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Veröffentlicht am 19.12.2025

Psychologische Punktlandung

Der Rache Glanz
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Cléo steht auf der Bühne und nimmt die vier Awards für ihr drittes Album entgegen. Sie hält ihre tränenreiche Rede, erwähnt das Publikum, ohne dass sie … Schwachsinn, den ganzen Ruhm hat sie allein sich ...

Cléo steht auf der Bühne und nimmt die vier Awards für ihr drittes Album entgegen. Sie hält ihre tränenreiche Rede, erwähnt das Publikum, ohne dass sie … Schwachsinn, den ganzen Ruhm hat sie allein sich selbst zu verdanken, lobt ihr gesamtes Team, das immer hinter ihr steht, dafür werden sie mehr als angemessen bezahlt und verweist auf einige Namen, die keinem etwas sagen. Nach ihrem glorreichen Auftritt blickt sie sich im Raum um und sieht Natalie Holmes an der Bar. Nachdem sie sich ziemlich klar die Feindschaft erklärt hatten, rechnet Cléo damit, dass die Holmes ihren Blick meiden würde, falsch gedacht. Sie kommt sogar auf sie zu und beginnt zu plaudern. Lieber wäre sie jetzt überall, als hier mit einer ihrer Erzfeindinnen zu plänkeln. Sie unterdrückt ein Gähnen, während sie nach den richtigen Abschiedsworten sucht, als die Holmes vertraulich ihre Hand auf ihre legt. Sie habe da einen gigantischen Geheimtipp. Ein Retreat in einem verwunschenen Atoll mitten im Pazifik, sehr kostspielig sicher aber eine Offenbarung. Weißer Sand, Meer, eine Hütte, sonst nichts. Ihr habe der Aufenthalt den Sinn ihres Daseins gezeigt.

Mitten in einer Werbekampagne für ihr drittes Album, sie hatte nur mit Dumpfbacken gearbeitet, macht sich ein Klima der Angst breit, es liegt an ihrer Unausstehlichkeit und das erschöpft sie. Ein paar Tage Auszeit werden ihre Kreativität wieder in Schwung bringen. Sie ruft die ominöse Nummer an, um einen Termin für die Insel zu vereinbaren.

Nun hat sie einige Züge im Ozean getan. Die Gefahr, von der Strömung ins offene Meer gesaugt zu werden oder mit den Stacheln giftiger Fische in Berührung zu kommen, ist der Thrill, der dazu gehört. Danach geht sie in den Verschlag hinter der Hütte und duscht mit lauwarmem Regenwasser. Während sie eine Sandburg baut, herrlich nutzloser Zeitvertreib, bei dem man nicht brillieren muss, greift sie nach ihrem Handy. Da fällt ihr ein, dass sie es abgegeben hat. Keine elektrischen Geräte, so ist der Deal.

Fazit: Maud Ventura hat nach ihrem gefeierten Debüt „Mein Mann“ wieder eine psychologische Punktlandung hingelegt. Ihre Protagonistin wiegt sich, seit sie acht Jahre alt ist in der Gewissheit berühmt, also unvergesslich zu werden. Sie bereitet sich zehn Jahre auf ihre große Karriere als Popsängerin vor. Wenn mir jemand gesagt hätte, dass ich ein 450 Seiten starkes Buch über eine Psychopathin mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung lesen soll, hätte ich dankend abgelehnt. Aber Maud Venturas Schreibstil ist so fesselnd, dass ich die Geschichte inhaliert habe. Die Autorin zeigt von Anfang bis Ende präzise, wie ihre Protagonistin ihr Ziel mit allergrößtem Ehrgeiz verfolgt. Die kluge französische Schönheit komponiert, singt und begleitet sich am Klavier und auf der Gitarre. Sie verzweifelt darüber, dass der Durchbruch nicht gelingen will, bis sie die richtigen Leute trifft. Heimlich bestraft sie sich mit Rasierklingenschnitten und basht sich für jede Fehlleistung. Ein großes Lable protegiert sie und nimmt ihr alles aus der Hand. Ein Koch, ein Bodyguard, eine Yogalehrerin, eine Assistentin, eine Modeausstatterin, ein Choreograf, ein Produzent und das Management sorgen für jede Annehmlichkeit. Einzig ein Mann an ihrer Seite scheint noch zu fehlen, um die Leere zu vertreiben, aber nicht irgendeiner. Die begabte Musikerin gibt Gas. Die Erfolge erfüllen sie nur kurzzeitig, da muss noch mehr drin sein. Menschen berühren sie nicht. Ihre Ungeduld mit allem und jedem, einschließlich sich selbst, nimmt abartige Formen an. Die Autorin peitscht ihre Hauptdarstellerin gnadenlos durch die Erzählung und ich lese staunend, kopfschüttelnd, kurzatmig und wundere mich, wie es möglich ist in jedem Kapitel noch eine Schüppe draufzulegen. Jetzt kann ich mir vorstellen, wie es „da oben“ riecht und schmeckt. Das hat mich so so gut unterhalten. Chapeau!

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Veröffentlicht am 16.12.2025

Gnadenlos gute Unterhaltung

Hohle Räume
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Am Bahnsteig Stuttgart läuft Helene die Treppen hinab. In der Wartezone sieht sie die Eltern. Der Vater kauert auf dem Boden, bindet erst den Schnürsenkel seines rechten Schuhs, dann den linken. Vermutlich ...

Am Bahnsteig Stuttgart läuft Helene die Treppen hinab. In der Wartezone sieht sie die Eltern. Der Vater kauert auf dem Boden, bindet erst den Schnürsenkel seines rechten Schuhs, dann den linken. Vermutlich hat er die Schnüre kurz zuvor gelöst, Untätigkeit liegt ihm nicht. Die Mutter starrt auf die Ankunftstafel. Klein sieht sie aus, die immer noch schönen Haare kastanienrot gefärbt. Helene zieht ihren Koffer hinter sich her und tritt ins Bild. Die Mutter erblickt sie und winkt mit erhobenen Armen. Der Vater nimmt einen Schritt zurück, um ihren Händen auszuweichen. Die Mutter drückt Helene Wirbel für Wirbel an sich, hält sie dann von sich fortschiebend an den Schultern fest und mustert sie. Du isst doch genug Maus, sagt sie. Nach der mütterlichen Prozedur umarmt sie den Vater, er klopft ihre Schulter, wie man es bei einem gutmütigen Gaul machen würde. Wie lange bleibst du, fragt die Mutter. Ich habe ein Rückfahrticket für Samstag. Zehn Tage, das ist aber wenig. Helene findet das schon zu viel. Schließlich sollen nur die Besitztümer der Eltern auseinanderdividiert werden. Sie lassen sich scheiden und Helene soll helfen.

Im Parkhaus tastet der Vater nach dem Autoschlüssel. Als er alle gängigen Taschen durchgegangen ist, fängt er von vorne an. Er sieht die Mutter nicht an, die sich früher immer um solche Dinge gekümmert hat und nun keine Bereitschaft zeigt zu intervenieren. Der Vater findet den Schlüssel, kurz nachdem der Mutter ein Schnauben entfleucht ist. Zu Hause angekommen entkorkt die Mutter eine Flasche Rotwein und verkündet, sie wollten es sich jetzt alle mal richtig gemütlich machen. Die Mutter setzt sich mit ihrem Glas in den Sessel, schwingt die Beine über die Armlehne und kokettiert. Der Vater sitzt auf seinem Sofa, dass das er unbedingt haben wollte, da hat er sich ausnahmsweise einmal durchgesetzt, vor seinem Rotweinglas, obwohl er keinen Alkohol trinkt. Der Vater entscheidet sich dann doch für sein Wasserglas, sie stoßen an und das Wasserglas unterbricht den Wohlklang der aneinanderschlagenden dünnwandigen Gläser. Und Maus, was treibst du denn so, will die Mutter wissen.

Fazit: Nora Schramm hat in ihrem Debüt eine ganz normale Familienidylle durchleuchtet, die bei näherer Betrachtung auseinanderfällt. Die Protagonistin besucht ihre Eltern nach kurzen sporadischen Besuchen nun über einen längeren Zeitraum. Die Mutter wünscht sich Begleitung beim Eheaus. Helene hat das Elternhaus früh genug verlassen, um eine Künstler*innenkarriere zu starten und hatte bisher wenig Zeit und/oder Interesse, sich mit ihrer Herkunftsfamilie auseinanderzusetzen, das holt sie jetzt zwangsläufig nach. Sie beobachtet ihre Eltern ganz genau, seziert deren Gestik, Mimik, deren Verhalten miteinander und zu ihr. Dabei kommt es zu urkomischen Situationen, in denen sich folgendes Bild herausschält. Der Vater glänzt schon immer durch grenzenlose Abwesenheit, verursacht durch die Lethargie, die ihn dazu verurteilt hat, zu allem zu schweigen. Die Mutter jedoch, die durch ihre unendliche Beflissenheit und Leidensbereitschaft jeden Frust, jede Enttäuschung weglächelt, die aufopferungsvoll auf nahezu jedes Bedürfnis verzichtet. Und Helene, die zu keiner Gefühlsregung fähig ist. Helene beschreibt die ganze Szenerie, ohne das Verhalten zu benennen oder zu bewerten und daraus ergibt sich ein regelrechter Film à la Loriot. Obwohl mir mehrmals danach war, Vater und Tochter zu schütteln oder zu treten, hat die mütterliche Omnipräsenz mich ganz klar bei der Stange gehalten. Was für ein konsequent gnadenloses Erzählen. Faszinierend gute Unterhaltung. Ich möchte bitte mehr von Nora Schramms außergewöhnlichen Schreibstil.

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Veröffentlicht am 15.12.2025

Auf Mutters Spuren, sehr berührend.

Mama & Sam
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Sie steht in der Wohnung ihrer Mutter und starrt auf das Loch im Dielenboden. Es sieht aus wie diese Kreidezeichnungen nach polizeilichen Ermittlungen. Die Tatortreinigerin erklärt, dass die Körperflüssigkeiten ...

Sie steht in der Wohnung ihrer Mutter und starrt auf das Loch im Dielenboden. Es sieht aus wie diese Kreidezeichnungen nach polizeilichen Ermittlungen. Die Tatortreinigerin erklärt, dass die Körperflüssigkeiten in das Holz gezogen sind. Vierzehn Tage hätte sie da gelegen, das sagte auch der Leichenbeschauer. Eine Nachbarin hatte die Polizei gerufen, weil das Licht Tag und Nacht brannte und weil der Geruch sie störte.

An Weihnachten hatte sie nach langer Zeit die Tür wieder für ihre Mutter geöffnet. Hatte sich ganz fest vorgenommen, toleranter zu sein, sich nicht wieder ärgern zu lassen. Die Tante hatte bis dahin zwischen den Stühlen gestanden zwischen der Tochter-Mutterpause und sich das beidseitige Gemecker angehört.

Sie solle sich doch einfach an die schönen Momente erinnern, sagt die Tante. Sie erinnert aber vor allem die cholerischen Ausbrüche der Mutter. Sobald die Mutter abends von der Arbeit kam, zog sie sich in ihr Schlafzimmer zurück. Die Tochter musste in ihrem Zimmer bleiben und bis dahin alle WC-Gänge erledigt haben. Und so pinkelte das Mädchen zuerst in die Zimmerecken, dort wo sie dachte, dass es am wenigsten auffallen würde. Nach der ersten harschen Ohrfeige hob sie die Matratze an und pinkelte auf den Lattenrost, sicher, dass die Mutter dort nicht nachsehen würde, aber der Geruch verriet sie.

Sie wird noch einmal in die Wohnung fahren müssen, um Papiere zu sichten. Behörden müssen informiert werden, das Erbe angenommen oder ausgeschlagen werden.

Fazit: Sarah Kuttner hat in ihrem dritten Roman eine misslungene Mutter-Tochter-Beziehung verhandelt. Mit ihrer wunderbar einfachen und direkten Sprache lässt sie ihre Protagonistin auf den Nachlass ihrer Mutter los. Im Laufe der Geschichte erfahre ich, dass die Tochter wusste, dass die Mutter einem Love-Scammer verfallen war. Sie hatte sogar zusammen mit der Tante versucht, der Mutter zu erklären, auf was sie sich eingelassen hat, doch die fühlte sich bevormundet und verbat sich die Einmischung. Das Interessante an Kuttners Geschichte ist, wie die Tochter beim Durchgehen des Nachrichten-Chats den Mutterspuren folgt und einen Menschen entdeckt, der ihr so nah wird, wie er ihr zu Lebzeiten nie sein konnte. Sie entdeckt die liebevolle Frau mit den unbefriedigten Bedürfnissen und Ängsten. Wie klug und witzig sie sein konnte. Und sie entdeckt das ganze Dilemma. Die kühle Mutter, wie sie sie kannte, als überforderte, depressive Alleinerziehende. Echte Wertschätzung hatte sie nie erlebt. Endlich war da jemand, der sie so annahm, wie sie war. Als die Mutter ahnte, dass sie betrogen und vorgeführt wird, konnte sie auf die Liebesbekundungen nicht mehr verzichten. Die Scham hätte alle guten Gefühle zunichte gemacht. Eine wundervolle Annäherung an eine Frau, ganz ähnlich meiner eigenen Mutter. Zu sehen, wie sie Bewunderung für diese Frau entwickelt und der Ton, der immer versöhnlicher wird, die Erinnerungen an Momente, die eben doch schön waren, das hat mich ganz tief berührt und mir ein paar Tränchen geschenkt.

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Veröffentlicht am 12.12.2025

Identitätsfindung in Zeiten von AIDS

Zwei Männer in einem Raum
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Vorbeben (Vorwort) von Christoph Geiser (Zeitzeuge)

Christoph hat eine verlogene Liebe in Bern zurückgelassen und macht sich auf den Weg nach Berlin. Untergebracht in einer Bruchbude, blickt er aus dem ...

Vorbeben (Vorwort) von Christoph Geiser (Zeitzeuge)

Christoph hat eine verlogene Liebe in Bern zurückgelassen und macht sich auf den Weg nach Berlin. Untergebracht in einer Bruchbude, blickt er aus dem vorhanglosen Fenster auf einen trostlosen Kinderspielplatz und entdeckt rechts davon die Blue-Boy-Bar. Seine Verabredung hat ihn ins Bel Ami eingeladen und trifft ihn am Billardtisch zum Vorspiel. Im Abgang zum Keller schaut er auf das gelbe Schild mit den schwarzen Buchstaben: AIDS. Im Jahr 1983 war er Mitte dreißig und besessen von Männerkörpern. Diverse Immunologinnen versuchten die Schwulenszene zu missionieren, zur Abstinenz zu bewegen oder doch zumindest Gummis überzuziehen, aber warum? Sie zeugten ja nicht. In New York husteten sie sich die Lunge aus dem Leib und starben wie die Fliegen. Pneumocystis carnii, hieß es. Bilder vom Kaposi-Sarkom verbreiteten sich. Es komme vom f**** sagten sie. Es treffe nur Schwule.

Walter Vogt

Die beiden hatten ihn in einer verruchten Bar angehauen. Er erfuhr, dass beide ein positives Ergebnis hatten und zeigte sich unfähig, diese gegenwärtige Bedrohung, diese Seuche, wie sie gemeinhin genannt wurde, zu verdauen. Seit etwa zwei Jahren versuchte er mal mehr, mal weniger flapsig dieses Syndrom wegzurationalisieren. Diese Bürde, die von der Liebe kam, mit der mittlerweile etwa dreißig Prozent infiziert waren und die, die das Vollbild aufwiesen, daran starben. Er hatte einen emotionalen Schutzwall um sich aufgebaut und jetzt trafen die beiden jungen Männer ihn mit voller Wucht. Mit seinem pseudowissenschaftlichen Geschwätz versuchte er Ängste zu bannen, verhaspelte sich, hielt inne und schämte sich für seinen negativen Test. Ein Davongekommener. Mehr Glück als Verstand. Keinesfalls wollte er in diesem Gespräch in die Rolle des Arztes verfallen und die beiden zu Patienten machen. Sie waren keine Patienten und es war auch nicht ihr Anliegen, welche werden zu wollen. Sie waren Betroffene, von einem durchaus möglichen, frühen Tod Betroffene. Er hatte sich eingebildet, selbst über den Tod nachgedacht zu haben, aber sicher nicht unter einer potenziellen Bedrohung, sondern eher spielerisch, ja möglicherweise halbherzig.

Fazit: Dieser späte autobiografische Text Walter Vogts (1927-1988) aus dem Jahr 1986 wurde im schweizerischen Literaturarchiv gesichtet und von Guy Krneta jetzt erstmalig herausgegeben. Die „Reihe der Autor
innen ALIT präsentiert die Werke vergessener und verkannter Autor*innen aus deren Nachlass. Die Worte Walter Vogts sind flankiert von einem Vorwort (Vorbeben) von Christoph Geiser und einem Nachwort (Nachbeben) von Kim de l`Horizon (das ich sehr erhellend finde)

Walter Vogt, Psychiater und Autor, machte sich mit seiner Kritik an den „Göttern in Weiß“ Mitte der Sechzigerjahre keine Freunde. In späteren Büchern bekannte er sich zu seiner Bisexualität und schrieb über seine Erfahrungen und Erkenntnisse als Mensch zwischen den Geschlechtern. In diesem Text findet er Worte für seine Zerrissenheit in der Liebe zu einem mit Aids infizierten, deutlich jüngeren Mann. Der Autor spricht leidenschaftlich über seine Gefühle, sein Verlangen und den Wunsch nach Erkenntnis in einer Zeit der Entmenschlichung (Schwulenseuche) und Schuldzuweisung. Ich mag seine klugen Gedankengänge und die Schilderungen seines Erlebens ebenso wie seine Erzählweise. Befremdlich liest sich die scheinromantisierende, diskriminierende Sprache über die kurzen Freuden mit einem „herumstreunenden ägyptischen Jungen“, dem Vogt einen Kuss abkauft. Einen raubkatzenhaften arabischen Jungen. Aus dem übermütigen, bubenhaften siebzehnjährigen Exilkroaten mit den feurigen Augen wird Jahre später der bemitleidenswerte gealterte Luchs mit dem stumpfen Haar und der trockenen Haut, den man in jungen Jahren, in seinen kroatischen Bergen besser erlegt hätte. Vogt verniedlicht, entmenschlicht und diskriminiert seine Sexualpartner, schreibt sich in eine Distanz, die ihn besser, größer, besonders macht, den privilegierten weißen Mediziner. War er ein Kind seiner Zeit, das Rassismus internalisiert hat? Oder war sein Selbstwert so gering, dass er sich über andere (Minderheiten) erheben musste? Wahrscheinlich spielt beides eine Rolle. Etwas, das ich ebenfalls heraushöre und mich unangenehm berührt, das ist die männliche Gier. Sex wird stets mit Liebe gleichgesetzt. Es scheint einerlei mit wem, wie alt und unter welchen Umständen, Hauptsache, es ist funny, das stößt mich ab. Ein interessantes Zeugnis einer unheimlichen Zeit und ein gelungener Einblick in die Schwulenszene, der mir als Außenstehende bisher verschlossen blieb.

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Veröffentlicht am 02.12.2025

Essen als Druckmittel

Halbe Portion
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Sie muss umziehen und es muss schnell gehen. Ein paar Bekannte helfen ihr, die Kartons in die möblierte Zwei-Zimmer-Wohnung zu schleppen. Was sie alles in diesen vielen Kisten habe, fragen sie. Bücher, ...

Sie muss umziehen und es muss schnell gehen. Ein paar Bekannte helfen ihr, die Kartons in die möblierte Zwei-Zimmer-Wohnung zu schleppen. Was sie alles in diesen vielen Kisten habe, fragen sie. Bücher, hauptsächlich Bücher, sagt sie. Und das stimmt zum Teil! Die vielen Lebensmittel, die sie in Sonderangeboten ergattert und gebunkert hat, verschweigt sie. Sie wuchtet den schweren Schreibtisch mitten in den Raum. Sie wird ihn einnehmen, ihm zeigen, dass sie ab jetzt hier wohnt. Sie könnte etwas essen, nicht weil sie hungrig ist, sondern um den Appetit zu stillen und schaut, was ihr Vormieter dagelassen hat. Buchstabensuppe in der Tüte. Klingt heimelig nach Kindheit. Vier Portionen sollen es sein. Nun gut, dann wird sie vier Portionen essen. Kurz danach verspürt sie immer noch ein kleines Loch. Sie füllt es mit Lindor Schokokugeln, die längst abgelaufen sind. Sie hatte sie bei Amazon entdeckt und konnte bei 29,79 statt 38,99 für ein Kilo nicht widerstehen. Eine Kugel hat 74 Kalorien. Sie packt eine aus und schiebt sie zwischen die Lippen. Schmeckt gut. Die freche Kugel hinterlässt Lust auf noch eine, 148 Kalorien. Nun fühlt sie sich schuldig, deshalb nimmt sie noch eine und spürt das Dopamin durch ihr Hirn fluten. Jetzt ist es auch egal, die müssen eh weg. Sie packt noch eine aus, lässt sie auf der Zunge zergehen, 222 Kalorien. Sie denkt, dass das zügellose Essen sie glücklich machen wird, dass das Essen und spätere Übergeben besser ist, als die Schoki wegzuwerfen. Nach 14 Kugeln ist ihr ein bisschen übel. Sie geht vor der Kloschüssel auf die Knie, kotzt Schokolade, Buchstabensuppe und sogar die Karotten, die sie mittags sorgsam in Streifen geschnitten und in Humus getunkt hatte. Sie fühlt sich schlecht, zurückgeworfen, willenlos und labil.

Fazit: Die mehrfach ausgezeichnete Dramatikerin Elisabeth Pape hat in ihrem autofiktionalen Romandebüt Magersucht beleuchtet. In abwechselnden Kapiteln, die früher und heute genannt werden, erfahre ich, dass sie mit ihrer Mutter von der Ukraine nach Berlin kam. Die alleinerziehende Mutter lebte vom Bürgergeld, vom Vater kam keine finanzielle Unterstützung. Die lieblose, zwanghafte Mutter ist auf ihr Gewicht und das ihrer Tochter fixiert. Sie kontrolliert, was ihr Kind sich zuführt und teilt überstreng zu wenig Nahrung ein. Essen wird zum Druckmittel, das (durch verhasstes Klavierspielen oder gute Noten) verdient werden muss. Essen wird zum Liebesersatz für die fehlende Zuneigung. Ein Teufelskreis, der frühe Prägung erfährt und durch Erniedrigung und Bestrafung befeuert wird. Meine psychiatrischen Erfahrungen, in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, sagen mir, dass die Ess-Brech-Sucht und Magersucht ganz schwer zu therapieren ist. Und genau das zeigt die Autorin so gekonnt. Die Hauptdarstellerin zählt jede Kalorie, jeden Cent und vergleicht jedes Supermarktangebot. Sie gönnt sich nichts außer der Reihe, isst, was notwendig ist, um sich „normal“ zu fühlen. Sie findet eine Therapeutin, weil sie wirklich wirklich aus dieser tiefen Lebenskrise hinausfinden will. Doch sie scheitert am Alltag. Jede Entscheidung, die ihre Verantwortung fordert, macht ihr Angst, die sie zum Überessen zwingt. Jede ungewollte Entgleisung schürt ihren Selbsthass und zwingt sie in die Vorratskammer. Jedes Missfallen und das Gefühl, ungeliebt zu sein, befeuert das Bedürfnis, die innere Leere zu füllen. Jeder Stressmoment drängt sie zum Kühlschrank. Die Gedanken kreisen um nichts anderes als Essen und ob sie es sich leisten kann. Verarmungswahn trifft auf eine nicht reale Körperwahrnehmung. Was für ein enormer Stress, der alles an Energie kostet. Diese Geschichte zu lesen ist anstrengend und nervenzehrend. Die Ambivalenz der Betroffenen überträgt sich auf mich, ich liebe und hasse dieses Buch. Ich träume nachts vom Essen. Unglaublich, was die Autorin da geschafft hat, denn deutlicher kann man einem Außenstehenden nicht vor Augen führen, wie beschissen diese Erkrankung ist.

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