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Veröffentlicht am 15.09.2016

Familiensaga über mehrere Generationen

Die langen Tage von Castellamare
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Auf der fiktiven winzigen Insel Castellamare vor der Küste Siziliens ist das „Haus am Rande der Nacht“ ein beliebter Treffpunkt der Insulaner. Dort spielen die alten Männer Karten, tratschen die Frauen, ...

Auf der fiktiven winzigen Insel Castellamare vor der Küste Siziliens ist das „Haus am Rande der Nacht“ ein beliebter Treffpunkt der Insulaner. Dort spielen die alten Männer Karten, tratschen die Frauen, trinken die Gäste Limoncello und verehren alle ihre heilige Sant’Agata. Ihr Vertrauen in sie und ihre Segnungen vereint die Bewohner. Aberglaube und Tradition gehören zum Inselleben. Die Familien leben seit Generationen auf der Insel. Sie kennen die Geheimnisse ihrer Nachbarn noch vor dem Betroffenen selbst. 1914 lässt sich dort der 40jährige Amadeo Esposito, ursprünglich ein Findelkind aus Florenz, als Inselarzt nieder, auf der Suche nach einem Zuhause und dem Leben, nach dem er sich immer gesehnt hat. Beides findet er, als er die clevere Witwe des Schulmeisters, Pina, heiratet. Sie gründen eine Familie und betreiben im Haus am Rande der Nacht eine Bar. Amadeo und später auch seine Nachkommen verursachen Skandale, um sie ranken Gerüchte und Tratsch. Ihr Leben über vier Generationen steht im Mittelpunkt. Obwohl die Insel isoliert ist, ist das dortige Leben nicht immer idyllisch und geht das Weltgeschehen nicht an ihr vorbei. Die beiden Weltkriege, der Faschismus unter Mussolini, die Weltwirtschaftskrise, die Bankenkrise, der Massentourismus, das Internet führen auch auf ihr zu Veränderungen. Das Leben der Espositos und anderer Insulaner wird so plastisch dargestellt, dass der Leser eine gute Vorstellung von der jeweiligen Zeit und der kleinen Insel erhält. Die eingeschworene Gemeinschaft überwindet alle Schwierigkeiten. Die Leute halten zusammen, kümmern sich umeinander und geben so ein gutes Vorbild. Für einige wird die Insel zu klein und sie träumen davon, sie zu verlassen, für andere bleibt sie immer ihr Zuhause. Oft fühlte ich mich quasi hineingesetzt auf die Veranda des Hauses am Rande der Nacht. Die Geschichte ist einfach erzählt, ohne große Handlung, aber genauso ist sie perfekt.
Integriert in diese Familiensaga sind Volksmärchen und Erzählungen, die Amadeo in einer roten Kladde für seine Nachkommen aufgeschrieben hat – es sind Geschichten über Heilige und Wunder, über die Bewohner der Insel, erfunden und wahr. Darunter sind schöne Auszüge der Italienischen Volksmärchen von Italo Calvino.

Eine wunderschöne Familiensaga, die der erste Roman für Erwachsene der Autorin ist.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Wahrheit oder Fiktion?

Nach einer wahren Geschichte
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Wie kann ein Bestsellerautor nach einem solchen unerwarteten und überwältigenden Erfolg ein neues Buch schreiben? Vor dieser Frage steht die französische Autorin Delphine de Vigan, deren im Wesentlichen ...

Wie kann ein Bestsellerautor nach einem solchen unerwarteten und überwältigenden Erfolg ein neues Buch schreiben? Vor dieser Frage steht die französische Autorin Delphine de Vigan, deren im Wesentlichen autobiografischer Roman „Das Lächeln meiner Mutter“ (über den Selbstmord ihrer Mutter und Familiengeheimnisse) 2011 ein großer Erfolg wurde. Viele Schriftsteller scheitern an dieser Herausforderung, nicht so de Vigan. In der ersten Person erzählt sie fragmentarisch und um Chronologie bemüht von den Monaten im Anschluss an das Erscheinen ihres letzten Buches, die für sie zu einem Albtraum werden und in eine totale Schreibblockade münden. Sie trifft die kluge und elegante - namenlos bleibende - L., die als Ghostwriter arbeitet. Diese schleicht sich in ihr Leben, wird zu einer Freundin, einer Vertrauten, ihr immer ähnlicher werdend. Von Beginn an warnt uns die Autorin, selbst auf das Risiko hin, uns die Spannung zu nehmen, dass diese Freundschaft einen gefährlichen Einfluss auf sie selbst haben werde. Diesbezüglich kann das Buch gut und gerne als Psychothriller durchgehen, und so liest es sich auch. Das wird auch äußerlich kenntlich gemacht, indem Stephen King jeweils eingangs der drei großen Buchabschnitte zitiert wird. Eine Besonderheit wird besonders Literaturinteressierten gefallen: Während die Autorin uns ihre heftigen verbalen Diskussionen mit L. über Literatur und die Aufgabe eines Autors schildert, liefert sie uns interessante Aspekte über die Kunst des Romanschreibens. L. drängt sie, einen neuen Teil ihrer Autobiografie zu schreiben. Ihr zufolge müsse sich eine Autorin ihres Formats der Wahrheit verschreiben und nicht ihre Zeit mit erfundenen Geschichten verschwenden. Aber Delphine streubt sich dagegen. Überhaupt steht das Thema Wahrheit/Fiktion im Mittelpunkt. Sehr geschickt wirft de Vigan im Leser fortschreitend bis zum ganz fantastischen Schluss Zweifel auf: Beruht die Erzählung auf einer wahren Geschichte, erzählt die Autorin also ihre Geschichte? Darauf könnten der Buchtitel und die ersten Seiten hindeuten. Oder ist alles Fiktion, erzählt sie also nur eine Geschichte? Eine Antwort wird man nicht finden.

Ein unbedingt empfehlenswerter, anspruchsvoller Roman.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Ein berührender Roman über Freundschaft zwischen den Generationen

Bevor die Welt erwacht
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Ona Vitkus ist eine 104 Jahre alte Immigrantin aus Litauen, boshaft, mit dem Leben hadernd. Unterstützung im Haushalt soll sie von einem elfjährigen Pfadfinder erhalten, der eine Menge Ticks hat. Etwas ...

Ona Vitkus ist eine 104 Jahre alte Immigrantin aus Litauen, boshaft, mit dem Leben hadernd. Unterstützung im Haushalt soll sie von einem elfjährigen Pfadfinder erhalten, der eine Menge Ticks hat. Etwas hat aber der Junge, das Ona ihr Misstrauen aufgeben lässt. Vielleicht ist es sein mangelndes Selbstbewusstsein oder sein Interesse an ihrem Leben oder seine Leidenschaft für das Guinness-Buch der Rekorde. Jedenfalls entsteht zwischen beiden eine enge Freundschaft. Zwei gemeinsame ehrgeizige Projekte haben sie: Erstens will und soll Ona es aufgrund ihres Alters zu einem Eintrag ins Guinness-Buch schaffen und zweitens ist sie dem Jungen Interviewpartnerin für eine Schulhausaufgabe. Nachdem er eines Tages plötzlich stirbt, kommt fortan statt seiner sein Vater Quinn, ein Gitarrist ohne durchschlagenden Erfolg, der zu seinem Sohn nie eine Beziehung hat aufbauen können. Quinn und Ona freunden sich an und über Ona lernt Quinn seinen verstorbenen Sohn kennen.

Dies ist ein außergewöhnlicher Roman über die Themen Kummer, Verlust, Tod, Hoffnung und Freundschaft. Obwohl sehr traurig, lässt er einen überhaupt nicht sentimental oder gar depressiv werden. Sehr beeindruckend sind die Romanfiguren, allen voran „der Junge“, dem man nur auf wenigen Seiten zu Anfang begegnet, der aber dennoch wie ein roter Faden durch die ganze Geschichte läuft. Seine Stimme klingt immer wieder durch, selbst in den Kassettenaufnahmen über Onas Leben, die nur von ihr besprochen werden. Überhaupt sind diese Aufnahmen, die regelmäßig im Wortlaut eingestreut werden, ein gelungenes technisches Mittel. Denn obwohl die Geschichte in der Gegenwart angelegt ist, erfahren wir auf diese Weise so viel über Onas Vergangenheit. Der Junge bleibt vornamenlos, braucht aber auch gar keinen Namen. Am Ende zeigt er allen, worauf es im Leben ankommt. Jede der weiteren Romanfiguren lernt durch ihn wichtige Dinge über sich selbst und dass sie von mehr Wert ist als selbst angenommen. Auch erst zu diesem späten Zeitpunkt erfahren wir Einzelheiten zu dem morgendlichen Ausflug des Jungen auf dem Fahrrad (das passender Weise auf dem Cover abgebildet ist), der ihm den Tod gebracht hat. Diese Passage ist noch einmal sehr berührend geschrieben.

Ein Buch, das ich uneingeschränkt empfehlen kann.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Pflegealltag in deutschen Altersheimen

Die letzten Dinge
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Die Autorin hat ja schon in anderen Romanen Arbeitswelten beschrieben. Jetzt vermittelt sie uns Lesern einen guten Eindruck der für Pfleger sehr belastenden Arbeit in einem Altersheim. Wenngleich das Buch ...

Die Autorin hat ja schon in anderen Romanen Arbeitswelten beschrieben. Jetzt vermittelt sie uns Lesern einen guten Eindruck der für Pfleger sehr belastenden Arbeit in einem Altersheim. Wenngleich das Buch bereits im Jahr 2005 erschienen ist, ist die Thematik so aktuell wie nie. Sowohl Personal als auch Bewohner des (fiktiven) Altersheims „Abendruh“ sind Opfer des Pflegenotstands. Egal, welche berufliche Qualifikation die Mitarbeiter aufweisen, ob examiniert oder „nur“ Stationshilfe, - alle stellen sich täglich aufs Neue bis zur Selbstaufgabe den Anforderungen der zeitintensiven und nervenaufreibenden Pflege betagter, verwirrter Alter. Umso schöner ist es zu erfahren, dass die meisten ihren Job gerne machen, sei es der schwule Pfleger Ivy, der die Nacht zum Tag macht und Mühe mit pünktlichem Erscheinen auf der Arbeit hat, die aus Sibirien stammende Pflegerin Nadjeschda, für die die Zustände in den Heimen in ihrer Heimat sogar noch schlimmer sind, oder die kurz vor der Rente stehende Stationsleiterin Rosalinde, die bis an ihre eigenen gesundheitlichen Grenzen geht. Sehr schön zu lesen sind die (übrigens äußerlich nicht kenntlich gemachten) wörtlichen Reden der Mitarbeiter mit ihren unterschiedlichen Dialekten. Die Bewohner bilden ebenfalls ein buntes Potpourri und geben einen guten Ausblick darauf, wie es ist, alt zu werden. Da ist etwa die demente 96jährige, die immer noch täglich zu ihrer gehobenen Arbeitsstelle will, die ebenfalls verwirrte Alte, die sämtliche Gebisse auf der Station stiehlt, oder der ewig nur die gleichen Worte lallende alte Mann.

Wer irgendeine Beziehung zu Altersheimen hat – sei es, weil dort Angehörige leben, sei es, weil er dort arbeitet -, wird dieses Buch mögen. Bestimmt aber auch andere.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Ein bewegender Roman über Freundschaft

Und damit fing es an
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Der Roman erzählt im Wesentlichen die Geschichte einer Freundschaft zweier Männer, Gustav Perle und Anton Zwiebel. Sie beginnt 1947 in einer Kleinstadt in der Schweiz. Gustav wächst in ärmlichen Verhältnissen ...

Der Roman erzählt im Wesentlichen die Geschichte einer Freundschaft zweier Männer, Gustav Perle und Anton Zwiebel. Sie beginnt 1947 in einer Kleinstadt in der Schweiz. Gustav wächst in ärmlichen Verhältnissen bei seiner Mutter auf, ohne von ihr je Mutterliebe zu empfangen. Sein Vater ist unter ihm verschwiegenen Umständen verstorben, als er ein Baby war. Anton ist der Sohn eines wohlhabenden jüdischen Bankiers und neu in die Stadt gezogen. Er ist ein außerordentlich begabter Klavierspieler, scheitert aber bei entscheidenden Auftritten an seinen Nerven. Die beiden Jungen begegnen sich in der Vorschule und sind seither unzertrennbar. Aus Gustav unbekannten Gründen billigt seine Mutter ihre Beziehung nicht, während er bei den Zwiebels willkommen ist. In drei zu unterschiedlichen Zeiten spielenden Teilen wird ihr Leben geschildert.

Das Buch lebt insbesondere von den interessanten Romanfiguren Gustav und Anton. Letzterer scheint sich nie wohl in seiner Haut zu fühlen. Er wird als gequält, nie zufrieden und egoistisch dargestellt, der Gustavs sanftmütige Art ausnutzt. Dieser wiederum befolgt stets die ihm von seiner Mutter eingebläute Maxime, sich zu beherrschen. Gustav ist der einzige, der Anton versteht und in seine Seele gucken kann. Er lebt meistens in der Vergangenheit, erinnert sich oft an Momente seiner Kindheit und versucht in späten Jahren, das Geheimnis um seinen Vater aufzudecken. Seine engsten Beziehungen hat er zu alten Leuten.
Die Musik nimmt durchgängig eine wichtige Rolle in der Geschichte ein, wodurch diese so besonders wird. Sie hat fast das Tempo einer Symphonie. Antons Wut und Enttäuschung, seine Furcht vor vielen Menschen Klavier zu spielen, sein Hadern mit sich selbst und seinem Leben – alles wird durch das Thema Musik fast spürbar. Von daher halte ich den Titel „The Gustav sonata“ der englischen Originalausgabe für treffender als den ihrer deutschen Übersetzung.
Geschichtlich interessant ist auch, wie das Thema der Judenverfolgung im Zweiten Weltkrieg und die Rolle der neutralen Schweiz aufgearbeitet wird.

Das Buch erhält von mir eine uneingeschränkte Leseempfehlung.