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Veröffentlicht am 04.09.2025

Eine Wucht

In ihrem Haus
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✨ REZENSION zu „In ihrem Haus“ von Yael van der Wouden, übersetzt von Stefanie Ochel, erschienen im @gutkind_verlag

📖 Inhalt (spoilerfrei): Niederlande, 1961: Nach dem Tod ihrer Mutter lebt Isabel allein ...

✨ REZENSION zu „In ihrem Haus“ von Yael van der Wouden, übersetzt von Stefanie Ochel, erschienen im @gutkind_verlag

📖 Inhalt (spoilerfrei): Niederlande, 1961: Nach dem Tod ihrer Mutter lebt Isabel allein im alten Familienhaus, abgeschottet von der Welt und in festen Routinen. Als Eva, die Freundin ihres Bruders, bei ihr einzieht, wird Isabel gezwungen, sich mit ihrer verdrängten Vergangenheit, ihren Vorurteilen, ihrer Begierde und der Geschichte des Hauses auseinanderzusetzen.

🖊️ Erzählweise und -struktur: Van der Woudens Schreibstil ist elegant und präzise, aber auch absolut bewegend und intim. Durch die introspektive Erzählweise wird jüdische Nachkriegserfahrung und queere Identität sehr sensibel dargestellt.

👁️‍🗨️ Symbolik: Sowohl Jahreszeiten und Temperaturen ziehen sich wie ein emotionaler Subtext durch den Roman. In der Nähe Evas erlebt Isabel erstmals wieder innere Wärme, fast so, als würde sie langsam auftauen. Doch als Eva mit dem Einbruch des Herbstes (der sich anfühlt wie ein Winter) auszieht, bricht auch Isabels emotionale Welt zusammen. Ihr frei geschnittener Nacken, an dem sie ständig friert, scheint symbolisch für ihre Unfähigkeit, sich selbst zu schützen und weiterhin zu verdrängen; ihre Vergangenheit, ihre Begierde, ihr Gefühl von Schuld. Eine brillante Verbindung von Körper, Emotion und Umgebung. Auch das titelgebende Haus ist nicht nur Kulisse, sondern eine Metapher für Herkunft, Besitz, Schuld und Hoffnung.

👥 Charaktere: Die Figuren sind komplex und mehrschichtig angelegt, doch für mich nicht ganz rund. Isabel ist eine zutiefst einsame und verletzliche Figur, deren Hassgefühle gegenüber Eva mir zu wenig nachvollziehbar in Liebesgefühle wandeln. Eva wirkt geheimnisvoll und die meiste Zeit emotional relativ kontrolliert, weshalb ihre Wut am Ende des Romans für mich im Vergleich zum Rest der Erzählung ein bisschen überzogen wirkte, doch macht sie das als Figur auch widersprüchlich menschlich.

💡Kurz und Knapp: Der thematische Reichtum war beeindruckend. Judentum, Krieg, Hunger, soziale Ungleichheit, Konzentrationslager, familiäre Traumata, Schuld, Rache, alles sensibel verwoben. Trotz einiger Vorhersehbarkeiten eine emotionale Wucht!

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Veröffentlicht am 02.10.2025

Ein starkes, introspektives CoA über Selbstsuche, Scham, Körperlichkeit und Zugehörigkeit

Beste Zeiten
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✨ REZENSION zu „Beste Zeiten“ von Jenny Mustard, übersetzt von Lisa Kögeböhn und erschienen im Eichborn Verlag

📖 Inhalt (spoilerfrei): Im Mittelpunkt steht Sickan, die eigentlich Siv heißt, sich jedoch ...

✨ REZENSION zu „Beste Zeiten“ von Jenny Mustard, übersetzt von Lisa Kögeböhn und erschienen im Eichborn Verlag

📖 Inhalt (spoilerfrei): Im Mittelpunkt steht Sickan, die eigentlich Siv heißt, sich jedoch selbst einen neuen Namen gibt, um sich von ihrer Vergangenheit zu lösen. Mit Anfang 20 ist sie für ihr Studium gerade nach Stockholm gezogen und versucht nun, sich ein eigenständiges Leben aufzubauen, fernab ihrer exzentrischen Eltern, die hochintelligente Wissenschaftler, aber sozial unbeholfen und auffällig sind. Sie selbst kämpft mit Scham, Einsamkeit und dem tiefen Wunsch, „normal“ zu sein und dazuzugehören und muss erkennen, wie schwer es ist, sich selbst zu verstehen, während man versucht, in einer Welt voller Erwartungen seinen Platz zu finden.

🖋️ Erzählstruktur & Stil : Jenny Mustard wählt eine fragmentarische, introspektive Erzählweise. Mit beinahe jedem Absatz wechselt die Perspektive zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Erinnerungsfetzen. Wir sind mal in Stockholm, mal in Sickans Kindheit, mal während der Weihnachtsferien bei ihren Eltern. Diese ständigen Zeit- und Ortswechsel fordern die Lesenden, ohne sie zu überfordern. Der Stil ist nüchtern, präzise und poetisch. Viele Sätze wirken beiläufig und tragen doch eine tiefe emotionale Wucht. Besonders auffällig ist die sprachliche Ehrlichkeit: Körperliche und intime Erfahrungen werden nicht ausgespart, sondern selbstverständlich in den Text integriert. Wenn Sickan über ihre Menstruation spricht oder den Kauf von Tampons reflektiert, wird deutlich, wie subtil gesellschaftliche Schammechanismen wirken und wie absurd sie sind. Jenny Mustard benennt Scham, Sexualisierung und Körperlichkeit offen und enttabuisiert damit Themen, die in vielen Romanen noch ausgespart werden. Die Sprache ist dabei nie plakativ, sondern ruhig, beobachtend, reflektiert und kraftvoll.

👥 Figuren: Sickan ist eine komplexe, oft widersprüchliche Figur: sensibel, introspektiv, manchmal kühl, abgebrüht, dann wieder verletzlich und unsicher. Diese Ambivalenz macht sie authentisch und menschlich. Ihre Eltern, Freunde und Partner sind weniger im Mittelpunkt, dienen aber als Spiegel ihrer Entwicklung. Besonders ihre Beziehung zu Abbe ist ambivalent: von Zuneigung geprägt, aber auch von Distanz, Unsicherheit und Schmerz.

🌙 Symbolik: Einerseits spiegelt die fragmentarische Struktur Sickans seelische Unruhe und die Suche nach Orientierung wider: Wie sie selbst sich noch nicht zurechtfindet, muss man sich als Leserin ebenfalls immer wieder neu verorten. Die Benennung ihrer Menstruation steht für Körperlichkeit, Weiblichkeit und Normalität, wird ungeschönt integriert ein Akt sprachlicher Ehrlichkeit. Die Tampon-Kaufszene macht internalisierte Scham sichtbar, die Angst, über den Körper bewertet zu werden, und das Bewusstsein, dass selbst Intimes gesellschaftlich aufgeladen ist. Das Einsetzen der Blutung tritt genau zeitgleich zu ihrem emotionalen Schmerz ein, weil ihr Abbe kein „god jul!“ zu Heilig Abend wünscht. Die fast erfrorene Zehen symbolisieren die fragile Beziehung zu Abbe: sie sind „fast tot“, kehren aber schmerzhaft, doch lebendig zurück, wie auch er in ihrem Leben präsent bleibt.

🕳️ Thematische Tiefe: Jenny Mustard thematisiert eindrücklich, wie junge Frauen in einer leistungsorientierten, bewertenden Gesellschaft aufwachsen. Sie beschreibt den Druck, attraktiv und begehrenswert zu sein, die frühe Sexualisierung, die Scham über den eigenen Körper, das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Normalität, die Schwierigkeit, echte Nähe zuzulassen.

💡 Fazit: „Beste Zeiten“ ist ein stilles, aber starkes feministisches Werk, das den Blick nach innen richtet, auf die Prägungen, Erwartungen und Unsicherheiten, die uns in frühen Erwachsenenjahren begleiten. Es ist ein sprachlich starkes, introspektives Coming-of-Age über Selbstsuche, Scham, Körperlichkeit und Zugehörigkeit. Mir gefiel besonders die atmosphärische Dichte des Stockholmer Settings, die ehrliche Sprache, die stille Symbolik und die thematische Relevanz. Dennoch hat das Buch emotional nicht allzu viel mit mir gemacht. Es blieb stellenweise distanziert, vieles wurde nur angedeutet, manche Erinnerungen blieben offen (was ist mit ihrer Narbe am Finger?!). Spannend ist der autofiktionale Eindruck: Jenny Mustard hat selbst in Stockholm gelebt und studiert, und einige Details (wie das Rasieren der Haare) scheinen aus ihrem eigenen Leben inspiriert. Doch der Roman ist klar als Fiktion angelegt und nutzt persönliche Erfahrungen eher atmosphärisch als biografisch, ganz ähnlich zu den kreativen Dialogen, die Sickan im Buch auf Grundlage wahrer Gespräche schreibt, aber abändert. Insgesamt ein unglaublich energetisches und mutiges Buch, das wichtige Themen flüsternd auf den Punkt bringt und dabei keinerlei Authentizität einbüßt.

4|5 ⭐️

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Veröffentlicht am 24.09.2025

Ich habe das Team gewechselt!

Ohne dich kein Sommer
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ACHTUNG LEICHTE SPOILER, DA SERIE UND BUCH MITEINANDER VERGLICHEN WERDEN!!!

Der zweite Teil der Summer-Trilogie hat mich sofort wieder reingezogen. Jenny Hans Schreibstil ist so leicht und authentisch, ...

ACHTUNG LEICHTE SPOILER, DA SERIE UND BUCH MITEINANDER VERGLICHEN WERDEN!!!

Der zweite Teil der Summer-Trilogie hat mich sofort wieder reingezogen. Jenny Hans Schreibstil ist so leicht und authentisch, dass man regelrecht durch die Seiten fliegt. Besonders die introspektiven Passagen von Belly berühren mich sehr, vor allem ihr Umgang mit Susannahs Tod. Die zusätzliche Perspektiven von Jeremiah fand ich erst ungewohnt, aber dann sehr bereichernd, weil er so für mich viel mehr Tiefe bekam und ich dadurch sehr viel mehr mit ihm sympathisieren konnte als ich in der Serie. Für mich hat seine Perspektive nochmal eine ganz neue Seite der Handlung, die ich bereits durch die Serie kannte, eröffnet und nach dem Lesen war ich nicht mehr Team Conrad, sondern Team Jeremiah, auch, weil seine Rolle in Bellys Kindheit viel tragender war, als es die Serie zeigt. Diese unterschiedlichen Gewichtungen zwischen Buch und Serie machen die Geschichte noch spannender. Ein Highlight war für mich Kapitel 30, in dem Belly ihrer Freundin Taylor endlich mal die Meinung sagt. Taylor ist für mich einer der toxischsten Figuren aller Zeiten: kontrollsüchtig, egoistisch, null empathisch. Es war eine Erlösung, dass Belly sich endlich wehrt. Ein Punkt, den ich im Buch viel besser gelöst fand, ist die Sache mit dem geplanten Hausverkauf: Hier ist es der Vater von Conrad und Jeremiah, der das Haus loswerden will. Es passt besser, da er egoistisch und ohne Rücksicht auf seine Söhne ist.In der Serie fand ich die Lösung ehrlich gesagt etwas anstrengend: Dort ist es ja die Tante von Jeremiah und Conrad (Becks Schwester), die das Haus erbt und verkaufen möchte, und ihr Kind (die nonbinäre Cousin_x der beiden) soll zwischen den Fronten vermitteln. Auch wenn die Figur Sichtbarkeit schafft, wirkte sie auf mich sehr unnahbar. Mühsam fand ich vor allem, wie sehr sich alle anderen bemühen müssen, sie in die Gruppe zu integrieren, während von ihr selbst kaum etwas zurückkommt, nur damit sie sich am Ende gegen ihre Mutter stellt und so den Hausverkauf verhindert. Ganz schön umständlich gelöst, da bevorzuge ich die einfache Variante aus dem Buch. Die Szene, in der Laurel sich gegen Mr. Fisher (Jeremiahs und Conrads Vater) stellt, gibt ihr noch einmal viel mehr Tiefe. Auch wie sehr die Jungs zu ihr aufschauen, und wie sanft sie mit den beiden umgeht, hat mich zu Tränen gerührt, viel mehr als in der Serie! Dafür mochte ich dort aber die große Abschlussfeier im Haus mit Belly auf Rollschuhen sehr. Das kam im Buch nicht so atmosphärisch rüber. Insgesamt ein sehr flüssig zu lesendes, emotionales Buch, das für mich durch die Unterschiede zur Serie noch mehr Reiz gewinnt.

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Veröffentlicht am 24.09.2025

Erebos.exe hat sich endlich wieder installiert!

Erebos 3
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✨ REZENSION zu "Erebos 3" von Ursula Poznanski, erschienen im Loewe Verlag

📖 Inhalt (spoilerfrei): es ist wieder da: Erebos, das geheimnisvolle Computerspiel mit seiner erschreckend realen Intelligenz, ...

✨ REZENSION zu "Erebos 3" von Ursula Poznanski, erschienen im Loewe Verlag

📖 Inhalt (spoilerfrei): es ist wieder da: Erebos, das geheimnisvolle Computerspiel mit seiner erschreckend realen Intelligenz, installiert sich erneut auf Nicks Rechner. Sofort steckt er wieder in seiner alten Rolle als Dunkelelf Sarius und diesmal geht es um Aufgaben, bei denen es wortwörtlich um Leben und Tod geht.

🖋️ Erzählstil & Struktur: Poznanski gelingt es erneut, einen sofort in die Geschichte hineinzuziehen. Ich war von der ersten Seite an drin, sie flogen nur so dahin. Besonders stark finde ich, wie sie Hintergrundinfos einbettet: Wer die Vorgänger nicht mehr ganz präsent hat, bekommt hier subtil und elegant alles Wichtige erklärt, ohne dass es aufdringlich wirkt oder diejenigen nervt, die die Details noch im Kopf haben. Diese präzise Einfachheit macht den Band auch für Neueinsteiger absolut lesbar. Wieder gibt es Levelaufstiege, Arena-Kämpfe, neue Fähigkeiten und Waffen: das Setting ist mal wieder so immersiv beschrieben, dass man glaubt, selbst mitzuspielen. Wer Gaming liebt, kommt hier voll auf seine Kosten. Aber auch, wer nichts mit Computerspielen am Hut hat, wird durch die dichte Atmosphäre mitgerissen (so wie ich schon damals beim ersten Band). Ich fand es großartig, dass die meisten Hinweise so schwer zu deuten waren, genau so mag ich das. Das einzige Mal, wo ich einen Schritt voraus war, war bei der Figur Riley. Da hatte ich in der Mitte schon eine Ahnung, während vor allem Nick sehr lange brauchte, um die Tragweite zu erkennen. Alle anderen Zeichen dagegen waren perfekt dosiert: schwer, aber schlüssig.

👥 Figuren: Nick ist wieder das Herzstück der Handlung, aber tatsächlich ist mein persönliches Highlight Victor: mit seiner ruhigen, alternativen Art, seiner Liebe zu Tee, kuriosen Flohmarktfunden und skurrilen Accessoires ist er eine der lebendigsten und charmantesten Figuren der Reihe. Auch andere Figuren sorgen für Kontinuität, ohne den Einstieg zu erschweren.

🔎 Themen & Symbolik: Besonders faszinierend fand ich, dass die KI diesmal eine Art Gleichgültigkeit ausstrahlt. Genau das wirkt so realistisch, denn auch unsere echten KI-Systeme ist es völlig egal, was wir mit unserem Leben tun. Diese Kälte macht den Boten noch unheimlicher. Spannend ist in diesem Zusammenhang auch, dass Ursula Poznanski in einem Interview mit dem Literatur- und Pressebüro "Politiki und Partner" selbst gesagt hat, dass sie zwar gerne über KI schreibt, im Alltag aber den Umgang damit meidet. Die Anspielungen auf die griechische Mythologie verleihen der Geschichte zusätzliche Tiefe und passen hervorragend in das Setting.

💡 Fazit: Für mich ist "Erebos 3" deutlich stärker als Band 2, erreicht aber nicht ganz die Einzigartigkeit des ersten Teils; einfach, weil man die Mechanismen inzwischen kennt. Trotzdem wirkt es durch das hochaktuelle KI-Thema heute fast wieder so frisch und packend wie damals. Gerade Neuleser:innen könnten diesen dritten Band genauso intensiv erleben, wie wir damals den Auftaktband. Ich bin ehrlich traurig, dass es schon wieder vorbei ist und ich Erebos damit erneut „verloren“ habe. Für mich fühlt es sich fast so an, als hätte ich Freunde verabschieden müssen, die mich jahrelang begleitet haben. Ich wäre unfassbar glücklich, wenn es noch einen vierten Teil gäbe (von diesem Spiel und diesen Figuren kann ich einfach nicht genug bekommen!)

4|5 ⭐️

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Veröffentlicht am 17.09.2025

Ein starkes, mutiges und literarisch feines Werk. Unbequem, aber notwendig.

Brot und Milch
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Rezension zu Brot und Milch von Karolina Ramqvist, übersetzt von Ursel Allenstein und erschienen im Fischer Verlag

Triggerwarnung: Das Buch behandelt Essstörungen, gestörtes Essverhalten, Binge-Eating, ...

Rezension zu Brot und Milch von Karolina Ramqvist, übersetzt von Ursel Allenstein und erschienen im Fischer Verlag

Triggerwarnung: Das Buch behandelt Essstörungen, gestörtes Essverhalten, Binge-Eating, Bulimie, emotionale Vernachlässigung, Einsamkeit, Süchte und gesellschaftliche Zwänge rund um Weiblichkeit und Körperbild. Für Betroffene oder Menschen mit einer sensiblen Vorgeschichte kann die Lektüre sehr unbequem und belastend sein.

Inhalt (spoilerfrei): In "Brot und Milch" erzählt Karolina Ramqvist von einer Frau, die rückblickend auf ihr Leben versucht, das eigene Verhältnis zu Essen, Familie und Weiblichkeit zu verstehen. Sie erinnert sich an ihre Kindheit in Schweden, an die Beziehung zu Mutter und Großeltern, an Gerüche und Geschmäcker, die sich in ihr Gedächtnis eingebrannt haben. Essen ist für sie nicht nur Nahrung, sondern Trostspender, Gedächtnisspeicher und zugleich Bedrohung. Dabei wird sichtbar, wie eng familiäre Strukturen, historische Erfahrungen (z. B. Lebensmittelknappheit in Schweden während des Zweiten Weltkriegs) und persönliche Sehnsüchte miteinander verflochten sind.

Erzählstil: Die Erzählung folgt keinem linearen Handlungsbogen, sondern umfasst eine grobe Ansammlung von (Kindheits-)Erinnerungen, Assoziationen und einzelnen Szenen in der Gegenwart (mit Kommentaren). Vergangenheit und Gegenwart sind nicht klar getrennt, sondern verschränken sich. So wird deutlich, wie sehr die frühen Erfahrungen bis ins heutige Leben hineinwirken.. Dabei ist wichtig ist zu wissen, dass "Brot und Milch" keine reine Fiktion, sondern stark autobiografisch geprägt ist. Schwedische Leitmedien nannten das Buch zur Veröffentlichung 2022 ausdrücklich eine „självbiografisk berättelse“ (selbstbiografische Erzählung). Ramqvist verarbeitet darin also ihre eigenen Kindheitserinnerungen und ihr gestörtes Essverhalten, über das sie auch in Interviews offen gesprochen hat, indem sie klar sagt, dass ihr Verhältnis zum Essen und eine Essstörung/obsessives Essverhalten der Ausgangspunkt des Buchs sind („min önskan att fly ledde till en ätstörning“). Gerade deshalb wirkt das Buch so unmittelbar und nah. Ramqvist wählt eine sehr sachliche, nüchterne Sprache und gerade darin liegt für mich ihre poetische Kraft. Mit vielen Details und genauen Beobachtungen entstehen atmosphärische Bilder, sehr authentisch wirken. Manchmal liest sich der Text fast wie ein Kochbuch: akribisch genau werden Zubereitungen, Geschmäcker und Farben beschrieben. Doch diese Sachlichkeit macht die Szenen nicht nüchtern, sondern auf besondere Weise sinnlich, sodass die obsessive Fixierung der Protagonistin auf Essen erfahrbar gemacht wird.

Figuren: Auffällig ist, dass keine einzige Figur einen Namen bekommt, weder die Protagonistin selbst, noch Mutter, Vater, Großeltern oder ihre Kinder. Alles bleibt anonym und dadurch universell. Dieses Fehlen von Namen wirkt doppelt: Einerseits lädt es Leser:innen dazu ein, sich selbst leichter in die Figuren hineinzudenken, die Erlebnisse auf die eigene Biografie zu spiegeln. Andererseits bleibt dadurch etwas Schamhaftes, etwas Unsagbares zurück: Es ist, als ließe sich das, was geschildert wird, nicht festnageln, nicht personalisieren. Die Protagonistin könnte jede Frau sein, und genau darin liegt die Kraft des Textes.

Symbolik & Motive: Ein Leitmotiv ist die Farbigkeit, allen voran Weiß. In der Kindheitswohnung der Protagonistin waren die Wände und Möbel weiß, ebenso der Tisch und selbst der Fernseher auf einem weiß gestrichenen Rollwagen. Für ich stand das Weiß hier für Leere, Kälte und das Unausgefüllte in der Gefühlswelt der Protagonistin in ihrer Kindheit, aber auch für Reinheit und Ordnung in ihrem Leben als Erwachsene in dem Versuch, sich selbst zu kontrollieren. Immer wieder treten Kontraste von Hell und Dunkel auf: der weiße Tisch auf dem Desserts mit dunkler Schokoladenglasur stehen, die Schwärze der Nacht, die sich gegen die Fenster presst. Im Grunde erscheint Weiß als Symbol der inneren Leere, während es von der Schwärze immer weiter aufgesogen wird, so wie die Autorin auch beschreibt, dass uns das, was uns zu erfüllen vermag, auch verzehren kann. Neben der Farblichkeit gibt es außerdem natürlich das Essen, welches unter Anderem zum Gedächtnisspeicher wird. Der Reisauflauf der Großmutter oder die Süßigkeitenschale im Wohnzimmer konservieren Erinnerungen, Trost und Geborgenheit. Gleichzeitig aber wird Essen zur Kompensation von Einsamkeit und innerer Leere. Die Protagonistin isst nicht nur aus Hunger, sondern um fehlende Nähe, Liebe und Wärme zu überlagern. So entsteht ein Pseudo-Hunger, ein Drang nach Essen, der eigentlich ein Verlangen nach Leben ist. Diese Mechanismen gehen über in das Krankhafte: Binge-Eating, Erbrechen, Kontrollverlust. Besonders am Ende zeigt Ramqvist sehr eindringlich, wie schwierig es ist, eine solche Störung in eine Kategorie zu pressen. Essstörungen sind vielfältig, hybrid, individuell. Auch die Einsamkeit im Raum wirkt symbolisch. Immer wieder sitzt die Protagonistin allein an dem großen weißen Tisch. Sie empfindet sich selbst als jemand, der keinen Raum einnehmen darf, der stets um Erlaubnis bittet, selbst um ein weiteres Stück Brot. Essen wird zu einem Kraftakt, sich selbst zu behaupten und Lebensmittel werden verwendet, um dem Wunsch nachzugehen, endlich Raum zu füllen.

Essstörungen & gesellschaftliche Perspektive: Am eindringlichsten sind die Passagen, in denen die Protagonistin (und damit Ramqvist selbst) ihr krankhaftes Essverhalten beschreibt und nach Hilfe sucht. Dabei wird deutlich, wie schwer es ist, Essstörungen in vorgefertigte Kategorien zu pressen: Ist es Binge-Eating, eine Sucht, Fettsucht, obwohl sie normalgewichtig ist? Oder eine Bulimie, weil sie sich manchmal erbricht? Es gibt Mischformen, Abweichungen, Grauzonen. Der Versuch, Betroffene vorschnell zu etikettieren, erschwert oft die Suche nach passender Hilfe. Das Buch vermittelt eindringlich, dass Essstörungen hochindividuell sind und sich nicht über Schubladen erfassen lassen. Besonders erschütternd ist, wie sie sich an die öffentliche Gesundheitsorganisation wendet und dort von Ärzt:innen und Fachleuten regelrecht gegaslighted wird. Man redet ihr ihre Störung aus, erklärt ihr, es sei normal, manchmal die Kontrolle über das Essen zu verlieren, oder sogar „normal“, dass Frauen ein gestörtes Essverhalten haben. Ramqvist zeigt sehr eindringlich, wie Essstörungen das ganze Leben durchdringen können: Das Denken kreist permanent ums Essen oder Nicht-Essen, man fühlt sich fremdbestimmt, gerät in einen Rauschzustand, als stünde man unter Drogen, nimmt die Außenwelt kaum mehr wahr.

Fazit: "Brot und Milch" ist ein leises, unbequemes, eindringliches Buch. Karolina Ramqvist gelingt es, ein zutiefst persönliches Thema universell zu erzählen: Wie Essen Trost, Erinnerung, Ersatz für Nähe und zugleich Bedrohung sein kann. Wie Essstörungen nicht nur Kategorien, sondern ganze Leben durchdringen. Die Nüchternheit des Stils macht die Lektüre umso intensiver. Viele Bilder blieben für mich noch lange nach dem Lesen haften. Für Menschen, die selbst Erfahrungen mit Essstörungen haben, kann die Lektüre schwer, vielleicht schmerzhaft sein. Aus meiner Sicht als ehemals Essgestörte ist "Brot und Milch" ein unfassbar eindringliches und gelungenes Buch, weil es die Vielschichtigkeit von Essstörungen so authentisch einfängt. Gleichzeitig ist es ein wichtiges, mutiges Buch, das das nahezu Unsagbare sichtbar macht.

⭐️⭐️⭐️⭐️ (4 von 5 Sternen)

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