Der Roman ist in mehrere kurze Abschnitte gegliedert und wird aus der Ich-Perspektive einer namenlosen Hauptprotagonistin erzählt. Im Präsens, was nicht unbedingt meinen persönlichen Geschmack trifft, jedoch hervorragend zur Handlung des Buches passt. Die junge Frau stammt aus einer gutbürgerlichen und recht konservativen Familie, die sie mehr unter ihren Fittichen hält, als ihr lieb ist. Sie schafft es jedoch nicht, klare Grenzen zu ziehen und sich vollständig vom Druck ihrer Familie zu lösen. Selbst zum Medizinstudium möchten die Eltern sie zwingen, und es wirkt beinahe wie eine Lächerlichkeit auf sie, dass sie dieses auf Grund ihrer Hematophobie abbrechen muss. Stattdessen wählt sie ein geisteswissenschaftliches Studium, was ich ob ihrer eigenen psychischen Verfassung ziemlich skurril finde. Ein ernst zu nehmender Zustand, der gewiss seine Gründe hat. Da wären zum einen die schwer kranke Großmutter, mit der sie zusammen in einer Wohnung lebt und die im weiteren Verlauf stirbt, zum anderen ihr attraktiver Studienkollege Dominik, der partout auf keine Annäherungsversuche reagiert. Man bekommt das Gefühl, dass sie ihren Platz in der Welt noch sucht. Da ist Marie die perfekte willkommene Abwechslung ...
Marie arbeitet als Kellnerin in einer Kneipe. Sie ist ziemlich selbstbewusst, beliebt und absolut draufgängerisch. Alles, was unsere Ich-Erzählerin eben nicht ist. Recht schnell freunden sich beide an und werden zum ultimativen Duo Infernale.
"Ich greife nach dem Telefon, sehe eine Nachricht von Marie, ich will sie nicht lesen, will nicht an sie denken, will nicht wieder mit ihr saufen und tanzen, danebenstehen, wenn sie flirtet, mir ausmalen, wie sie fickt." (S. 31)
Dieses Zitat beschreibt wunderbar das Verhältnis zwischen den beiden Freundinnen, die eigentlich keine sind. Es ist vielmehr wie eine Art Hassliebe zwischen ihnen. Ein Ja wird zeitgleich zu einem Nein, ein vernünftiger Gedanke geht direkt über in den nächsten Drogen- oder Alkoholkonsumrausch. Die Ich-Erzählerin schwankt in Unsicherheit, ihre Gefühle verändern sich stetig und am Ende weiß sie selbst nicht mehr so genau, was wahr ist und was nicht.
Oft war mir nicht ganz klar, ob die jeweilige Handlung in der Realität stattfindet oder lediglich in den Träumen bzw. Wahnvorstellungen der Ich-Erzählerin. Die Autorin ließ die Grenzen geschickt miteinander verschmelzen, sodass man sich sogartig vorwärts bewegte, gefangen und getrieben in einem Strudel aus Erinnerungen und Einbildungen. So verwirrend das auch war, so sehr faszinierte es mich, zeigte es doch deutlich, wie schnell man selbst die Kontrolle über seinen Verstand verlieren kann.
Der Schreibstil ist außergewöhnlich - und gewöhnungsbedürftig. Meistens sind die Sätze ziemlich kurz oder unvollständig, weil sie das geistige Durcheinander der Protagonistin widerspiegeln. Dadurch verliert man zwischendurch den Überblick bzw. die Orientierung, wovon man sich nicht abschrecken lassen sollte. Im Nachhinein betrachtet war das genau richtig so. Ich nehme an, die Autorin wollte, dass ich mich - wie ihre Ich-Erzählerin - im Durcheinander bewege, dass ich die Zerrissenheit spüre und irritiert nach etwas Greifbarem in einem nicht kohärenten Ganzen suche.
"Er sagt, er wundert sich, dass sie mit so einem Typen -, sie hält ihm den Mund zu, er sagt, er hat noch nie mit einer Frau gefickt, die so geil und gleichzeitig so intelligent, Marie sagt nichts, kommt ein zweites Mal, einmal für mich, denke ich, und schläft zufrieden und gehalten ein, diese pseudofeministische Tussi." (S. 27)
Mir fehlten bei den Dialogen die Anführungszeichen, was das Lesen etwas erschwerte. Daran hatte ich mich bis zuletzt nicht gewöhnen können.
"Wohin?, frage ich sie und schenke Wein nach.
Nach Hause, sagt sie und legt die Gabel zur Seite.
Wo ist das?
Marie schüttelt den Kopf." (S. 42)
"Du siehst heiß aus, sagt Marie.
Ihr seht heiß aus, sagt Clemens." (S. 53)
Das Cover passt perfekt zum Inhalt des Buches.
(Recensio Online)