Profilbild von Havers

Havers

Lesejury Star
offline

Havers ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Havers über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 25.10.2018

Familienepos und rasanter Politthriller

Die Wilden - Brüder und Feinde
0

Sabri Louatah ist ein französischer Autor mit algerischen Wurzeln, geboren und aufgewachsen in Saint-Étienne. Mit seiner Wilden-Trilogie (im Original 4 Bände) hat er die, obwohl fiktiv, aber doch von realen ...

Sabri Louatah ist ein französischer Autor mit algerischen Wurzeln, geboren und aufgewachsen in Saint-Étienne. Mit seiner Wilden-Trilogie (im Original 4 Bände) hat er die, obwohl fiktiv, aber doch von realen Ereignissen geprägte Geschichte einer Migrantenfamilie geschrieben. Aber es geht auch um eine Nation, die sich zwar weltoffen gibt, aber in der die Vorurteile und Diskriminierung, speziell der Einwanderer aus dem Maghreb, tagtäglich zu beobachten sind.

Wir erinnern uns: Die Nerrouches kommen aus Algerien, leben aber bereits seit drei Generationen in Frankreich. Angepasst in allen Bereichen sind sie das beste Beispiel für eine gelungene Integration. In Frankreich stehen Präsidentschaftswahlen an, und zum ersten Mal könnte Idder Chaouch, ein Kandidat ihres Volkes, die Wahl gewinnen. Doch es gibt mächtige Widersacher, die das verhindern wollen und einen Sohn der Familie unter Druck setzen und als Attentäter anheuern.

Chaouch überlebt schwer verletzt, und die Ermittlungen des französischen Geheimdienstes ergeben recht schnell, dass ein Sohn der Familie Nerrouche für den Anschlag verantwortlich ist. Gelungene Integration? Das zählt nicht mehr. Plötzlich sind sie wieder fremd im eigenen Land und müssen sich nicht nur gegen Ressentiments aus den verschiedensten Ecken behaupten sondern auch die Einheit ihrer Familie wieder herstellen. Und darum gilt es, die Hintermänner ausfindig zu machen und deren Motive bloßzulegen. Hilfe kommt von unerwarteter Seite in Gestalt eines jungen Journalisten…

Es waren die Unruhen in den Pariser Vorstädten, die Sabri Louatah zu diesem Roman inspiriert haben. Obwohl fiktiv, könnten die geschilderten Ereignisse doch jederzeit Realität werden. Und nicht nur in Frankreich sondern überall in Europa. Man denke nur an die Welle der Entrüstung, die sich nach der Wahl des Londoner Bürgermeisters Sadiq Aman Khan in England ausbreitete. Und natürlich gibt es auch immer politische Brandstifter, die durch hinterhältige und wohldurchdachte Intrigen mit den Ängsten der Menschen spielen und Keile in die Gesellschaft treiben wollen, um diese zu spalten. Wobei es allerdings immer nur um ihren eigenen Vorteil geht.

Ein großes Familienepos und ein überaus rasanter Politthriller mit wichtiger Thematik – gerade in heutigen Zeiten.

Veröffentlicht am 25.10.2018

Keiner ist ohne Schuld

Blutiger Januar
0

Die Riege der schottischen Autoren hat Zuwachs bekommen – und was für einen! Mit „Blutiger Januar“ legt Alan Parks einen Erstling hin, der es in sich hat. Im Zentrum steht Harry McCoy, Detective bei der ...

Die Riege der schottischen Autoren hat Zuwachs bekommen – und was für einen! Mit „Blutiger Januar“ legt Alan Parks einen Erstling hin, der es in sich hat. Im Zentrum steht Harry McCoy, Detective bei der Polizei in Glasgow. Aber er geht seinem Job nicht in dem Glasgow nach, das 1990 Europäische Kulturhauptstadt wurde. Das wäre wahrscheinlich auch zu langweilig. Nein, Parks hat sich dafür zwanzig Tage im Januar 1973 ausgeguckt, eine Zeit also, in der die Stadt, bedingt durch den Niedergang der Wirtschaft, am Boden liegt. Hohe Arbeitslosigkeit, daraus resultierende Armut und leere Stadtsäckel sorgen dafür, dass die Kriminalitätsrate an die Decke geht und Glasgow an die Spitze der Verbrechenshauptstädte Europas vorrückt. Drogen, Prostitution, organisiertes Verbrechen. Das zeigt uns Parks: einen ungeschönter Blick auf die Elendsquartiere der Obdachlosen und die Tristesse der kleinen Leute auf der einen Seite, Protz und Prunk der Wohlhabenden auf der anderen.

Ausgangspunkt ist der Mord an einer jungen Frau, deren Mörder sich nach dem tödlichen Schuss selbst richtet. Einer von McCoys ehemaligen „Klienten“, aktuell im Knast von Barlinnie einsitzend, hatte ihm die Tat angekündigt, wusste aber nicht warum und von wem. Gemeinsam mit dem Neuling Wattie wird er auf den Fall angesetzt. Allerdings wissen seine Vorgesetzten zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass er damit jede Menge Dreck an die Oberfläche befördern und nicht nur dem Glasgower Geldadel gehörig auf die Füße treten wird, denn in diesem Krimi ist keiner ohne Schuld.

„Everybodys darling“ wird McCoy nun sicherlich nicht werden, Vorzeigepolizist geht anders. Er trinkt zu viel, konsumiert Drogen und geht keiner Prügelei aus dem Weg. Seine Freundin ist eine heroinabhängige Prostituierte, sein Freund aus Kindertagen ein gewalttätiger Schläger in der Glasgower Unterwelt, mit dem ihn eine gemeinsame Vergangenheit in einem Kinderheim verbindet.

Die Story an sich ist gradlinig geplottet, düster, stellenweise harte Kost, dem „Tartan Noir“ zuzuordnen. Allerdings bleibt Parks z.B. im Vergleich mit Mina, der anderen Chronistin Glasgows, eher an der Oberfläche. McCoy sieht, was um ihn herum vor sich geht, die Schieflage der Gesellschaft, aber kommentiert das höchstens in Ansätzen. Hier hätte ich mir etwas mehr Reflexion/Kritik gewünscht, aber es sei ihm verziehen. Und kann ja noch kommen, denn „Blutiger Januar“ ist der erste Band der Reihe mit Harry McCoy. Der Nachfolger „February’s Son“ ist im Original, wie könnte es anders sein, für Februar 2019 angekündigt und wird natürlich auch gelesen.

Veröffentlicht am 23.10.2018

Ein Roman für meine Jahresbestenliste

Mein Ein und Alles
0

Gabriel Tallent ist mit „Mein Ein und Alles“ ein Roman gelungen, der keinen Leser unberührt lassen wird, und ich kann mich der Meinung Stephen Kings anschließen, der dieses Debüt als ein Meisterwerk bezeichnet ...

Gabriel Tallent ist mit „Mein Ein und Alles“ ein Roman gelungen, der keinen Leser unberührt lassen wird, und ich kann mich der Meinung Stephen Kings anschließen, der dieses Debüt als ein Meisterwerk bezeichnet und es mit den großen Klassikern der amerikanischen Literatur vergleicht. Für mich ist es eine Mischung aus Thoreaus „Walden“ und Woodrells „Winter’s Knochen“. Thoreau wegen der ausufernd detaillierten Beschreibungen einer ungebändigten Natur, Woodrell wegen Turtle, dem Mädchen, das allerdings erst im Laufe der Handlung zu dieser Stärke gelangt, die Ree Dolly von Beginn eigen ist. Außerdem ist ein wichtiges Thema - und zutiefst amerikanisch - die Bedeutung der Waffen, deren Gebrauch und Pflege eine zentrale Rolle in diesem Roman einnimmt.

Tallent beschreibt eine Vater/Tochter-Story, die von Obsession, Dominanz und Missbrauch erzählt, aber gleichzeitig ist es auch die Geschichte der Befreiung aus einer zerstörenden Beziehung. Seit dem Tod der Mutter lebt Turtle mit ihrem Vater in den nordkalifornischen Wäldern. Es ist ein dreckiges, rohes Leben für das Mädchen, geprägt von physischen und psychischen Misshandlungen durch den obsessiven, in Waffen vernarrten Vater, der schöngeistmäßig einerseits die Werke der großen Philosophen liest, andererseits seine Tochter regelmäßig vergewaltigt. Die Gefühle des Mädchens sind widersprüchlich, sie hasst ihn und sie liebt ihn, ist er doch ihre einzige Bezugsperson. Aber dann lernt sie Jacob kennen, einen gleichaltrigen Jungen, der ihr zeigt, dass Beziehungen auch anders funktionieren können. Und das ist der Auftakt für Turtles schmerzhafte Befreiung von ihrem Vater.

Es ist ein eindringliches Leseerlebnis. Der Autor verlangt uns einiges ab. Manchmal muss man das Buch einfach zur Seite legen und das Gelesene sacken lassen, weil man die Brutalität in dieser Vater/Tochter-Beziehung kaum noch aushalten kann. Im Gegensatz dazu steht die Sprache, so poetisch und federleicht, die ein Gegengewicht schafft. Absolut beeindruckend, mit einer Protagonistin, die man so schnell nicht vergessen wird. Keine Frage, ein Roman für meine Jahresbestenliste!

Veröffentlicht am 23.10.2018

Für Freunde des Hardboiled-Genres ein absolutes Muss!

Das dunkle Herz der Stadt
0

George Pelecanos, amerikanischer Autor mit griechischen Wurzeln, ist in Washington D.C. aufgewachsen. Und es ist das Leben in dieser Metropole, die sein Schreiben geprägt hat, die in seinen Romanen immer ...

George Pelecanos, amerikanischer Autor mit griechischen Wurzeln, ist in Washington D.C. aufgewachsen. Und es ist das Leben in dieser Metropole, die sein Schreiben geprägt hat, die in seinen Romanen immer wieder in den Vordergrund drängt. So auch in „Das dunkle Herz der Stadt“, dem Abschlussband der Nick Stefanos-Trilogie, erstmals 1995 erschienen, nun endlich auch von Karen Witthuhn sehr stimmig ins Deutsche übersetzt und in dem fränkischen Verlag ars vivendi erschienen. Bleibt zu hoffen, dass der Roman viele Leser findet – verdient hätte er es allemal, auch wenn die Hauptfigur Nick Stefanos nicht der typische Sympathieträger ist. Ex, das ist das vorherrschende Persönlichkeitsmerkmal von Stefanos. Ex-Cop und Ex-Privatdetektiv, ein Säufer, der die Spirituosen auf Ex kippt, zu denen er durch seinen Job als Barkeeper unbeschränkten Zugang hat.

Als er nach einem seiner Alkoholexzesse völlig derangiert am Flussufer erwacht, erinnert er sich vage daran, dass er in der vergangenen Nacht den gedämpften Knall eines Schalldämpfers gehört haben könnte. Gehört haben könnte, wie jemand ermordet wurde. Er hat sich nicht getäuscht, die Leiche eines Jugendlichen wird im Wasser gefunden. Aber interessiert sich jemand für die Aufklärung? Für die Polizei ist es nur ein Fall unter vielen. Ein ermordeter schwarzer Teenager? Schnell erledigt, ganz klar eine Gang-Geschichte, ein Junkie, Drogen - kann man ad acta legen. Nicht so Nick, der Zweifel an dieser Theorie hegt, vor allem, weil auch ein Freund des Mordopfers von der Bildfläche verschwunden ist. Da ist er wieder, sein Schnüfflerinstinkt, der ihm keine Ruhe lässt. Und der so heftig an ihm nagt, dass er die Nachforschungen selbst in die Hand nimmt, unterstützt von Jack LaDuke, der Auftrag hat, den vermissten Freund des Opfers zu finden.

Es gibt zwei Protagonisten in diesem Kriminalroman. Einerseits natürlich Nick Stefanos, der uns aus der Ich-Perspektive an den Ermittlungen in diesem Fall sowie auch äußerst ausführlich an seinem Leben teilnehmen lässt. Zum anderen die Unterwelt von Washington, Hauptstadt am Potomac, nicht glitzernd und glänzend sondern trostlos, dunkel und dreckig und kalt, deren Darstellung über die Jahre sich der Autor verschrieben hat. Er nimmt uns mit in die verrufenen Viertel, in die Sozialbauten, die „Projects“, wo die Verlierer des amerikanischen Traums hausen. Es ist eine Reise in die Finsternis, authentisch gestaltet durch Filmtitel, Automarken und natürlich die allgegenwärtige Musik aus dem Autoradio.

Nix für Zartbesaitete, aber für Freunde des Hard boiled-Genres ein absolutes Muss!

Veröffentlicht am 06.09.2022

Unterhaltsames zur Lage der Nation

London Rules
0

Was haben ein abgelegenes Dorf in den East Midlands, tote Pinguine, eine Bombe in einem Zug nach Paddington und die Entführung von Roddy Ho gemeinsam? Haben sie, oder haben sie nicht? Zufall oder Masterplan? ...

Was haben ein abgelegenes Dorf in den East Midlands, tote Pinguine, eine Bombe in einem Zug nach Paddington und die Entführung von Roddy Ho gemeinsam? Haben sie, oder haben sie nicht? Zufall oder Masterplan? Terrorismus? Natürlich gilt es herauszufinden, wer hinter all diesen Aktionen steckt. Die Beantwortung dieser Fragen ist die Aufgabe, die die Slow Horses lösen müssen, wenn sie ihren nerdigen Mitstreiter wiedersehen möchten. Obwohl man durchaus leise Zweifel anmelden könnte, ob sie das überhaupt wollen, denn weder ist Ho beliebt noch gibt es einen Teamspirit innerhalb dieser sich ständig im Fluss befindlichen Gruppe von kaltgestellten Geheimdienstlern Ihrer Majestät. Aber er ist einer der Ihren, von daher alles im grünen Bereich.

Anfangs tappen sie im Dunkeln, alle, bis auf J.K. Coe, den psychopatischen Neuankömmling mit den Kopfhörern aus dem vorherigen Band. Zum einen ist er davon überzeugt, dass es einen Zusammenhang zwischen diesen Ereignissen gibt, sie ergo von ein und demselben Team verübt worden sind, zum anderen erkennt er, dass sich die Vorgehensweise an ein altes Dossier des Geheimdienstes anlehnt, das Anweisungen zur Destabilisierung unterentwickelter Staaten gibt. Aber wer hat ein Interesse daran, es ausgerechnet jetzt zum Einsatz zu bringen und warum?

Das Original der „London Rules“ ist 2018 erschienen, also zwei Jahre nach dem Brexit-Referendum. Und wie immer verkneift es sich Mick Herron nicht, den Zustand der Nation höchst ironisch und mit Seitenhieben auf die realen politischen Zustände im Land in diesen fünften Fall der Slow Horses einzuarbeiten. Herrlich, die satirische Beschreibung des tumben Europa skeptischen Abgeordneten, der nach dem Posten des Premiers schielt und seiner ehrgeizigen Ehefrau, die in ihren Kolumnen in einer Boulevardzeitung seinen Konkurrenten in wenig subtiler Art an den Pranger stellt.

Auch wenn ich die Dialoge liebe, die erfrischenden und respektlosen, politisch inkorrekten Aussagen, ist es für mich ein eher schwächerer Band der Reihe. Zu oft wird die Handlung durch endlose Diskussionen und Wiederholungen ausgebremst, was Längen generiert und Kernaussagen verwässert. Dennoch tut dies meiner Liebe für die Lahmen Gäule von Slough House keinen Abbruch, den jede/r einzelne dieser Agenten auf dem Abstellgleis hat mehr Ehre im Leib, als inkompetente Politiker wie der Premier (ein kritischer Blick auf die neugewählte Premierministerin Liz Truss sei gestattet) und die verschlagenen Handlanger vom Geheimdienst, allen voran Claude Whelan, dessen gesamtes Handeln an der ersten London Rule „Rette deinen A...h“ ausgerichtet ist. Und diese Menschen maßen sich an, über Wohl und Wehe der Nation zu entscheiden?