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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 03.11.2018

Bewegte Familiengeschichte, wunderbar erzählt

Der Apfelbaum
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„Mein lieber Freund und Kupferstecher“ (z. B. S. 209), welch aufregende, generationsübergreifende Familiengeschichte hat uns Christian Berkel da geschenkt. Er gewährt dem Leser einen Einblick in Zeiten ...

„Mein lieber Freund und Kupferstecher“ (z. B. S. 209), welch aufregende, generationsübergreifende Familiengeschichte hat uns Christian Berkel da geschenkt. Er gewährt dem Leser einen Einblick in Zeiten des Überschwangs, die die Jugend der Großeltern geprägt hatten, in Zeiten der alles bestimmenden Angst während des Krieges, der damit einhergehenden Flucht und Gefangenschaft, wie auch in Zeiten gewisser Ziellosigkeit, des Zweifels und der Trauer.

Dabei begibt sich Christian Berkel nicht nur gedanklich, sondern auch sprachlich an die Orte des Geschehens. Die grobe Sprache seiner Großeltern väterlicherseits im Berliner Dialekt hat mich mitgenommen auf den dritten Hinterhof mitten in die problematische, von brutalen Gesten geprägte Kindheit Ottos hinein. Ich habe mit im gelitten und war begeistert von seiner Entwicklung, zu der Otto dennoch im Stande war. Genauso wurde ich in Salas Flucht und ihre verzweifelte Suche nach einem Platz im Leben mit hineingezogen. Die eingestreuten französischen und spanischen Worte und Halbsätze haben mich durchgehend noch dichter ans Geschehen treten lassen. Wie ein Schatten hatte ich mich beim Lesen an die Fersen der Protagonisten geheftet, gefühlt war ich die ganze Zeit dabei.

Etwas ins Stolpern kam ich beim Lesen anfangs in den Szenen, in denen Christian Berkel seine alternde Mutter nach ihrer Vergangenheit befragt und sich mit ihr in ihre schon unvollständigen Erinnerungen begibt. Rückblickend betrachtet, passt dieses Holprige zum Inhalt. Wo nur Bruchstücke vorhanden sind, kann letztlich auch kein geradliniger Lesefluss entstehen.

Besonders gelitten habe ich während der jahrelangen, kriegsbedingten Trennung von Sala und Otto. Die vielen Hemmnisse, die sich im Verlauf ergeben haben, die jeweils durchlebten Qualen, die unterschwellige Eifersucht haben den beiden ein erneutes Zusammenfinden schwer gemacht. So wirkt folgendes Zitat auf Seite 168 wie eine Ankündigung von dem, was noch passieren wird: „Was wäre das Leben ohne ein Fünkchen Eifersucht? Liebe braucht auch immer wieder einen kleinen stechenden Schmerz, sonst schmeckt sie zu sehr nach Bratkartoffeln.“

„Der Apfelbaum“ ist keine leichte Kost, die man in zwei Tagen weg liest, auch wenn der Titel recht unschuldig daherkommt. Der Roman hat mich tief bewegt, immer wieder musste ich innehalten, um das Gelesene wirken zu lassen. Dabei war die Familiengeschichte zu keinem Zeitpunkt langatmig. Mir hat der Roman richtig gut gefallen. Ich empfehle ihn gern weiter.

Veröffentlicht am 18.10.2018

Spannende Psychospielchen

Bösland
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1987 richtet ein 13-Jähriger auf dem Dachboden eines Bauernhauses ein Blutbad an. Mit sieben Schlägen auf den Kopf ermordet er seine Mitschülerin. Die Mordwaffe ist ein Golfschläger. Nachdem dreißig Jahre ...

1987 richtet ein 13-Jähriger auf dem Dachboden eines Bauernhauses ein Blutbad an. Mit sieben Schlägen auf den Kopf ermordet er seine Mitschülerin. Die Mordwaffe ist ein Golfschläger. Nachdem dreißig Jahre lang Gras über die Geschichte wachsen konnte, beginnt sie nun von Neuen.

Obwohl sich recht schnell herauskristallisierte, wer der Mörder des Mädchens ist, blieb das hohe Niveau der Spannung von Beginn bis zum Schluss durchgehend erhalten. Ich war ständig in aufgeregter Erwartung einer neuerlichen Grausamkeit, die als Nächstes seinem planerischen Wesen entspringt. Es wurde viel Wert auf die Herangehensweise des Mörders, auf sein jeweiliges Motiv gelegt. Dadurch wurde ich als Leser so tief in die Geschichte mit reingezogen, dass es auch gut möglich gewesen wäre, selbst der nächsten Gräueltat zum Opfer zu fallen.

Der Protagonist, Ben, war charakterlich sehr gut angelegt. Zunächst hat er noch voller Selbstzweifel ein bescheidenes, zurückgezogenes Leben im Hintergrund geführt. Er war unscheinbar, fast unsichtbar. Im Verlauf hat er dann eine enorme Entwicklung durchgemacht. Bens Kommunikation und sein Handeln wurden aktiver, selbstbewusster. Immer häufiger ging die Initiative von ihm aus. Dabei waren seine sehr detailliert herausgearbeiteten Gedanken stets Indikator für seinen aktuellen Entwicklungsstand.

Rein technisch betrachtet besteht der Thriller aus kurzen Kapiteln, die zum Lesen bis tief in die Nacht hinein verleiten. Dabei wechseln sich Prosakapitel mit Kapiteln im Protokoll-/Dialogstil ab, was mir sehr gefallen hat. So kam passend zur Handlung Geschwindigkeit ins Lesen, die Kapitel flogen nur so dahin.

Fazit: Für mich ist Bösland ein Thriller, den ich sehr gern weiterempfehle. Er ist fesselnd und spannend bis zum Schluss, jederzeit sind Beweggründe und Taten der Charaktere nachvollziehbar. Es gibt eine Wendung, die man erwarten konnte, von der man sich aber auch überraschen lassen kann. Bösland hat also alles, was ein Thriller braucht, Herzrasen inklusive. Besonders gut hat mir die Perspektive des Thrillers gefallen. Die Jagt nach dem Täter durch die Polizei findet nur als Nebenhandlung statt. Vielmehr begleitet der Leser den Mörder mit all seiner Schaffenskraft.

Veröffentlicht am 07.10.2018

Hochgenuss pur

Ein Winter in Paris
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„Romane haben die Eigenschaft, den Leser dazu zu verführen, auf den Schlaf zu verzichten. Lautlos steht er wieder auf, um die Person nicht zu stören, die neben ihm schläft. Er geht ins Wohnzimmer runter, ...

„Romane haben die Eigenschaft, den Leser dazu zu verführen, auf den Schlaf zu verzichten. Lautlos steht er wieder auf, um die Person nicht zu stören, die neben ihm schläft. Er geht ins Wohnzimmer runter, macht das Licht an, legt sich aufs Sofa und gibt sich geschlagen. Die Prosa hat den Kampf gewonnen. Jeder Widerstand wäre zwecklos.“ ( S. 183)

Jean-Philippe Blondel gelingt genau dieser Effekt mit seinem Roman, in dem er mit wunderschöner Sprache Victors Werdegang am Lycée D. in Paris skizziert. Der aus einfachen, provinziellen Verhältnissen stammende junge Mann navigiert in dieser elitären Umgebung stets am Rand der Schlucht des Scheiterns. Just in dem Moment als Victor Hoffnung aufbaut, der Einsamkeit und dem Scheitern zu entkommen, springt Mathieu Lestaing, sein einziger sozialer Kontakt in Paris, in den Freitod. Weil er der einzige war, der Mathieu kannte, steht Victor plötzlich im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses.

Ich konnte mich schon nach wenigen Seiten mit Victor identifizieren, seinen Wunsch, der Provinz zu entwachsen, seine Zielstrebigkeit, die Entfremdung gegenüber seinen Eltern, die mit Fortschreiten seines Studiums zunimmt. Er war mir nicht nur in seiner natürlichen, ungekünstelten Art und in seinem Auftreten gegenüber Kommilitonen und Lehrkräften sympathisch, Victor hat mich mit seiner Gedankenwelt, seinen Zweifeln, die er mit ungebrochenem Ehrgeiz bekämpft, tief berührt. Die gemeinsame Zeit mit Mathieus Vater, Patrick Lestaing, der mit Victors Hilfe zunächst dessen Freitod verstehen wollte, hatte in meiner Wahrnehmung etwas Heil bringendes für beide. Ihre Gespräche als Teil der Trauerbewältigung, der Erfahrungsaustausch und der gegenseitig bedingungslos gezollte Respekt lassen sowohl Victor als auch Patrick herausfinden, was sie für ihr weiteres Leben wirklich wollen.

Eingebettet ist die Geschichte um Victor in eine wunderbar bezaubernde Sprache. Ich habe des Öfteren Abschnitte wiederholt gelesen, nicht des Verständnisses wegen, sondern weil ich den Genuss des Lesens erneut erfahren wollte. Ich empfinde diese liebevolle Symbiose aus verwendeten Satzkonstruktionen und Stilmitteln als wahre Kunst.

Aus meiner Sicht ist „Ein Winter in Paris“ eine literarische Praline, ein Genuss, auf den Literaturfans nicht verzichten sollten. Nach dem Lesen „... war Ebbe, und ich konnte am Strand der Sätze spazieren gehen, die wir [das Buch und ich] ausgetauscht hatten, die Spuren im Sand betrachten, bevor sie weggespült wurden, den Geräuschen des Windes lauschen, das Gesagte noch einmal überdenken.“ (S. 113)

„Ein Winter in Paris“ zählt zu meinen Favoriten in 2018, also ganz klare Leseempfehlung.

Veröffentlicht am 04.01.2021

Literarisch verpackter Thriller

Glasflügel
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Mit dem „Glasflügel“ habe ich nunmehr den dritten Fall von unserem Underdock-Ermittler Jeppe Kørner verfolgt. Da sich seine Kollegin Anette Werner ihrem Baby widmen muss, ermittelt Kørner jetzt mit Falck, ...

Mit dem „Glasflügel“ habe ich nunmehr den dritten Fall von unserem Underdock-Ermittler Jeppe Kørner verfolgt. Da sich seine Kollegin Anette Werner ihrem Baby widmen muss, ermittelt Kørner jetzt mit Falck, der eine ganz anderen Schlag Mensch verkörpert. Dementsprechend holprig beginnen die Ermittlungen.

Spektakulär sind wie schon in den ersten beiden Teilen die Morde sowie der mutmaßliche Tathergang. Kurz nacheinander werden mehrere Leichen mit identischen tödlichen Verletzungen in städtischen Springbrunnen gefunden. Die Kreativität der Autorin bei der Inszenierung der Todesumstände finde ich faszinierend. Das Mord-Szenario bildet jeweils einen engem Zusammenhang mit dem übergreifenden gesellschaftlichen Setting. Der aktuelle Fall setzt sich mit dem kostenoptimierten Gesundheitssystem und falsch verstandener Fürsorge auseinander.

Falck und Kørner kommen hier bis zum Showdown nicht so gut weg. Kørner wirkt wie im ersten Teil der Serie überfordert vom Leben, drückt sich im Privaten vor der Auseinandersetzung mit seinen Lieben, lässt unangenehme Zustände quälend vor sich hin schwelen. Dementsprechend schlecht konzentriert ist er bei den Ermittlungen. Die ein oder andere Spitze von Anette hätte ihm bestimmt gut getan. Über Falck erfährt der Leser nicht wirklich viel. Er ist behäbig und langsam.

Als Gegenpol lernt der Leser Anette in ihrer noch zu findenden Rolle als Mutter kennen. Die taffe Polizistin liebt ihren Job, vielleicht sogar die darin wohnende Gefahr. Jetzt hat sie fast rund um die Uhr in der Nähe des Babys zu bleiben. Die Akzeptanz dessen stellt sich nur mühsam ein. Die innere Zerrissenheit einer gewordenen Mutter, die auch ihre Arbeit liebt, wurde sehr gut transportiert.

Ihrem beschreibenden Stil bleibt Katrine Engberg treu. Ich hatte jederzeit eine gute optische Vorstellung von den Orten und dem Habitus der Charaktere. Ebenfalls beibehalten wurden die vielen Handlungsstränge, die mit diversen Personen besetzt sind, später im Verlauf logisch ineinandergreifen. Diese Vorgehensweise gefällt mir grundsätzlich richtig gut, für meinen Geschmack waren hier ein zwei Personen aus dem Pflegeheim-/Krankenhausumfeld zu viel beteiligt. So musste ich, obwohl ich die wiederkehrenden Charaktere schon kannte, mehr Aufmerksamkeit walten lassen, um den Gesamtüberblick, wer in welche Zeit und an welchen Ort gehört, nicht zu verlieren.

Mein Lesevergnügen musste ich mir so mit etwas mehr Anstrengung verdienen. Dennoch oder gerade deswegen werde ich der Serie treu bleiben. Am besten gefällt mir die geschickte Verknüpfung einer Thrillerhandlung mit kluger Gesellschaftskritik, ergänzt um einen historischen Ausflug. Zudem konnte mich wieder einmal die Herleitung des Titels begeistern.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 25.01.2019

KI - Freund und Feind

God's Kitchen
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Am Institut für neuronale Informatik in München optimiert eine kleine Gruppe von ausgewählten Wissenschaftlern einen kindhaft wirkenden Roboter, eine Künstliche Intelligenz, die offiziell zur Verbesserung ...

Am Institut für neuronale Informatik in München optimiert eine kleine Gruppe von ausgewählten Wissenschaftlern einen kindhaft wirkenden Roboter, eine Künstliche Intelligenz, die offiziell zur Verbesserung der Behandlung von Patienten beitragen soll. Chi, so der Name der menschlich anmutenden KI, soll mit ihrem programmierten Einfühlungsvermögen das Vertrauen der Patienten gewinnen und mit diesen den jeweils besten Behandlungsplan umsetzen. So schön ich die Idee in Zeiten des Pflegenotstandes fand, begann ich trotzdem sehr früh an dem Konzept zu zweifeln. Im Rahmen der Entwicklung wurden Fähigkeiten implementiert, die aus meiner Sicht zur Pflege nicht unbedingt oder zumindest nicht in dem Ausmaß erforderlich sind. Da Chi ein selbstlernender Computer ist, fängt die KI schon sehr bald an, sich zu verselbstständigen.

In dieses Forschungsprojekt wird Céline, Psychologiestudentin mit besonderer Gabe, wie zufällig hineinkatapultiert. Seit ihrer frühen Kindheit hat sie Visionen von Ereignissen, die dann tatsächlich passieren. Nie hat ihr jemand geglaubt, die meisten Mitmenschen fanden Céline merkwürdig. Ihre Aufgabe am Institut ist es, als Input für Chi Menschen und Situationen anhand von Videoaufnahmen zu beurteilen. Mir persönlich kam Céline ein wenig naiv vor. Sie lässt sich von Pandora, die sie für das Projekt angeworben hat, und auch von Chi für mein Empfinden zu stark vereinnahmen. Gerade zu Beginn hinterfragt sie kaum etwas, stupide erledigt sie, was von ihr verlangt wird. Lange hegt sie nicht den geringsten Verdacht, das Interesse an ihr könnte im Zusammenhang mit ihrer Gäbe stehen.

Pandora ist die heimliche Chefin des KI-Projekts. Pandora und Kim, ein hochkonzentrierter, aber ansonsten recht farbloser Forschungsingenieur, haben sich meiner Meinung nach innerhalb ihres Projekts verrannt. Fasziniert von den Möglichkeiten, die Chi ihnen eröffnet, sind beide süchtig nach dem nächsten „Forschungskick“. Sie driften ins Unethische ab, lassen sämtliche Gefahren außer Acht.

Margit Ruile stellt in God’s Kitchen sehr gekonnt das Für und Wider von Künstlicher Intelligenz dar. Dabei urteilt sie weder in die eine noch in die andere Richtung, Margit Ruile ruft zwischen den Zeilen lediglich dazu auf, potentielle Auswirkungen der KI im Blick zu behalten. Ihr Schreibstil liest sich flüssig und fesselnd. Die kurzen Kapitel animieren zum steten Weiterlesen. Ich musste mich regelrecht zwingen, eine Pause einzulegen. Für God’s Kitchen muss man auch kein Informatiker sein. Es hat mir gefallen, dass Margit Ruile auf umfangreiches Fachchinesisch verzichtet.

Kritisieren möchte ich lediglich die Umsetzung der asiatischen Wurzeln der Charaktere Kim und Céline. Bis auf die anfängliche Beschreibung war davon für mich im Verlauf nicht mehr genug zu spüren. Deshalb kam diese Tatsache in meinem Kopf nicht wirklich an. Vielleicht hat mich auch das typisch deutsche Setting im Institut, mit grummelnder Empfangsdame, Antragsprozedere für Büromaterial und Zugangsbeschränkungen abgelenkt. Letztlich war das für die Story auch nicht so wichtig. Im Nachhinein betrachtet wirken die asiatischen Wurzeln auf mich dennoch etwas aufgesetzt.

Insgesamt hat mir God’s Kitchen gut gefallen. Meine Erwartungen nach der Lesung auf der LMB18 wurden voll erfüllt. Der Roman war spannend, hat mich in seinen Bann gezogen. Nach viel zu kurzer Zeit hatte ich God’s Kitchen ausgelesen. Gern empfehle Margit Ruile‘s Roman weiter.