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Veröffentlicht am 04.02.2017

Hintergründiges über die Wechselwirkungen von Macht und Privatem

Wir müssen dann fort sein
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Dirk Brauns beleuchtet in seinem Roman „Wir müssen dann fort sein“ das Leben seines Protagonisten Oliver Hackert zwischen (Post-) DDR und Post-Sowjetunion – letzteres am Beispiel Belarus/Weißrussland. ...

Dirk Brauns beleuchtet in seinem Roman „Wir müssen dann fort sein“ das Leben seines Protagonisten Oliver Hackert zwischen (Post-) DDR und Post-Sowjetunion – letzteres am Beispiel Belarus/Weißrussland. Das Buch ist in zwei Teile geteilt: ab S. 185 ist Hackert in Minsk, wo er als Auslandskorrespondent einer deutschen Zeitung mit seiner einheimischen Ehefrau lebt. Mit dem Ziel seines beruflichen Aufstiegs und der Möglichkeit einer Versetzung nach Berlin will er den Diktator Lomon in Minsk im Interview mit internen brisanten Informationen konfrontieren. Im Teil davor ist er in Deutschland, um an diese zu gelangen; sein Vater ist ein Freund desjenigen, von dem er sie erhalten will. Dummerweise ist der Kontakt zwischen Vater und Sohn vor 10 Jahren abgebrochen.

Brauns beherrscht bestimmte sprachliche Taktiken, an die ich mich erst gewöhnen musste, so eine Art „Schnitzeljagd“: Er streut eine Bemerkung ein, die ich anfangs noch überlas – später wird sie dann wieder aufgegriffen, dabei mal aufgelöst, mal erweitert, mal variiert.
So steht da „Unter der Zeltplane, an die ich denken musste, lag ein Toter.“ (S. 51). Dieser Satz steht allein, soll aber noch eine Rolle spielen.
Oder nach der Westflucht seines besten Freundes „Er hatte mir Nadine zurückgelassen, ein lebenshungriges Mädchen in einem, wie sich herausstellen sollte, sehr besonderen Zustand.“ (S. 81) Später werden die Folgen der Abtreibung geschildert.
Ebenso eingestreut sind die Reportagen, die Hackert veröffentlicht – welchen Zweck er dabei mit bestimmten Themen verfolgt, wird auch im Verlauf immer klarer.

Ab hier fällt es schwer, das Buch zu rezensieren, ohne zu spoilern – es geht quasi im Systemvergleich DDR und Weißrussland um Konflikte zwischen Vätern und Söhnen, darum, wie Menschen sich einer Idee voller ehrlich empfundenem Enthusiasmus verschreiben, wie andere rebellieren, weitere sich arrangieren, etliche leiden. Es geht um Schuld und –bewusstsein, Macht, Wissen. Viel Wissen wird nebenbei vermittelt (DDR, Belarus). Tragisch erscheint die Rolle des Vaters – inwieweit auch der Sohn am Ende in der Realität angekommen ist, scheitert oder einfach endlich aufgeklärt wurde, mag im Auge des Betrachters liegen. Speziell zu Hackert bleibe ich bis zuletzt unentschieden.

Ich lebe selbst in einer „gemischt deutsch-deutschen Familie“ und denke, dass (unabhängig von meinen Erfahrungen) nicht jedem Teile der Sicht von Autor Brauns zur Vergangenheit gefallen können: so redet er von dem „halben“ oder „kleinen“ Land DDR. Auch bezüglich der Wehrzeit des Protagonisten bei der Bereitschaftspolizei lässt er kein gutes Haar an den Volkspolizisten, ihre Beschreibung deutet an, als wären alle besoffen oder dämlich (S. 136). Das mag ich ebenso wenig wie die Filme, die z.B. Nazis oder Kleinkriminelle so darstellen, mit Verlaub, das diskreditiert auch etwaige Opfer. Über spezifisches „Kasernen-Verhalten“ hat man leider inzwischen auch beispielsweise zu bestimmten Bundeswehreinheiten aus den Medien lernen dürfen (rohe Leber essen). Auch die Beschreibung über Sex unter einigen der Männer aus Dominanz und als Ausweichhandlung war mir eher zu klischeehaft, das wird sonst gerne für Gefängnisse beschrieben.


Vorab – mir hat das Buch sonst sehr gut gefallen, bis auf etwas, das hier mehrfach erwähnt wurde: es gibt zwei Stellen, die auch ich als etwas zu sehr über die Kippe zwischen direkt und vulgär hinaus gegangen empfinde (den Kasernensex fand ich eher langatmig).
Zur Verdeutlichung zitiere ich hier bewusst:
Einmal geht es um erste sexuelle Erfahrungen des Heranwachsenden – mit etwas mehr Details als nötig.
-> Abschnitt ab S. 43 unten
„Vor meinem inneren Auge tauchten die geschwänzten Schultage auf, wenn mein Vater sich auf Lesereise begeben hatte. Mit den Frauen des Magazins, einer für damalige Verhältnisse freizügigen Zeitschrift, zog ich mich in dieses Zimmer zurück.
…bis S. 48 unten
„Das war nicht das Ende unserer Beziehung. Über Jahre liebten wir uns während der Lesereisen meines Vaters. Das Haus meines Vaters war ohne Nadine nicht vorstellbar. Obwohl sie drüben auf der Terrasse lag, war sie hier. Bei mir. Sie trabte durch die Räume und wollte gewichst werden.“
Auch beim zweiten Abschnitt geht es um seine Jugendfreundin Nadine. Während die Beziehung der beiden viel von einem Zweckbündnis hat, war Hackerts bester Freund Mike sehr verliebt in sie. Als Mike in den Westen flüchtet, kommen Hackert und Nadine wieder zusammen – davor hatte Nadine das Kind, das sie von Mike erwartete, abgetrieben.
-> S. 88/89 schildert auch die Konsequenzen direkt danach etwas zu plastisch für meinen Bedarf
Ich hoffe, dass der Autor sich mit diesen Szenen und dieser Wortwahl etwas gedacht hat – ich weiß jedoch nicht recht, was. Die Darstellung wirkt unangemessen und kontrastiert sehr mit der Darstellung später zu den Eheleuten Oliver Hackert und Darja, die fast technisch wirkt, eher an „Beamtendeutsch“ erinnert:
„Organisch waren keine Aussetzer zu beklagen. Abgesehen davon, dass ich das Gefühl hatte, durch ein tiefschwarzes Vakuum zu trudeln, funktionierte in diesem Hotelzimmer alles prima. Ich verkehrte mit der Frau, die ich liebte. Ich achtete darauf, dass auch sie auf ihre Kosten kam und nicht dachte, sie wäre besser zu Hause geblieben.“ (S. 273)
Leider liest man den „Nadine-Part“ zuerst. Vielleicht geht es um diesen Kontrast, vielleicht liegen dem Autor diese Szenen nicht. Es könnte auch um das generelle Unwohlsein mit der Situation in der Jugendzeit gehen mit einem generellen Ekel oder…?!
Dann wieder zeigt Brauns was er kann, die Beschreibung des Interviews finde ich beeindruckend, der Autor war selbst Korrespondent.


Insgesamt – mit Abzügen für die temporäre Stil-Schwäche – ein Buch, durch das ich viel nachdenken musste zu den Wechselwirkungen von politischem Druck und privaten Beziehungen, über persönliche Verantwortung, familiäre Verpflichtungen, gesellschaftliche Freiräume und Zwänge.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Ein klassischer Frauen-Liebesroman für Liebhaberinnen des Genres

Die Zeit der Apfelblüten
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Ein klassischer Frauen-Liebesroman für Liebhaberinnen des Genres
Bei mir war dieses Buch in einem Überraschungs-Gewinnpaket, daher versuche ich, die ich sonst dieses Genre eher bei Entzugs-Erscheinungen ...

Ein klassischer Frauen-Liebesroman für Liebhaberinnen des Genres
Bei mir war dieses Buch in einem Überraschungs-Gewinnpaket, daher versuche ich, die ich sonst dieses Genre eher bei Entzugs-Erscheinungen lese (= nichts anderes da), es hier fair zu beurteilen (nur, weil ich Oliven nicht mag, kann ich einen Oliven-Salat nicht einfach als „schlecht“ beurteilen, sondern muss versuchen, „durch die Oliven hindurch zu schmecken“).
Der Schreibstil ist angenehm locker leicht und das Buch liest sich so herunter – wer einen klassischen Liebesroman sucht, wird hier bestens bedient, kleines Drama und Komplikationen inklusive (vor dem für mich etwas vorhersehbaren Ende mit etwas zu viel Versöhnung, wenn auch mit einer unerwarteten Pointe zum Großvater).

Ich mag da, wenn schon leichteres Genre, dann eher Bücher, die doch noch so etwas wie eine Botschaft, ein Auseinandersetzen mit einem Thema mit sich führen – hier geht es zwar auch um Verantwortung gegenüber den jeweiligen Familien im Kontrast mit den eigenen Wünschen und Träumen und um Ängste und Hindernisse, die an der Umsetzung derselben hindern, aber das tritt doch schon sehr hinter der Romanze zurück (nicht böse sein, aber da finde ich „Morgen kommt ein neuer Himmel“ von Lori Nelson Spielman eindeutig tiefgründiger, dadurch berührender und weniger vorhersehbar, trotz des extrem kitschigen deutschen Titels für das Original „The Life List“).

„Die Zeit der Apfelblüten“ (im Original passender „Family Trees“, da es sowohl um „Stammbäume“ im Sinne der Familientraditionen als auch um die Familien-Bäume auf der Apfelplantage von Shelbys Familie geht) ist vom Verlag und der Übersetzung auf ein wirklich angenehmes Deutsch gebracht worden - keine groben Schnitzer wie leider inzwischen häufig, einzig einige ganz wenige Stellen, an denen ich das amerikanische Englisch bzw. eher die US-Kultur in für Deutsche nicht notwendigerweise nachvollziehbaren Bezeichnungen durchschimmern merkte (so hält „graues Klebeband“ zusammen, was im Original wohl das inzwischen auch hier bekannte „Duct Tape“ fixiert haben dürfte – graues Gewebeband hätte mir besser gefallen).

Dafür gibt es leider ein paar heftige Klischees:
Shelby ist ein Kleinstadtmädchen mit tragischer Vergangenheit aus liebevoller Familie und Ryan kommt aus der Stadt und ist unglücklich in seiner auf Profit und Prestige orientierten reichen Familie – und völlig überraschend für den Leser verlieben sie sich ineinander – erst ziert sie sich, dann passiert ein tragischer Unfall, dann…
Ihr bester Freund seit Kindertagen liebt sie schon ewig, alle wissen das, nur sie nicht
Ihre große Liebe ist gestorben und über drei Jahre lang kapselt sie sich komplett ab

In Shelbys Familie findet Ryan „…eine Familie, die seinen Segeln Auftrieb gab, und kein[en] Anker, der ihn am Boden festhielt.“ (S. 288). Neben so einem schönen Satz irritiert mich die Autorin dann mit so etwas wie „Lake Superior war so lieblich und launisch wie eine Frau“…. (S. 13) – irgendwie aus der Alt-Herren-Schublade.

Aus einem seltsamen Grund wird in US-Büchern immer versucht, jemanden als weltmännisch zu charakterisieren, indem man ihn von irgendwelchen Weinsorten reden lässt (Shelby pariert Ryan hier wunderbar, redet vom „Roten“). Sie weiß gar nicht, wie hübsch sie ist, er hat einen super durchtrainierten Körper, schlank… Interessanter gezeichnet fand ich die Nebenfiguren, irgendwann hätte ich Lust gehabt, Shelbys Mutter und Ryans Vater zusammenzubringen – irgendwie zwei „Bitches“.

Als Fazit ein Buch, dass ich so sofort denen empfehlen würde, die das Genre schätzen, sprachlich gut und alle typischen Erwartungen erfüllend – wenn ich auch persönlich mehr Überraschungsmoment, weniger Klischee und etwas mehr Gedankenanstoß für’s eigene Leben bevorzugen würde.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Ich habe erst ein wenig gefremdelt mit diesem wundervollen Buch…

Baba Dunjas letzte Liebe
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"Auf kleinem Raum gelingt ihr [der Autorin Alina Bronsky] eine märchenhafte und zugleich fesselnd gegenwärtige Geschichte." so heißt es auf dem Klappentext des Schutzumschlages zu diesem ganz besonderen ...

"Auf kleinem Raum gelingt ihr [der Autorin Alina Bronsky] eine märchenhafte und zugleich fesselnd gegenwärtige Geschichte." so heißt es auf dem Klappentext des Schutzumschlages zu diesem ganz besonderen Büchlein. Man kann es eigentlich nicht besser zusammenfassen, es passiert gleichzeitig wenig und sehr viel im Leben der Baba Dunja. Im Alter ist die frühere medizinische Hilfsschwester in ihr Dorf zurückgekehrt, das in der sogenannten Todeszone nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl liegt. Außer ihr leben dort noch weitere Alte, manchmal nebeneinander, manchmal mit- oder sogar füreinander. In Ichform berichtet sie über dieses Leben unter mehr oder weniger skurrilen Persönlichkeiten.
So erscheint eines Tages ein Nachbar bei ihr:
„‘Ich werde dir was sagen‘, warnte er mich.
‚Ich bin ganz Ohr.‘
‚Du bist eine Frau.‘
‚Stimmt.‘
‚Und ich ein Mann.‘
‚Wenn du es sagst.‘
‚Lass uns heiraten, Dunja.‘

Ich kann mir genau vorstellen, was ihn auf Hochzeitsgedanken bringt. Er ist ein Mann und wäscht seine Sachen, wenn sie vor Schmutz steif sind, in einer Schüssel mit Haushaltsseife, um sie dann unausgespült im Garten zum Trocknen aufzuhängen. Zum Essen weicht er sich zweimal am Tag Haferflocken ein, mit verdünnter H-Milch, wenn er welche hat, und mit Brunnenwasser, wenn die Milch alle ist. …“ S. 37ff


Baba Dunja verfügt über Lebens- und Altersweisheit, viele Errungenschaften der Neuzeit hingegen interessieren sie nicht („tragbares Telefon mit Bildschirm“) – sie nützen nichts in diesem Dorf ohne fließendes Wasser, in dem alles angebaut oder umständlich herangeholt werden muss.


Der Schreibstil von Alina Bronsky ist wunderbar leicht zu lesen, oft mit leiser Ironie, liebevoll und stets voller Würde für ihre Figuren.
Ich war traurig, als die Geschichte, eher eine Novelle, zu Ende war; ungeachtet dessen habe ich doch ein klein wenig gefremdelt mit der Geschichte, weil mir nach der Lektüre noch etwas fehlte, mehr so ein Gefühl als etwas großartig greifbares: Letztendlich stellte ich fest, dass ich den Entschluss einer so klugen und zutiefst lebensbejahenden Frau, in diese Todeszone zu ziehen, nie ganz nachvollziehen kann – ich muss mich da wirklich zwingen, an ihr hohes Alter zu denken und mit zu bedenken, wie entsetzt sie auf junge, gesunde Neuzugänge im Dorf reagiert: Baba Dunjas Tschernowo ist ein Ort derer, denen die Strahlung keinen Schaden mehr zufügen kann, weil sie so alt sind oder bereits vorher krank waren, und es ist auch der Ort derer, denen die Stadt zu laut ist, zu teuer, zu eng, zu schnell und zu wenig selbstbestimmt. Baba Dunja benötigt keinen Aufbruch mehr. Sie ist angekommen.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Gefühlvoller Frauenroman mit märchenhaftem Anklang, der zum Nachdenken und Nachempfinden anregt

Für immer in deinem Herzen
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Viola Shipman ist mit „Für immer in deinem Herzen“ ein wunderbar gefühlvoller Frauenroman gelungen (nein, eher KEIN Buch für Männer) um die drei Generationen von Frauen der Familie Lindsey: Lolly, die ...

Viola Shipman ist mit „Für immer in deinem Herzen“ ein wunderbar gefühlvoller Frauenroman gelungen (nein, eher KEIN Buch für Männer) um die drei Generationen von Frauen der Familie Lindsey: Lolly, die Großmutter, Arden, deren Tochter und Mutter von Lauren, der studierenden Enkelin.

Die Handlung spannt sich auf um einen Aufenthalt der beiden jüngeren bei Lolly, bei der eine fortschreitende Form von Vergesslichkeit festgestellt wurde, die in Demenz münden kann, aber nicht muss. Es ist KEIN Demenzbuch, vielmehr ist die Sorge um den Verlust von Erinnerungen, sei es durch Vergessen oder irgendwann durch ihren Tod, der Antriebsmotor dafür, dass Lolly diese weitergibt an die beiden nächsten Generationen. Sie selbst ist dabei Erzählerin nicht nur ihrer Geschichte, sondern auch der Geschichte anderer, die ihr Leben berührten: ihre Großmutter, die einst als Einwandererin aus Irland nach Michigan kam, ihre Mutter, die sie noch vor ihrer Jugendzeit an den Krebs verlor, ihr Vater, um den sie sich danach kümmert, ihre beste Freundin, die sie an den Brustkrebs verlor, ihr Mann, der ihre große Liebe war, ihr kleiner Ort. Der Originaltitel „The Charm Bracelet“ – altmodisch würde man Bettelarmband sagen – spielt auf das Armband an, das bei den Frauen der Familie eine Tradition ist, jeder Anhänger ist verknüpft mit einer Person, einem Ereignis oder einer bestimmten Lebensweisheit, an diese knüpfen sich die Geschichten, die Lolly erzählt. Am schönsten am Roman fand ich diese Geschichten, die zum Teil weite weite Rückblenden boten auf die Geschichte der Familie wie auf die Geschichte der Einwanderung in die USA, mit all ihren Entbehrungen, ihrer Hoffnung und ihrem Lebensmut – teils sehr emotional gezeichnet und sehr berührend – Taschentücher dürften bei vielen Leserinnen nötig werden. Kitschig fand ich gerade diese Teile dabei nicht und mir gefielen sehr die eingestreuten Lebensweisheiten, auch wenn einige davon vielleicht „ein alter Hut“ sind: Speziell die mittlere Generation, Arden, ist unglücklich, geschieden, beruflich nicht erfüllt, mit finanziellen Sorgen. Als diese sich auf ihre Tochter Lauren auswirken, sagt dazu Lolly: "Menschen sind wie Dominosteine. Sobald wir umfallen, neigen wir dazu, alle anderen mit uns zu reißen." S. 135 Ihr Rat hingegen "Unglücklich zu sein kann dich völlig auffressen, ohne dass du es überhaupt bemerkst. Glücklich zu sein ist eine bewusste Entscheidung." S. 135

Soweit die Stärken dieses Buches, dazu muss man bemerken, dass eigentlich typische Frauen- und Liebesromane eher nicht mein Genre sind, wodurch ich vermutlich kritischer bin. Jedoch hatte mir völlig unerwartet dieses Jahr schon Lori Nelson Spielmans „Morgen kommt ein neuer Himmel“ außerordentlich gut gefallen und eben diese Autorin lobt – auch auf dem Klappentext – nun Viola Shipmans Buch. Ja, der Stil ist ähnlich, auch hier geht um Lebensziele, Mut, sich selbst zu verwirklichen, die Familie, Freundschaft – also kein reiner oberflächlichen „Kitschroman“, das Buch regt wirklich dazu an, über vieles nachzudenken in all seiner Emotionalität, gerade auch über Ziele, Beziehungen, Einstellungen.

Die Teile im Roman, die in der Jetzt-Zeit handeln, speziell zu Arden, die eigentlich kein Vertrauen mehr hat, in nichts, in niemanden, auch und gerade nicht zu sich selbst, sind mir jedoch ein wenig zu „rosarot“ gezeichnet, zu glatt, zu vorhersehbar (im recht kurzen Schlusskapitel ist doch plötzlich selbst der Exmann bei dieser einen Sache hilfreich). Schade finde ich, dass sie eher als die „kopflastige Spaßbremse“ in den Roman eingeführt wird – sie entwickelt sich zwar tatsächlich toll, aber gerade die Beschreibung, warum sie, die Schüchterne, sich von ihrer völlig extrovertierten Mutter oft in den Schatten gestellt und vorgeführt empfand in ihrer Jugend, kommt mir ein wenig zu kurz – Lolly meinte es zwar immer und gut und sie ist liebevoll, aber viele ihrer Aktionen überforderten schlicht die Tochter.

Insgesamt aber nur ein geringer Wermutstropfen, wenn man das Buch denn eher als wunderschönes gefühlvolles modernes Märchen einstuft, das nachdenklich macht und ermutigt, viele der angesprochenen Themen zu überdenken; insgesamt endlich wieder ein Buch auch aus diesem oft von mir vermiedenen Genre, das ich gerne behalten und auch verschenken werde. Ich empfehle ein Geschenk-Bundle mit einem kleinen Anhänger und/oder Bettelarmband – die Umsatzprovision bei diesen hätte sich die Autorin unbedingt vorher sicher sollen!!!

Veröffentlicht am 15.09.2016

Debüt der True-Crime Autorin mit fesselndem Thriller über Kampf gegen Sexualsadisten

Und nachts die Angst
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Die dreizehnjährige Tilly Cavanaugh wurde nach 13 Monaten befreit aus Randy Vanderholts Keller – eigentlich nur durch Zufall, weil eine aufmerksame Maklerin einen seltsamen Umbau des davor von Vanderholt ...

Die dreizehnjährige Tilly Cavanaugh wurde nach 13 Monaten befreit aus Randy Vanderholts Keller – eigentlich nur durch Zufall, weil eine aufmerksame Maklerin einen seltsamen Umbau des davor von Vanderholt benutzten Hauses bei der Polizei meldete.
Zwei weitere, optisch ähnliche Mädchen, sind noch vermisst.

„Und nachts die Angst“ heißt im Original „The Edge of Normal“ und ist das zweite Buch, das ich von Carla Norton lese. Das erste Buch von ihr habe ich im englischen Original gelesen, „Hunted“ (UK-Titel) bzw. „What does not kill her“ (US-Titel), in deutscher Sprache „Und morgen dein Tod“. Zeitlich liegt „Und nachts die Angst“ vor dem anderen Buch, beide lassen sich auch ohne Kenntnis des anderen lesen.

Die Autorin schreibt in Kapiteln von etwa vier bis zehn Seiten, jeweils in der dritten Person, aber aus der Perspektive wandelnder Protagonisten, vor allem aus der Sicht von Reeve, die früher Reggie hieß, und von der Presse „Edgy Reggie“ getauft wurde, weil sie sich gegen die Presse-Aufdringlichkeiten nachhaltig wehrte: Sie war drei Jahre, zehn Monate, zwölf Tage in der Gefangenschaft des Sexualsadisten Daryl Wayne Flint, kam ebenfalls durch Zufall frei. Immer noch geht Reeve regelmäßig wöchentlich zu ihrem Psychiater Dr. Lerner, mit dessen Unterstützung sie weitestgehend wieder ins Leben zurück gefunden hat. Weitestgehend:
„Sie war vergewaltigt, geschlagen, verbrannt, gepeitscht, ausgehungert und fast ertränkt worden. Sie hatte geglaubt, sterben zu müssen. Sie hatte es sich gewünscht. Und als es vorbei gewesen war, hatte sie sich seltsam andersartig empfunden, als hatte man etwas in ihr abgetötet, das für das Menschsein notwendig war.“
„Die plötzliche Geborgenheit ihres Zuhauses, sogar die Umarmungen ihrer Familie hatten in ihr Orientierungslosigkeit erzeugt. Sie war in eine Welt gekommen, die sich wie ein fremder Planet anfühlte. Keiner sprach ihre Sprache. Niemand verstand sie.“ S. 51
Als Dr. Lerner hinzugezogen wird, um nun auch Tilly zu therapieren, fühlt deren Mutter sich damit unwohl – sie wünscht eine Art Rückversicherung, ein anderes, weibliches Opfer, dem er, als Mann, hat helfen können. So spricht Lerner Reeve an – sie fühlt sich damit zuerst unwohl, lässt sie doch immer noch enge Beziehungen nicht zu, will nicht berührt werden, schämt sich ihrer zahlreichen Narben. Reeve lebt in den Tag hinein, kellnert in einem japanischen Restaurant, wofür sie perfekt japanisch gelernt hat. Als sie den Job verliert und durch Zufall eine Unterhaltung zwischen ihrem Vater und ihrer älteren Schwester mitbekommt, entscheidet sie sich spontan, Tilly zur Seite stehen zu wollen.

Die Autorin schildert die junge Frau glaubwürdig, zeigt auf, wie sie versucht, vom Verstand her das Unfassbare zu verarbeiten. Reeve kennt alle Fachliteratur, aber „Trost hat sie in all diesen Texten nicht gefunden. Zu versuchen, die Wahrheit über das Böse im Menschen aufzuspüren, ist, als atme man giftige Dämpfe ein.“ S. 157

Im Folgenden fällt Reeve als erster auf, dass Tilly zwar mit Zigaretten verbrannt wurde, aber der gefasste Täter Nichtraucher ist. Sie beginnt, aktiv zu werden. Dadurch findet sie sich schnell im Kreuzfeuer der Ermittler wieder, die die Einmischung durch „Zivilisten“ fürchten – allerdings auch im Fokus ganz anderer Personen…
Durchgängig ist das Buch sehr spannend, man merkt der Autorin die Herkunft aus „True Crime“-Romanen an – die Abschnitte über den Missbrauch sind ziemlich heftig, besonders die Kapitel aus Tätersicht. Insgesamt toll geschrieben, durchgängig spannend, ich fand das Folgebuch allerdings noch „einen Tick“ spannender.



Passendes Folgebuch:

Der Folgeroman mit gleicher Autorin und Protagonistin:

https://www.lesejury.de/carla-norton/buecher/und-morgen-dein-tod/9783426513781?tab=reviews#reviews

Keine Sexualsadisten, dafür persönlicher Bericht.

Jan-Philipp-Reemtsma: "Im-Keller"