So unterhaltsam wie erstaunlich
Eva schrie seit halb fünf in der Früh, jetzt war es halb acht. Robert konnte morgens einfach gehen, um Hochbeete in der Südstadt anzulegen. Lisa hat schon alles versucht Bauchmassage, Schaukeln, Kümmelöl, ...
Eva schrie seit halb fünf in der Früh, jetzt war es halb acht. Robert konnte morgens einfach gehen, um Hochbeete in der Südstadt anzulegen. Lisa hat schon alles versucht Bauchmassage, Schaukeln, Kümmelöl, Fliegergriff, Wickeln, Nippel in den Mund, aber nichts half. Bald müsste sie zum letzten Mittel greifen, ihre Mutter Taja anrufen. Sie hat magische Kräfte. Doch nachdem sie Eva mit russischen Liedern beruhigt hätte, würde sie das Bad mit Chlorbleiche schrubben und versuchen Eva in Kaliumpermanganat zu baden. Am Ende würden sie sich wieder anschreien, die Türen zuschlagen und Eva würde weinen. Der Preis für ein ruhiges Kind war hoch.
Lisa ist vor zwanzig Jahren mit ihrer Mutter nach Deutschland gekommen. Zuvor lebten sie in Nikel in der Arktis. Als Lisa neun war, hatte die Mutter Jörg im Internet kennengelernt. Mutters Deutschkenntnisse beschränkten sich auf: „Hitler kaputt.“ und „Halt, bitte nicht schießen.“ Ein Wissen, das sie in russischen Spionagefilmen aufgeschnappt hatte. Eine befreundete Dolmetscherin half und als Jörg sie in Nikel besuchte, entflammte er. Sechs Monate später zogen sie nach Görlitz.
Lisa hat es zwischenzeitlich auch mit dem gebrochenen Singen russischer Lider versucht und siehe da, Eva ist eingeschlafen. Lisa geht ins Bad, wäscht sich und trägt Wimperntusche auf, gleich kommt ihre Hebamme. Aljona hat keine Kinder, weil sie kein Interesse an Penissen hat, sagt sie. Seit Lisa das weiß, schminkt sie sich für Aljona und würzt ihre Fantasien mit Aljonas Berührungen, aber damit ist jetzt Schluss, denn Aljona geht für mehrere Monate zurück nach Russland.
Fazit: Wlada Kolosowa hat eine Geschichte von Frauen über drei Generationen erzählt. Ihre Mutter musste in ihrer Heimat einen herben Verlust hinnehmen und gebar Lisa erst spät. Die Migration nach Deutschland brachte ihr keine guten Erfahrungen. Die Autorin hat sie als stolze, kühle, theatralische, kleine Frau gezeichnet, die zu Übergriffigkeit neigt. Die Hebamme Aljona ist eine distanzierte Frau mit einer guten Beobachtungsgabe und vielen Geheimnissen. Lisa selbst ist als junge Mutter mit sich selbst beschäftigt und schert sich nicht so um die Gefühle anderer. Zwischen ihrer Mutter und ihr kommt es, wie zwischen Mutter und Großmutter zu verletzenden verbalen Rangeleien. Die Autorin verfügt über eine feine Beobachtungsgabe und hat ihre Geschichte mit so schweren Themen wie Leihmutterschaft und ungewollte Kinderlosigkeit gewürzt. Nebenbei hat sie ein Bild Russlands gezeichnet, das einerseits seine Bevölkerung hungern lässt und andererseits für das Gebären und den Krieg wirbt. Die von den Plakaten strahlenden Soldaten gehören der bestbezahlten Berufsgruppe im ganzen Land an. Die Schwerindustrie hat das Land teilverwüstet. Trotz der schweren Thematik ist die Geschichte locker, flockig und selbstironisch erzählt, ohne ins Oberflächliche abzurutschen. Ein unterhaltsamer Roman, der mich stellenweise in Erstaunen versetzt hat.