste Frau Englands, die sich Anfang der Sechziger-Jahre als lesbisch geoutet hat. Diese Geschichte entstand 1971 und wurde von Reclam erstmals in deutscher Sprache verlegt. Die Autorin hat eine facettenreiche, tiefsinnige Story entwickelt, die ich eher intuitiv als intellektuell erfasst habe. Der/die Protagonist
in ist geschlechtsneutral. Er/sie lebt in einer privilegierten, auf hohem Niveau gebildeten Familie, die sich auf dem gesamten Erdball bewegt. Alle Wünsche werden im Überfluss erfüllt. Was fehlt, nimmt man sich und dadurch entsteht eine allgemein knisternde erotische Spannung. Es wirkt, als hätten die Eltern eine offene Beziehung. Tatsächlich erinnert die Stimmung, die von Kid ausgeht, am ehesten an die wohlstandsverwöhnte Akteurin aus „Bonjour Tristesse. Die Geschichte ist symbolhaft. Die Autorin spielt mit unzähligen Beispielen der griechischen Mythologie, aber auch mit christlichen Einflüssen (Fischerdorf, Fische ernähren, beherrschen das Reich der Emotionen und erfüllen auch phallusartigen Charakter als Symbol für Lust und Begehren) Ebenso entsteht ein Bezug zur Psychoanalyse. Ist Kids Eifersucht auf die Mutter? ein Ödipuskonflikt, oder ist Aias, der ja die Mutter begattet, stellvertretend für den Vater und ist es somit ein Elektrakonflikt? Die Geschichte ist wirklich so tiefgreifend, tiefsinnig und klug, dass ich an dieser Stelle gar keinen Anspruch auf Vollständigkeit meiner Sichtweise erhebe. Ich habe mich gut unterhalten gefühlt. Meiner Ordnungsliebe (Schubladendenken) stand im Wege, dass ich nicht eruieren konnte, ob Kid nun Junge oder Mädchen ist. Und vielleicht liegt darin auch der Sinn der Geschichte, zu zeigen, wie schwierig die Akzeptanz des Unbekannten fällt, dessen, welches anders ist als ich selbst.

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Veröffentlicht am 17.06.2025

Das Leben mit all seinen Strapazen

Der Schlaf der Anderen
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Janis Gast ist spät dran. Normalerweise kommen ihre nächtlichen Besucher zu früh und sitzen im Pyjama auf ihrem Bett, während sie den Raum betritt, um sie zu verkabeln. Janis hat schon seit zwanzig Jahren ...

Janis Gast ist spät dran. Normalerweise kommen ihre nächtlichen Besucher zu früh und sitzen im Pyjama auf ihrem Bett, während sie den Raum betritt, um sie zu verkabeln. Janis hat schon seit zwanzig Jahren keinen normalen Schlafrhythmus mehr. Zuerst leistete sie Schichtdienst auf der Station und seit zwei Jahren den Nachtdienst im Schlaflabor. Sie lebt allein und hat sich mit sich arrangiert.

Sina Jott, wie der Buchstabe, heißt ihre Besucherin, die sie jetzt präparieren wird. Sie legt Bauch- und Brustgurt an, um Herz und Atmung zu überwachen, verkabelt Beinarterien und Kopfhaut. Sina macht ein Selfie für die Kinder und Janis entschlüpft ein Du, was sie sofort einen Schritt zurücktreten lässt, um den Raum zwischen ihnen zu vergrößern. Sie hat noch nie einen Gast geduzt, versucht immer Distanz zu wahren. Sie weiß selbst wie unangenehm es ist, von Patienten mit Liebes oder Herzchen oder einfach mit Du angesprochen zu werden. Wie es ist, wenn Patienten die WC Türe offen lassen, ihre Genitalien nicht bedecken oder sich einfach in ihre Arme fallen lassen. Dann setzt sie Grenzen und erinnert daran, dass auch sie eine Intimsphäre hat.

Sina leidet schon lange unter Schlaflosigkeit. Es fing mit der wütenden Ida an, ihre Erstgeborene. Sie hat nächtelang durchgeschrien. Matthias interessierte das nicht, der weicht heute noch keinen Millimeter von seinen Ritualen ab. Als sie Ben gebar, war es ähnlich. Jede Nacht um 2 Uhr 7 rattert die Nordwestbahn nach Delmenhorst durch ihren Garten und pflügt sich durch ihr Gehirn. Ihre Hausärztin hatte ihr seit Jahren Zolpidem verschrieben, aber jetzt ist sie in den Ruhestand gegangen.

Fazit: Tamar Noorts zweiter Roman verhandelt das Leben mit all seinen Strapazen, unerfüllten Erwartungen und erloschenen Träumen. Sina ist Lehrerin und versucht ihren Beruf und das familiäre Wohlbefinden zu händeln. Ihr selbstbezogener Mann ist ihr dabei keine Hilfe. Wie sehr sie unter ihrer Schlaflosigkeit leidet, kann sich nur vorstellen, wer selbst damit Erfahrung hat. Die ruhige, geerdete Janis bewegt sich in einem völlig anderen Leben als die humorvolle, quirlige Sina. Zwischen beiden entwickelt sich eine Freundschaft, die scheinbar nur von kurzer Dauer ist. Ich mochte die Geschichte sehr. Die Konflikte zwischen den Charakteren sind verständlich dargestellt. Das mangelnde Verständnis, das Sina entgegengebracht wird und sich in dem Erwartungsdruck entlädt, sie müsse funktionieren, ist tragisch. Was sie in ihrem Leben nicht findet, bekommt sie von Janis, die gerne ihr Ohr öffnet und sich kümmert. All das ist hervorragend rübergebracht. Eine ganz interessante tiefe Geschichte über die Möglichkeit von Veränderung, die mich glänzend unterhalten hat.

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