Wie zwei alte Kassettenbänder dein ganzes Leben verändern können
Großmutters Geheimnis“Großmutters Geheimnis“ vom dänischen Autor Benjamin Koppel hat mir insgesamt betrachtet gut gefallen, mich emotional bewegt und dabei gefühlsmäßig durch eine Berg- und Talfahrt geführt. Da war auf den ...
“Großmutters Geheimnis“ vom dänischen Autor Benjamin Koppel hat mir insgesamt betrachtet gut gefallen, mich emotional bewegt und dabei gefühlsmäßig durch eine Berg- und Talfahrt geführt. Da war auf den 488 Seiten alles dabei – Begeisterung, Bestürzung, Fragezeichen, zum Abschluss des Buches leichte Enttäuschung über das Ende. Erzählt wird auf zwei sich abwechselnden Zeitebenen, Gegenwart und Vergangenheit. Stilistisch für mich geschickt gemacht vom Autor, von Seite zu Seite wurde der Roman für mich immer spannender durch sich zusammenfügende einzelne Puzzleteile zum großen Ganzen. Wir schreiben zum einen das Jahr 2015. Musiker Alexander lebt mit seiner Partnerin Gry in Kopenhagen. Unerfüllt blieb bislang ein Kinderwunsch, daher unterzieht sich Gry einer Fertilitätsbehandlung in einer Spezialklinik. Alexanders Mutter Lillian, einst erfolgreiche Sängerin, verhält sich im Privatleben ebenso divenhaft wie einst auf der Bühne. Mischt sich in das Privatleben ihres Sohnes ein, Intimsphäre und Empathie scheinen Fremdworte für sie zu sein, körperlich wie emotional war sie so gut wie nie präsent in Alexanders Kindheit. Sein alkoholkranker Vater Knud hat nur am Rande einer eher unglückliche Randfigur gespielt. Alexander ist zwar als Musiker mit einer Band erfolgreich, dennoch nicht wirklich zufrieden mit seinem Leben. Dies äußert sich durch Angstzustände, Depressionen, Selbstzweifel und Schuldgefühle, die er durch Konsum von Alkohol und Drogen versucht zu ersticken. Dann findet er überraschend bei einer Aufräumaktion im Haus seiner Mutter besprochene Bänder seiner ihm bis dahin unbekannten Großmutter Ruth. Und mit diesem Fund wird der Leser dann in die Vergangenheit katapultiert, der Inhalt der Bänder hat später tiefgreifende Folgen auf die gesamte Familiendynamik. Die Bänder wirken wie eine große Lebensbeichte, auf ihnen berichtet die Großmutter über ihr bewegtes Leben, angefangen von einer behüteten Kindheit in einer Musikerfamilie, über ihre Ausbildung zur Opernsängerin bis hin zur Deportation in das von den Nazis errichtete Ghetto Theresienstadt , wo ihr nur die Liebe zur Musik die Kraft gibt zu überleben. Die Musik ist die gemeinsame Sprache, die „Tonart“, die Alexander und sie verbindet. Immer mehr Geheimnisse werden sukzessive gelüftet durch Ruths Erzählungen, Alexander besucht sie sogar noch in New York, wo sie mit stolzen 96 Jahren in einem jüdischen Pflegeheim lebt. Als Leserin wurde ich mitgenommen auf die Reise des Erkennens und Verstehens, umso enttäuschter war ich dann allerdings vom Ende, wo es sich der Autor für meine Begriffe dann etwas zu einfach macht, da hätte ich mehr Leidenschaft erwartet. Dennoch hat das Buch mir durchaus gefallen, es hat meine Neugierde und die Spannung auf den ersten dreihundert Seiten sehr hoch gehalten, und auch den Blick zugewandt auf eine dunkle Seite Deutscher Geschichte. Für unrealistisch habe ich es allerdings befunden, dass alte Traumata, die sich über Generationen hinweg weitervererben, nur durch das Hören von zwei Kassetten auflösen. Sicherlich ist die Aufarbeitung der Familiengeschichte ein erster Schritt in die richtige Richtung auf dem Weg zur eigenen Heilung. Dass sich allerdings so schnell nahezu alle Probleme auf einmal lösen scheinen, war für mich schlichtweg realitätsfern. Daher ein Stern weniger von mir.