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Veröffentlicht am 17.09.2018

Epische Vogelschau auf einen Volkshelden und eine starke Volksseele

Data Tutaschchia
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Tschabua Amiredschibis Roman im Stil eines Volksbuchs erzählt die Geschichte des georgischen Volkshelden und Gesetzlosen Data Tutaschchia. Von dessen Leben ist der Chef der Kaukasischen Gendarmerie, Graf ...

Tschabua Amiredschibis Roman im Stil eines Volksbuchs erzählt die Geschichte des georgischen Volkshelden und Gesetzlosen Data Tutaschchia. Von dessen Leben ist der Chef der Kaukasischen Gendarmerie, Graf Szegedy, von Amts wegen Datas Feind und Verfolger, so beeindruckt, dass er ein Buch über ihn schreibt. Dieses – später aufgefundene – Manuskript bildet das Rückgrat der Konstruktion des Romans, der in vier Bücher aufgeteilt ist. Das erste Buch führt in die Geschichte des ehrbaren Räubers Tutaschchia ein. Graf Szegedys Manuskript wird ergänzt von den Stimmen jener Menschen, die Tutaschchia eine Zeitlang begleitet haben. So entstehen viele authentisch klingende Episoden und Abenteuer, in denen stets Tutaschchia im Mittelpunkt steht. Ihm gegenübergestellt ist sein Alter Ego aufseiten der Strafverfolgung, nämlich sein Vetter Muschni Sarandia, der von ähnlicher Verstandesbegabung ist wie Tutaschchia, aber in den Staatsdienst geht. Es soll sich darin womöglich zeigen, dass es nicht nur ausreicht, persönlich integer zu sein, sondern dass man auch sorgsam auswählen muss, in welcher Sache Dienst man sich stellt.

Das zweite Buch folgt dem Muster, nun aber geht es vermehrt um das Thema „Moral“, so dass manche Episode den Charakter eines „Exempels“ trägt, eines Lehrstückes. Tutaschchia ist ein durch und durch moralischer Mensch, eine „edler Räuber“ und erinnert manchmal an Robin Hood oder Kara ben Nemsi. Was ein „Abrage“, ein Gesetzloser, ist, wird unmittelbar zu Beginn des zweiten Buchs erklärt: Er wird vom Volk sowohl gefürchtet wie verehrt, vielleicht weil er sich die Freiheit nimmt und den Autoritäten trotzt (S. 147). Tutaschchia allerdings ist bisweilen von den Menschen enttäuscht und von der Wirkung seiner guten Taten erschreckt, die nämlich häufig zur Katastrophe führen. Das führt zur Vereinzelung Tutaschchias, der an seinem Dasein als Gesetzloser auch schätzt, mit keinem Menschen verbunden zu sein und gleichzeitig allen – dem Volk. Überhaupt geht es im zweiten Buch sehr viel um das Volk Georgiens und seiner historischen Herkunft sowie seinem von den Geschicken bestimmten Wesen. Den Stimmen des zweiten Buches ist gemeinsam, dass sie den Zustand Georgiens in der Klammer des Zarenreiches beklagen. Dem Volk sei die Liebe entzogen worden: „Die Liebe zur Freiheit, zur Heimat, zum Staat.“ (S. 225) Ausgerechnet in einem Abragen wie Tutaschchia aber scheint sich diese Dreifaltigkeit zu manifestieren. In einem zentralen Gespräch beim Gesetzlosen und Wirt Gogi werden diese Ansichten eines nationalen Aufbruchs thematisiert: „Wohl keine zwei Dinge bedingen einander so sehr wie die Moral des Einzelnen und die Geschicke seines Volkes.“ (S. 231). Wer ist dieser einzelne? Jedermann? Tutaschchia?

Im dritten Buch verlegt sich der Schwerpunkt der Handlung auf Tutaschchias Vetter Sarandia und dessen Karriere im Staatapparat. Es wird verdeutlicht, wie der Weg nach oben den Mann mit denselben edlen Anlagen letztlich korrumpiert. Seine Kniffe und Tricks entbehren dabei nicht der Heimtücke. Sarandia allerdings meint, man müsse der Moral mit „Hinterlist und Böswilligkeit“ auf die Sprünge helfen (S. 462) und verkennt dabei, dass die Moral auf diesem Weg bereits auf der Strecke geblieben ist. Angesichts von Sarandias moralischem Offenbarungseid ringt auch Graf Szegedy um die richtige Position eines gerechten Menschen gegenüber dem Staat und dem Zaren auf der einen und dem edlen Gesetzlosen, der dem Volk dient, auf der anderen Seite. Es ist deutlich, dass Tutaschchia mit seiner Haltung zwar ein Ende finden muss, aber aufrecht stirbt, wohingegen Sarandia buchstäblich dahinsiecht. Wer die Wahrheit verdreht um der Wahrheit willen, dient ihr schlecht. So lobt er: „Ich glaube, dass Dienste zur Verbreitung von Gerüchten eine großem Zukunft haben, sie werden die mannigfaltigsten Formen annehmen; ich sehe es schon kommen, das Zeitalter der massenhaft betriebenen geistigen Sabotage.“ (S. 417) Auch wenn sich diese Feststellung auf den Kalten Krieg bezieht, erweist sich der Autor Amiredschibi geradezu höchstaktuell.

Das vierte und letzte Buch beginnt mit einem Fremdkörper innerhalb des abenteuerlichen Heldenbuches, denn es widmet sich der Zeit Tutaschchias im Gefängnis. Hier nimmt die Geschichte unmittelbares Zeitgeschehen auf, nämlich die unruhigen Jahre vor der Oktoberrevolution. Schon ab 1905 recken sich die Roten Fahnen in die Höge, weshalb ihre Träger als politische Gefangene reihenweise in die zaristischen Gefängnisse wandern. Tutaschchia flankiert hier einen Gefängnisaufstand und die Selbstorganisation der Gefangenen, ohne sich einer Gruppe richtig anzuschließen – das wäre nicht seine Art als heldenmütiger Einzelgänger. Mag dem Autoren diese Episode besonders wichtig gewesen sein – immerhin saß Amiredschibi als politischer Häftling hinter Gittern –, das Politische scheint nicht zum archaischen Helden Tutaschchia zu gehören. Zum Ende des vierten Buches kehrt der Roman zu seinen Anfängen zurück und findet seinen Ton wieder.

Nur Data Tutaschchia betrachtend, dient das erste Buch dazu, ihn als edel und menschlich zu charakterisieren und seine lebenslange Flucht zu begründen. Im zweiten Buch zieht er aus dem Übel, das aus seinen guten Taten entwächst, den Schluss, sich lieber völlig herauszuhalten und gar nichts zu unternehmen, wobei dies seinem Ruf erheblich schadet. Im dritten Buch sieht sich Tutaschchia uneinig darüber, wo er sich in der Gesellschaft verorten soll, und gerät auf der Suche nach „dem bürgerlichen Georgier“ in einer Reihe philosophischer Gespräche, um im vierten Buch letztlich zu erkennen, dass man das Schlechte in der Welt nur bekämpfen kann, indem man Gutes tut.

Fazit

Das episodenhafte Erzählen sorgt dafür, dass die Gesamthandlung immer wieder Pirouetten dreht und nur Langsam vorankommt. Das ruft den leisen Verdacht hervor, dass das Buch eigentlich zu lang ist. Verwirrend sind freilich die vielen Namen, insbesondere wenn Vor- und Nachname die Zehn-Silben-Grenze durchschlagen. Dabei sind manche der auftauchenden Figuren auch in späteren Episoden bedeutsam: Die starken Episoden um Data Tutaschchia nämlich spielen immer eine Rolle, werden aus anderer Sicht neu erzählt und fortgeschrieben. Das verleiht der Handlung einen roten Faden.

Der Roman ist lang und besitzt Längen. „Kürze vermag das Wesentliche zu entstellen“, heißt es aus Seite 450; Länge aber auch. Im vierten Buch scheint auch die Entstehungszeit der Geschichte hindurch – konzipiert in den 1960er Jahren, veröffentlicht 1975. Dem Autoren Amiredschibi ist es darum gelegen, die Stellung des Einzelnen im Kollektivstaat darzulegen sowie Georgiens innerhalb des Sowjetreichs. Da er schon zuvor bei den sowjetischen Autoritäten angeeckt ist, drückt er sich klausuliert aus, bisweilen sogar in der Sprache des Kommunismus. Das ist ermüdend und nicht mehr aktuell. Die Geschichte des Helden hingegen, der sein Schicksal annimmt und ihm trotzt, ist überzeitlich und unbedingt lesbar. Lob hier an die Übersetzerin Kristiane Lichtenfeld, sie hat ein ansprechendes Deutsch gefunden. Ein Namensverzeichnis wäre hilfreich gewesen.

Kurzum: eine Leseempfehlung für alle, die Heldengschichten lieben und das Wesen der kaukasischen Völker verstehen wollen.

Veröffentlicht am 03.04.2018

Naturgewalt vs. Mensch

Terror
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Dan Simmons Roman erzählt die Geschichte von Sir John Franklins letzter Arktisexpedition auf der Suche nach der Nordwestpassage mit den Schiffen „Erebus“ und „Terror“, deren Verlauf und Ende nahezu unbekannt ...

Dan Simmons Roman erzählt die Geschichte von Sir John Franklins letzter Arktisexpedition auf der Suche nach der Nordwestpassage mit den Schiffen „Erebus“ und „Terror“, deren Verlauf und Ende nahezu unbekannt sind. Das nutzt Simmons zu seiner Version der Geschichte, wie sich das Schicksal der 129 Expeditionsteilnehmer im ewigen Eis erfüllt. Die Geschichte ist kapitelweise aus Sicht der Reisenden erzählt, wobei diese „Point of View Characters“ gleichzeitig meist zentrale handelnde sind, hier insbesondere Kapitän Francis Crozier und Dr. Harry Goodsir.
Die Hauptrolle spielt die Arktis selbst: die menschenfeindliche Ödnis, das grausame Packeis, die tödliche Kälte, die erbarmungslosen Stürme, die Drangsal ewig scheinender Finsternis. Auf diesen Gegner glaubte die Expedition dank modernster Ausrüstung gewappnet zu sein, doch eine Dampfmaschine von 22 PS reichte nicht, das Packeis zu brechen, die Konserventechnik war knapp 30 Jahre nach ihrer Erfindung nicht zuverlässig, zumal wenn die Admiralität am falschen Ende spart. Die Hybris des Menschen zeigt sich im unbegründeten Vertrauen auf die Technik und in seinem Traum, die Erde bis in den letzten zugefrorenen Winkel erforschen und vermessen zu wollen. Hierin scheitern John Franklin und seine Begleiter. Sie wagen sich zu weit in den falschen Sund, frieren auf Jahre an der Westküste des King-William-Landes fest und werden durch die unbarmherzige Naturgewalten dezimiert. Der Mensch bleibt auch in der Polarregion des Menschen Wolf: Der Heimtücke fallen ebenfalls einige Expeditionsteilnehmer zum Opfer, und Heimtücke verhindert auch die Rettung durch Eskimos.
Naturgewalt, menschliche Hybris und allzumenschlicher Hass sind ausreichend, um die Geschichte zu erzählen, die sich im Übrigen einer vorzüglichen Sprache bedient und merklich guter Recherche in Reiseberichten der Zeit bedient. Simmons erfindet jedoch leider noch ein Eisbärurzeitmonster, dessen Lauern in der Dunkelheit und am Rande des Gesichtskreises die ganze Geschichte gerade des Mittelteils dominiert und auf das Niveau eines Horrorromans bringt. Zwar wird die Bestie am Ende in die Mythenwelt der Ureinwohner gebettet und erfährt so eine Erklärung, die in den Kontext des Widerstreites von Mensch gegen Natur passt, doch das Horrorelement stört erheblich.
Fazit: Großartiger Roman mit eiskaltem Klima, dessen fünfter Stern jedoch den stahlharten Fängen des Eismonsters zum Opfer gefallen ist.

Veröffentlicht am 03.04.2018

Irrtümer der Wirklichkeit

Der General findet keine Ruhe
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Muss man die argentinische Geschichte kennen, um diesen Roman zu verstehen? Ja und nein.

Ja – denn der General, der keine Ruhe findet, ist Juan Perón, Witwer der hierzulande womöglich bekannteren Evita ...

Muss man die argentinische Geschichte kennen, um diesen Roman zu verstehen? Ja und nein.

Ja – denn der General, der keine Ruhe findet, ist Juan Perón, Witwer der hierzulande womöglich bekannteren Evita Perón, und zweimaliger Präsident Argentiniens. Er wurde durch die politische turbulenten 1930er Jahre, das „berüchtigte Jahrzehnt“ (década infame) der Militärputsche, an die Macht gespült und ´gewann 1946 die Wahlen. Seine Politik war eine rechtsgerichtete Form der „Demokratur“ auf Basis der Arbeiterbewegung. Schon 1955 wurde Perón weggeputscht und überwintert achtzehn Jahre im spanischen Exil. Hier, in Madrid, beginnt auch der Roman.

Nein – denn die Geschichte Peróns ist auch die universelle Geschichte eines von seiner historischen Bedeutung durchdrungenen Entmachteten. Oder die eines Mannes, der in großer Gegenwart um eine große Zukunft betrogen wurde, die er beide zurückhaben haben möchte. Perón ist hier mit dem „großen Gatsby“ vergleichbar: „Sie können die Vergangenheit nicht wiederholen.“ – „Nicht wiederholen?“, rief er ungläubig aus. „Wieso, natürlich kann ich!“ Perón hier wie Gatsby scheitern zu sehen, benötigt die argentinische Geschichte nicht. Das Spiel mit der Vergangenheit, der historischen, ja biographischen Wahrheit, die Bedeutung der Geschichte und der Geschichtsschreibung - diese literarischen Themen weisen über den historisch-faktischen Horizont.
Inhalt

Juan Peron kehrt 1973 nach achtzehnjährigem Exil zurück in die Heimat. Er soll und will wieder regieren, anknüpfen an seine große Zeit, als wäre nichts geschehen. Der Roman begleitet den General bei seinen Reisevorbereitungen und seinen Wanderungen in den Erinnerungen. Die Erzählstränge kreuzen sich hier: Perón macht sich auf zur Rückkehr – „Dieses Flugzeug fliegt in Gegenrichtung zur Zeit.“ (S. 19) –, und mit seiner Ankunft in Argentinien endet der Roman. Gleichzeitig führen die Erinnerungen zunächst ganz an Anfang und Vorgeschichte Peróns und tragen seinen Lebensweg und die Handlung des Romans durch die Jahre seiner Jugend, Kadettenzeit und Militärlaufbahn. Der Perón der Vergangenheit wird vorgestellt als einer, der die Zukunft plant, der Perón der Romangegenwart plant seine Vergangenheit, indem er sie umschreibt. (S. 302)

Der Roman zeichnet vor allem Peróns Selbstbild und seine egozentrische Erinnerungskonstruktion nach, ergänzt aber die Ereignisse durch Erzählstränge über Gefolgsleute und den Journalisten Zamora, der die wahre und wirkliche Geschichte hinter Perón aufzudecken beauftragt ist. Die von Zamora ausgegrabene Persönlichkeit Peróns weicht immer stärker von der selbstbeweihräuchernden Geschichtsverbiegung ab, mit der Perón seine Erinnerungen zur Heiligenlegende seiner selbst werden lässt. „Perón und Jesus Christus - ein einziges Herz“. (S. 240)

Dass Perón in seiner Version der Vergangenheit lebt, wird auch im Motiv der im „Heiligtum“ aufgebahrten Evita verdeutlicht: Der Sarg der populären Betörerin der Massen dämmert unter dem Dach des Exils und wird von Perón wie ein Schrein besucht. Es treffen sich hier zwei Geister: jener der verstorbenen Evita und jener Geist Peróns, der sich von dem realen Menschen längst abgelöst hat. Hier blitzt auch kurz – selten genug – der magische Realismus der südamerikanischen Literatur auf. (S. 362 ff., 422) Peróns „Angst vor der Geschichte“ (S. 142) treibt ihn dazu, mit dem Versuch einer zweiten Präsidentschaft das Rad der Zeit zurückzudrehen, die „Irrtümer der Wirklichkeit“ (S. 78) wie etwa den Putsch 1955 gegen ihn ungeschehen zu machen. „Die Geschichte wird mit derjenigen Wahrheit vorlieb nehmen müssen, die ich erzähle“. (S. 71) Sehr geschickt erzählt Martinez, wie Perón für sich die eigene Geschichte aufbessert, indem er mit seinem sinisteren Privatsekretär das Manuskript seiner Memoiren durchgeht und buchstäblich korrigiert. Immer wieder kreist der Roman um die Konstruktion und Dekonstruktion von Geschichte, von Mythos, Erinnerung, Wahrnehmung; bisweilen auch zynisch: „Die Geschichte ist eine Hure. Sie geht immer mit dem, der am meisten zahlt.“ (S. 261) Oder wiederholt im Motiv der Fliegen, die sich zu Unzeiten überall ballen: 4.000 Augen der Fliegen sehen 4.000 Wirklichkeiten. (S. 300)

Das Romanfinale – Peróns Rückkehr – gerät zum Fiasko: Die Menschenmassen, die seine Ankunft in Ezeiza zu Hunderttausenden erwarten, werden aufgestachelt, niedergeschossen, auseinander getrieben, denn zu unterschiedlich sind die Hoffnungen und Visionen, die seine Anhänger mit Perón und seiner Person verknüpft haben: Sie sind Gegner, sogar Feinde im Namen desselben Mannes. Peróns großer Irrtum ist, geglaubt zu haben, zurückzukehren und einfach weitermachen zu können. Der letzte Satz der Handlung aus dem Mund des Journalisten Zamora fasst alles zusammen: „Wir werden nie wieder so sein, wie wir waren.“ (S. 498)

Cover

Auf dem Cover prangt die Schwarzweißfotografie einer Ankleideszene mit Evita im Zentrum, der Giséle Freund eine Brosche ans weiße Kleid heftet, während vom rauchenden Peron gerade einmal die Generalsmanschetten und der Anschnitt des Gesichtes zu sehen sind. In Rosarot schwingt sich geschnörkelt der Titel in Schreibschrift darüber. Als hätte man eine Schmonzette in der Hand. Vollkommen unpassend.

Fazit

Martinez macht es seinem Leser nicht leicht, seinen sperrigen Roman zu mögen, auch wenn zu keiner Zeit außer Frage steht, dass er gut ist. „Der General findet keine Ruhe“ ist wie London im Herbst: eine tolle Stadt, in der man sich wegen des Wetters aber nicht so gern aufhält.

Veröffentlicht am 03.04.2018

Die Kraft des Glaubens, die Macht des Zweifels

Loney
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„Loney“ ist keine Gruselgeschichte, kein Grauen erregender Schauerroman und keine englische Gothic Novel. Aber der Roman besitzt ausreichend Nebel, englisches Moor, unheimliche Dorfbewohner, eine gefährliche ...

„Loney“ ist keine Gruselgeschichte, kein Grauen erregender Schauerroman und keine englische Gothic Novel. Aber der Roman besitzt ausreichend Nebel, englisches Moor, unheimliche Dorfbewohner, eine gefährliche Halbinsel („The Loney) und ein geheimnisvolles Ereignis in der Vergangenheit, dass alle Komponenten eines Schauerromans beisammen sind. Sogar das Übersinnliche fehlt nicht.
Eigentlich gibt es vom Übersinnlichen sogar zu viel - und zwar zu viel inbrünstigen Glauben. Eine Gemeinschaft streng gläubiger Katholiken - im anglikanischen England sowieso schon ungewöhnlich - fährt jährlich zur Osterwallfahrt in die Nähe des nordwestenglischen Coldbarrow. Mummer und Farther, die Eltern des Ich-Erzählers Tonto und seines zurückgebliebenen Bruders Hanny, beten dort am Schrein für das Wunder von Hannys Genesung. Unruhe kam in die Gemeinschaft, als der strenge, alte Pfarrer Wilfried zuerst nach einem Ereignis am Strand von Coldbarrow sein Wesen verändert hat und schließlich gestorben ist. Nach Jahren bricht die Wallfahrergruppe mit dem neuen Pfarrer nach Coldbarow auf, um alles so zu erleben, wie es immer war. Doch natürlich ist es nie so, wie es immer war, ganz im Gegenteil.

Hurley nimmt sich sehr viel Zeit für seine Handlung, wobei er ausgesprochen geschickt die Puzzleteile seiner Geschichte ins Spiel bringt. Zunächst erfährt man vom Verhältnis der beiden Brüder, das von der Behinderung Hannys geprägt war, für den Tonto stets dagewesen ist. Duch Tontos Augen sieht der Leser den verstorbenen Pfarrer Wilfried mit seinem erstarrten Glauben und seiner Altherrenstrenge; die verkrustete Ehe der Eltern, in der vor allem Mummer zu einem starren System von Entsagung, Gebet, schriller Hoffnung und sklavischem Fsthalten am Gegebenen gefunden hat; auf die anderen Mitreisenden und ihre Fehler; und natürlich auf den Ort der Handlung: Coldbarrow, der Strand an der irischen See und die Halbinsel Loney, um die sich schauerliche Geschichten ranken. Die langsame Einführung der erhellenden Details der Handlung, von der man ab dem ersten Kapitel weiß, dass es um die rätselhafte Heilung Hannys gehen muss, störte nicht beim lesen. Wo man sonst oft das Gefühl hat, vom Autoren absichtlich ahnungslos gehalten zu werden, versteht es Hurley durch die dichte Beschreibung der Personen und Interaktionen sowie vereinzelte Sprünge in die Vergangenheit, des Lesers Wachsamkeit aufrecht zu erhalten.

Die Sprache ist dem Roman angemessen: Einerseits ist sie ernst und düster wie der starre Glaube der Wallfahrer oder das miserable Wetter im Nordwesten Englands, andererseits schön und menschlich, wenn es um die beeindruckende Rauhheit der Landschaft oder die handfest-mitfühlende Persönlichkeit des neuen Pfarrers Bernard geht.

Das Ende des Romans überrascht, auch weil man sich mit den Skeptikern der transzendenten Welt - dem ich-Erzähler oder Father Bernard gegen die frömmelnden Götzendiner - etwa Mummer oder ein paar unheimlich Dorfbewohner - verbündet hat und nun doch auf etwas - sagen wir: - Überirdisches trifft. Doch die behutsame Darlegung der Kraft des Glaubens, die Macht des Zweifels und die stete Wandelbarkeit der „Wahrheit“ überzeugt: „Loney“ ist ein gutes Buch, das seine Leser zum langsamen Genießen und verstehen einlädt.

Veröffentlicht am 08.03.2018

Natural Born Teddys

Die Rache der Polly McClusky
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Nate hat in seinem Leben verdammt viel Mist gebaut, dafür hat er gesessen und sich mit den gefährlichen Jungs angelegt und den Bruder des gefährlichsten Jungen – des Präsidenten der Aryan Steel – umgebracht. ...

Nate hat in seinem Leben verdammt viel Mist gebaut, dafür hat er gesessen und sich mit den gefährlichen Jungs angelegt und den Bruder des gefährlichsten Jungen – des Präsidenten der Aryan Steel – umgebracht. Darum ist er jetzt zum Tode verurteilt worden. Und seine Ex-Frau. Und seine Tochter. Die aber ist das Beste, was Nate je hingekriegt hat, und deshalb will er jetzt keinen Mist bauen, sondern etwas richtig machen: Polly retten.

Er entführt er sie von der Schule - sie und ihren empathischen Teddybären, der die ganze Weisheit eines Teddylebens verströmt und den harten und gewalttätigen Sätzen Harpers ein wenig Plüsch entgegensetzt. Der Teddy ist zwar nicht echt, aber er ist wahr.

Der Weg führt das Vater-Tochter-Gespann durch Kalifornien und durch die härteste Tortur seit Léon der Profi. Harpers Geschichte ist voller Übertreibungen: in der Handlung, den Reaktionen der Figuren, den Locations, der Gewalt und nicht zuletzt in der Sprache. Diese Stilmittel setzt er ein, um einerseits ein geniales Road Movie abzudrehen, dessen markige Wucht einen umhaut. Und um andererseits hinter den Überhöhungen zu zeigen, worauf es ankommt: innere Haltung, Fürsorglichkeit und Wahrhaftigkeit. Pollys Teddy mag ein kitschiges Detail sein, aber es verkörpert den Kontrast zwischen der brutalen Welt und der Wahrheit dahinter.

Ein Buch, das zu lesen Spaß macht und ein überraschendes Ende hat!