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caro_phie

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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 13.11.2025

Ein ungeschöntes Stück Geschichte

Der brennende Garten
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Man spürt eine tiefe Geborgenheit auf den ersten 80 Seiten von V.V. Ganeshanthans Roman “Der brennende Garten”, übersetzt von Sophie Zeitz. Die junge Tamilin Sashi wächst zusammen mit ihren vier Brüdern ...

Man spürt eine tiefe Geborgenheit auf den ersten 80 Seiten von V.V. Ganeshanthans Roman “Der brennende Garten”, übersetzt von Sophie Zeitz. Die junge Tamilin Sashi wächst zusammen mit ihren vier Brüdern in behüteten Verhältnissen in Jaffna auf. Nichts wünscht sie sich mehr, als Ärztin zu werden, so wie ihr ältester Bruder und der Großvater. Und dass der Freund ihrer Brüder, K., sie endlich wahrnimmt.

Was beginnt als idyllisches Familienportrait mit sich anbahnender Lovestory, schlägt alsbald um in eine schonungslose Beschreibung des Bürgerkriegs in Sri Lanka. Sashi erlebt wie wütende Mobs in Colombo die Mitglieder der tamilischen Minderheit ermorden, wie sich als Reaktion tamilische Milizen bilden, die sich gleichzeitig gegenseitig bekriegen, wie zuhause in Jaffna jeder junge Mann von dem immer stärker präsenten Militär verdächtigt wird Milizionär zu sein. Sie erlebt, wie die Zivilgesellschaft zwischen den Fronten zerrieben wird, wie ihre Familie zerfällt und auch sie selbst, tief zerrissen, ihren eigenen Weg finden muss mit den grausamen Geschehnissen umzugehen.

V.V. Ganeshanthans Erzählstimme hat mich durch die Geschichte getragen. Durch ihre ungeschönte Beschreibung der Ereignisse und die direkte Adressierung der Leser*innen, war es für mich eine unglaublich intensive Leseerfahrung. Einzelne Passagen fand ich etwas pathetisch. Das Gesamtkonzept des Romans wurde aber dadurch nicht gestört.

Und so hat mich “Der brennende Garten” tief bewegt und schockiert zurückgelassen. Es ist ein Buch über Kapitel der Geschichte, über das ich bisher nichts wusste, auch wenn der Bürgerkrieg in Sri Lanka über 25 Jahre andauerte. Eine lange Zeitperiode, in der die internationale Gemeinschaft größtenteils hilflos zuschaute während die tamilische Zivilbevölkerung in Sri Lanka den Kriegsverbrechen des Militärs und der Milizen zum Opfer fiel.

Ein wahnsinnig wichtiges Buch, insbesondere angesichts aktueller Entwicklungen im Sudan!

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Veröffentlicht am 15.10.2025

Eine warmherzige Geschichte über das Erinnern und Hintersichlassen

Onigiri
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Es ist die letzte Reise für Akis Mutter Keiko nach Japan zu ihrer Familie - ein letzter Versuch Akis noch einmal Ordnung in das Leben ihrer Mutter zu bringen, das zunehmend zwischen Vergangenheit und Gegenwart ...

Es ist die letzte Reise für Akis Mutter Keiko nach Japan zu ihrer Familie - ein letzter Versuch Akis noch einmal Ordnung in das Leben ihrer Mutter zu bringen, das zunehmend zwischen Vergangenheit und Gegenwart zerfließt. Sie dort hinbringen, wo sie am meisten zuhause war, denn in Deutschland ist Keiko nie ganz angekommen, konnte sich nie richtig wohl fühlen. Immer wieder hielt sie sich schon in Akis Kindheit die Hände vor die Augen, musste sich ausruhen von den Eindrücken des Tages - ob in der kleinen bayrischen Wohnung, in der sie, Aki und Akis Bruder lebten, oder in der Straßenbahn. Oft zupfte die kleine Aki dann an ihrem Arm, peinlich berührt von der Mutter, die in diese Gesellschaft nicht zu passen schien.

Und auch jetzt spürt man hinter den leisen Worten, die Yuko Kuhn für diese berührende Geschichte findet, immer wieder eine unbändige Wut Akis. Wut auf die Mutter, die in Deutschland nie ihre eigene Stimme fand und es somit ihren Kindern überließ sie zu beschützen. Wut auf die Eltern des Vaters, die der Schwiegertochter die Ankunft nicht leichter machten. Wut über die Lücke, die Aki und ihr Bruder als Kinder überbrücken mussten, zwischen dem Leben mit ihrer Mutter und den Besuchen bei den Großeltern: Auf der einen Seite Erinnerungen an dampfende Miso-Suppe und Onigiri, aber auch eine Mutter, die sich oft - überfordert von der Welt dort draußen - zurückzog und ihre Kinder dem Fernseher überließ. Auf der anderen Seite Erinnerungen an Abendessen an dem großen Tisch der Großeltern, den Rücken durchgstreckt, die steife Serviette und das schwere Besteck neben sich, uralte Vorwürfe unter dem Teppich, die doch immer im Laufe des Abends hervorbrachen.

Feinfühlig verwebt Yuko Kuhn die gegenwärtige Reise nach Japan mit Akis Kindheitserinnerungen und mit den Erzählungen der Mutter, wie sie als junge Frau Japan verlassen hat und nach Deutschland kam. Es ist eine zärtliche Annäherung von Tochter und Mutter auf einer letzten gemeinsamen Reise, die einige Wunden zu schließen vermag.

Ein großartiges, warmherziges Buch, das mich sehr gerührt hat!

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Veröffentlicht am 15.10.2025

Worte finden, das Schweigen brechen - weil Femizide systemisch sind

Lilianas unvergänglicher Sommer
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Es ist der Winter 2019. Cristina Rivera Garza sitzt auf dem Bordstein vor einer Kriminalbehörde im Viertel Azcapotzalco, dem Viertel Mexiko Stadts, in dem vor 29 Jahren ihre Schwester Liliana von ihrem ...

Es ist der Winter 2019. Cristina Rivera Garza sitzt auf dem Bordstein vor einer Kriminalbehörde im Viertel Azcapotzalco, dem Viertel Mexiko Stadts, in dem vor 29 Jahren ihre Schwester Liliana von ihrem Ex-Freund umgebracht wurde.

Die Behörde ist die letzte Station auf einer langen Reihe von Behörden, die Cristina und eine Freundin an diesem Tag abgeklappert haben auf der Suche nach der Ermittlungsakte zu dem Mord an Liliana. Beflügelt von der MeToo-Bewegung hofft Ana nun, knapp drei Jahrzehnte und unendlich viele Femizide später, zumindest etwas zu Gerechtigkeit zu erwirken. Denn der Mörder ihrer Schwester - obwohl bekannt - wurde nie festgenommen.

Cristina Rivera Garza zeichnet das Bild einer Gesellschaft, die keine Worte für die Gewalt an Frauen kennt, eines korrupten Staates und das zutiefst persönliche Bild einer Familie, die unter der Trauer und Scham angesichts des erzwungenen Schweigens über das Schicksal ihrer Tochter und Schwester niedergedrückt wird.

Basierend auf Fotografien, Lilianas Tagebucheinträgen, Briefen an Freundinnen und Gesprächen mit eben diesen Freundinnen erzählt Cristina fragmentarisch die Geschichte ihrer Schwester und gleichzeitig das Musterbeispiel einer toxischen Beziehung.

Sie schafft es persönliche Erzählung und Gesellschaftsporträt zu einer tief berührenden Geschichte zu verweben, die sich schwer einem einzelnen Genre zuordnen lässt. Letztendlich ist Lillianas unvergänglicher Sommer eine Aufforderung - sich mit Geschichten wie der Liliana Rivera Garzas auseinanderzusetzen, sie anderen zu erzählen und das Schweigen über ähnliche Schicksale zu brechen!

Ein unendlich wichtiges Buch!
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Veröffentlicht am 15.10.2025

Über das Aufwachsen in einem unfreien Staat

Himmlischer Frieden
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Lai wächst in den 80ern in einer kleinen Wohnung in einem Arbeiterviertel Pekings auf. Ihr Vater, den die Geister der Vergangenheit nicht loslassen, bleibt für seine Tochter unnahbar. Die Mutter findet ...

Lai wächst in den 80ern in einer kleinen Wohnung in einem Arbeiterviertel Pekings auf. Ihr Vater, den die Geister der Vergangenheit nicht loslassen, bleibt für seine Tochter unnahbar. Die Mutter findet kaum ein gutes Haar an ihrer Tochter. Und so ist für Lai ihre Popo, ihre Großmutter, die wichtigste Bezugsperson.

Lais Kindheit spielt sich hauptsächlich auf den Gängen des großen Wohngebäudes und den Straßen davor ab, wo sie mit den anderen Kindern Streiche ausheckt. Der Regierungsbezirk Pekings ist lange für sie nur als hell beleuchtete Gebäude in der Ferne zu sehen. Doch früh muss sie die Willkür und Brutalität des Regimes kennenlernen.

Himmlischer Frieden ist ein Coming-of-Age Roman. Lai Wen erzählt unglaublich gut beobachtet von der emotionalen Auflehnung eines jungen Mädchens gegen seine Eltern, von der Suche nach einem eigenen Weg, der eigenen Identität und dem gleichzeitig zunehmenden Verständnis für die Komplexität der Welt und die Wahrheiten der Eltern.

Gleichzeitig ist das Buch viel mehr als das. Es ist ein Stück Zeitgeschichte Chinas. Von Anfang an strebt das Buch auf die Proteste auf dem Tian‘anmen-Platz, dem Platz des himmlischen Friedens, zu. Auf eine Entladung der spürbaren Wut und Angst angesichts eines Regimes das keinen Widerspruch duldet, ihn brutal niederschlägt, das Geschichte umschreibt, die Grauen der Mao-Diktatur verkennt und damit eine ganze Generation zum Schweigen bringt.

Erst auf den letzten Seiten entlädt sich die Spannung in einer gleichzeitig erschreckenden und doch grandiosen, detailreichen Schilderung der Geschehnisse auf dem Tian‘anmen-Platz. Es ist ein Ende, das mich atemlos zurückgelassen hat - tief bewegt und gleichzeitig unschlüssig, wie ich das Buch im Gesamtbild bewerten soll.

Denn entweder die Autorin, die sich hinter dem Pseudonym Lai Wen verbirgt, offenbart in den letzten Sätzen Wahrheiten über die Proteste, die so noch nicht bekannt waren oder sie fiktionalisiert eine real existierende Person in einem Maße, das in meinen Augen kritisch zu hinterfragen ist.

Ich hoffe auf Ersteres, denn dann ist Himmlischer Frieden ein Buch, das ich gerne und aus vollstem Herzen weiterempfehle.

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Veröffentlicht am 14.07.2025

Aufwühlend wahr

Im Leben nebenan
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Was ist, wenn man plötzlich mit Baby in einem fremden Leben aufwacht?

Als ich meiner Mutter Anne Sauers Romanidee skizzierte, musste sie lachen. "Ein bisschen ist das ja auch so, wenn man Kinder bekommt." ...

Was ist, wenn man plötzlich mit Baby in einem fremden Leben aufwacht?

Als ich meiner Mutter Anne Sauers Romanidee skizzierte, musste sie lachen. "Ein bisschen ist das ja auch so, wenn man Kinder bekommt." Plötzlich ist das Leben nicht mehr nur das eigene. Lange bestehende Lebensrealitäten haben keine Gültigkeit mehr.

Doch Anne Sauer geht einen Schritt weiter. Nachdem sie am Abend zuvor noch in den Armen ihres Freundes in einer Altbauwohnung in irgendeiner deutschen Großstadt eingeschlafen ist, wacht Antonia tatsächlich in einem ganz anderen Leben auf. Dem Leben, das sie hätte, wenn sie sich an einer Stelle ihres Lebens anders entschieden hätte, wenn sie bei ihrer Jugendliebe und in ihrem Heimatort geblieben wäre, statt für das Studium in eine weit entfernte Stadt zu ziehen. Hat Toni sich eben noch vergeblich ein Kind gewünscht, hält Antonia es nun in ihren Armen und kann diesem neuen Leben nicht mehr entfliehen.

Auf zutiefst persönliche Weise skizziert Anne Sauer auf knapp 300 Seiten, was es heißt eine Frau zu sein, wie zentral die Frage, ob man Kinder haben will, ab einem bestimmten Alter wird und wie tiefgreifend eine Entscheidung für oder gegen ein Kind, das Leben einer Frau verändert.

Klar und gleichsam poetisch zeichnet sie das Bild einer Gesellschaft, in der Frauen ohne Kinder immer noch aus einem vermeintlichen Rahmen fallen und gleichzeitig junge Mütter oft allein gelassen werden mit einer übermäßig großen gesellschaftlichen Erwartungshaltung an sie. Sie findet Worte für Themen, die noch zu oft totgeschwiegen werden, für wiederholte Fehlgeburten, die rohe Körperlichkeit, die verbunden ist mit einem unerfüllten Kinderwunsch und wie sehr dieser den Alltag vereinnahmt. Gedanken werden angerissen, wenige ausformuliert. Aber ich bin mir sicher, dass jede Frau in den 20ern und 30ern (und ältere Frauen sowieso) die Lücken gedanklich schließen kann, sich auf vielen Seiten wiederfindet.

Für mich war "Im Leben nebenan" ein Buch, das mich sehr berührt hat, nachdenklich gestimmt hat und tief aufgewühlt zurückgelassen hat. Ich würde es jeder Person ans Herz legen!

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