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Veröffentlicht am 09.01.2019

Grenzerfahrung …

Herz auf Eis
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Gegensätze ziehen sich an, sagt man. So ist es auch bei Louise und Ludovic, einem jungen, verliebten Paar: sie liebt die Berge und versucht möglichst jedes Risiko zu vermeiden, während er Surfen und Segeln ...

Gegensätze ziehen sich an, sagt man. So ist es auch bei Louise und Ludovic, einem jungen, verliebten Paar: sie liebt die Berge und versucht möglichst jedes Risiko zu vermeiden, während er Surfen und Segeln bevorzugt und völlig unbekümmert jeder Gefahr entgegen sieht. Um der Langeweile des tristen Arbeitslebens in Paris zu entgehen hat Ludovic die Idee, eine Auszeit zu nehmen, um richtig zu leben, um das Leben voll auszukosten, wie er meint. Aus Angst ihn zu verlieren, und nicht aus innerster Überzeugung, willigt Louise schließlich in seine Pläne ein. Nun ist das Sabbatjahr zu ihrem gemeinsamen Traum geworden, der mit dem Segler Jason verwirklicht werden soll. Unterwegs harmonieren sie wunderbar zusammen, erleben die Kanaren, die Antillen, Brasilien und Argentinien als faszinierendes Abenteuer und genießen ihr Glück und ihre Liebe. Von Patagonien soll es dann rüber nach Südafrika gehen. Auf dem Weg dorthin liegt die Insel Stromness, die in früherer Zeit eine Walfangstation beherbergte und heute ein Refugium für Pinguine ist. Es kümmert Ludovic und Louise wenig, dass das Betreten für Touristen verboten ist, verspricht das Beobachten der Pinguine doch für die beiden ein herrliches Erlebnis zu werden. Mit dem Schlauchboot setzen sie über – der größte Fehler ihres Lebens …

Isabelle Autissier, 1956 in Paris geboren und dort aufgewachsen, lebt heute in La Rochelle. Mit sechs Jahren entdeckte sie ihre Leidenschaft für das Segeln; 1991 machte sie Furore als erste Frau, die allein im Rahmen einer Regatta die Welt umsegelte. Seit den Neunzigerjahren widmet sie sich dem Schreiben. Herz auf Eis war für den Prix Goncourt nominiert und wurde in zahlreiche Länder verkauft.

Bereits in der Buchbeschreibung ist zu lesen, dass das Paar auf der verbotenen Insel festsitzt und ums Überleben kämpfen muss. Dass die Autorin diesen Überlebenskampf äußerst eindringlich und bewegend schildert verwundert nicht. War sie doch selbst zweimal schiffbrüchig, konnte selbst nur knapp überleben und weiß daher wie es ist, auf Hilfe zu hoffen. Stromness ist eine unbewohnte Insel nahe der Antarktis, weitab jeder Schifffahrtsroute. Die ehemalige Walfangstation ist am verfallen, die Gebäude der Forschungsstation sind nicht aufzufinden, es gibt nichts zu essen – und der Winter naht. Können Louise und Ludovic unter diesen Umständen überhaupt überleben? Was wird aus der Liebe, wenn es nur noch ums nackte Überleben geht? Bleibt da überhaupt noch ein Rest Menschlichkeit?

Der Schreibstil ist äußerst packend, sachlich und klar, überzeugend der jeweiligen Situation angepasst. Die Geschichte liest sich bisweilen wie ein Psycho-Thriller. Sehr gut gelungen ist auch der zweite Teil des Buches. Das Drama hat eine Fortsetzung. Der Leser erfährt, wie es nach dem vermeintlichen Happy End weiter geht. Es stellt sich die Frage, wie man mit einer Schuld, die man auf sich geladen hat, und mit dem schlechten Gewissen weiter leben kann. Man erfährt, wie die Umwelt und die Familie reagieren. Kann man sich wieder in den Alltag integrieren und ist ein normales Leben danach überhaupt noch möglich?

Fazit: Ein extrem spannendes und zugleich tiefschürfendes Buch, das aufrüttelt und bei dem man sich unwillkürlich fragt: Was hätte ich getan? Wie hätte ich gehandelt? Das ist kein Buch, das man einfach weg legen und zur Tagesordnung übergehen kann.

Veröffentlicht am 30.12.2018

Kriegskindheit

Eine italienische Kindheit
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Geboren wurde der kleine Roberto in Catania auf Sizilien, wo er auch seine Kindheit verlebte. Im Alter von etwa acht Jahren sah er zum ersten Mal einen Deutschen und erlebte eine deutsche Truppenparade, ...

Geboren wurde der kleine Roberto in Catania auf Sizilien, wo er auch seine Kindheit verlebte. Im Alter von etwa acht Jahren sah er zum ersten Mal einen Deutschen und erlebte eine deutsche Truppenparade, deren Akkuratesse ihn tief beeindruckte. Hier wurde wohl der Grundstein für seine Liebe zu Deutschland gelegt. Als die Bombenangriffe auf Catania durch britische Flugzeuge zunahmen, übersiedelte die Familie zuerst nach Lucca in der Toskana, später nach Rom, wo der Vater mehr Sicherheit vermutete. Das war ein Irrtum, denn bei einem Angriff durch amerikanische Flugzeuge verlor sein älterer Bruder das Leben. Jetzt durfte Roberto seinen Vater auf Geschäftsreisen durch das besetzte Italien begleiten. Dabei stießen sie gelegentlich auf deutsche Soldaten, die aber immer freundlich zu ihnen waren. Auch wenn er zwischenzeitlich von den Gräueltaten der Deutschen gehört hatte, seine Bewunderung zur deutschen Kultur blieb bestehen und sollte sein weiteres Leben entscheidend beeinflussen …

Der italienische Historiker und Schriftsteller Roberto Zapperi (geb. 1932 in Catania auf Sizilien) studierte Geschichte und Kulturanthropologie in Rom, war als Professor in Paris, Berlin und Hamburg tätig und ist seit 2008 Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Er veröffentlichte mehrere Bücher und wurde hauptsächlich durch seine historischen Werke zu Goethe und einiger berühmter Maler bekannt. Zapperi ist mit der deutschen Kunsthistorikerin Ingeborg Walter verheiratet, die auch seine Bücher ins Deutsche übersetzt. Heute lebt er als Privatgelehrter in Rom.

In gedämpft plauderndem Erzählstil, dennoch sehr eindringlich und in plastischen Bildern, berichtet der Autor hier von seiner Kindheit auf Sizilien und in Italien während des Zweiten Weltkrieges. Er bezieht sich dabei auf seine eigenen Erinnerungen und auf geschichtliche Überlieferungen. Wir lesen von einem Sizilien, das damals noch recht mittelalterlich anmutete, von der Großmutter, die als Heilerin, Zauberin und Hexe großes Ansehen genoss und von einem Vater der alles versuchte, seine Familie heil durch die Kriegswirren zu bringen. Auch die Gräueltaten aller am Krieg beteiligten Mächte, die er als Junge teilweise selbst miterlebte oder von denen er aber meist erst im Nachhinein erfuhr, werden nicht ausgelassen. Obwohl er viel später erkennen musste, dass seine Bewunderung für die deutschen Besatzungsmächte ein Irrtum war, blieb Zapperis Interesse an Deutschland, seine Liebe zur deutschen Kultur und zur deutschen Sprache ungebrochen.

Fazit: Eine packende Geschichte über das Leben in Italien während er Kriegs- und Nachkriegsjahre und eine heimliche Liebeserklärung an Deutschland.

Veröffentlicht am 02.12.2018

Sardinien wie man es nicht kennt …

Padre Padrone
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Gerade mal einen Monat durfte der 6-jährige Gavino zur Dorfschule gehen, dann wird er von seinem Vater rigoros heraus genommen und gezwungen, als Hirtenjunge die Schafe und Ziegen der Familie zu hüten. ...

Gerade mal einen Monat durfte der 6-jährige Gavino zur Dorfschule gehen, dann wird er von seinem Vater rigoros heraus genommen und gezwungen, als Hirtenjunge die Schafe und Ziegen der Familie zu hüten. Für den kleinen, zarten Jungen beginnt eine schier unmenschliche Zeit, in der er alleine der kargen Wildnis in Sardiniens Bergen ausgesetzt ist. Statt wohlbehüteter Kindheit durchlebt Gavino ein endloses Martyrium, bei dem er selbst beim kleinsten Fehler vom Vater gnadenlos gezüchtigt wird. Das soll sich erst ändern, als er sich mit 20 Jahren freiwillig zum Militär meldet. Dort lernt er endlich Lesen und Schreiben, macht eine Lehre als Radiomechaniker und bildet sich autodidaktisch so weit, dass er sogar die Prüfung als Lehrer besteht. Dann geht er zurück in sein Dorf Siligo auf Sardinien, wo sich nichts verändert hat …
Was anmutet wie finsterstes Mittelalter, ist noch gar nicht so lange her. Der Autor Gavino Ledda veröffentlichte seine Autobiografie erstmals 1975 auf Italienisch, 1977 wurde das Buch verfilmt, die erste deutsche Übersetzung erschien 1980. Es ist ein erschütternder Bericht über eine unvorstellbar harte Kindheit und Jugend auf Sardinien in den Jahren zwischen 1945 und etwa 1965, geprägt von Demütigungen und Schlägen, aber auch über den unbändigen Willen eines jungen Mannes zu lernen, sich zu bilden und sich von der Abhängigkeit des übermächtigen Vaters zu lösen. Gavino Ledda bedient sich einer kraftvollen, schnörkellosen Sprache und beschönigt dabei nichts – nicht die Lebensbedingungen auf dem Niveau von Tieren, nicht die Grausamkeit der Menschen, nicht die sexuellen Nöte, nicht die bestialische Gewalt und nicht die existenziellen Ängste. Es ist auch eine herbe Kritik an der Gesellschaft, die das Analphabetentum tolerierte und bei Kinderarbeit, Unterdrückung und brutaler Züchtigung einfach wegsah. Wunderbare Natur- und Landschaftsbeschreibungen versöhnen und runden die Geschichte passend ab.

Veröffentlicht am 02.10.2018

Archaische Bräuche …

Accabadora
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Sardinien in den 50er Jahren. Bittere Armut zwingt die Witwe Listru dazu, ihre jüngste Tochter, die 6jährige Maria, an die kinderlose Schneiderin Bonaria Urrai abzugeben. Diese wird das Mädchen wie eine ...

Sardinien in den 50er Jahren. Bittere Armut zwingt die Witwe Listru dazu, ihre jüngste Tochter, die 6jährige Maria, an die kinderlose Schneiderin Bonaria Urrai abzugeben. Diese wird das Mädchen wie eine eigene Tochter aufziehen und Maria wird sich dafür, wenn Bonaria alt ist, um sie kümmern. Maria fühlt sich sehr wohl bei ihrer liebevollen Pflegemutter, wohnt sie doch jetzt in einem großen Haus und darf sogar zur Schule gehen. Die Jahre vergehen, Maria ist schon beinahe erwachsen, als sie Bonarias schreckliches Geheimnis entdeckt – sie ist eine Accabadora, sie leistet Sterbehilfe. Maria will nur noch weg von Bonaria, sie geht aufs Festland und nimmt in Turin eine Stelle als Kindermädchen an …

„Accabadora“ ist der erste Roman der italienischen Schriftstellerin Michela Murgia. Er wurde in 25 Sprachen übersetzt und auf Deutsch über 150.000 Mal verkauft. Murgia wurde 1972 in Cabras auf Sardinien geboren, studierte Theologie und unterrichtete zunächst Religion, bevor sie begann, Geschichten über Sardinien zu schreiben. Nach einigen Jahren in Mailand lebt sie heute wieder auf Sardinien.

Altes überliefertes Brauchtum, das bis in die 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts auf Sardinien noch teilweise praktiziert wurde, hat das Buch zum Inhalt. So war es üblich, dass kinderlose Frauen ein „Kind des Herzens“, meist ein Mädchen aus armen Verhältnissen, adoptierten. Sie gewährten ihr eine gute Erziehung und Bildung, dafür hatte das Mädchen die Ziehmutter dann im Alter zu versorgen. Ebenso seltsam mutet heute die Tätigkeit als Accabadora an, der unsere Protagonistin Bonaria des Nachts nachgeht. Sie hilft, meist mit Wissen der Angehörigen, als ‚Akt der Barmherzigkeit‘ Sterbenden über die Schwelle vom Leben zum Tod.

Michela Murgia erzählt hier in einer kraftvollen schnörkellosen Sprache nur so viel, wie zum guten Verständnis unbedingt nötig ist, dennoch empfindet man die Geschichte als sehr poetisch und manchmal sogar melancholisch. Zwei Frauen aus zwei verschiedenen Generationen, altes Brauchtum und abergläubische Rituale treffen auf die Neuzeit – entstanden ist ein ergreifender, aufwühlender Roman mit einem unglaublich guten, genau passenden Ende.

Absolut lesenswert!

Veröffentlicht am 01.10.2018

Zu zweit ist man nicht mehr einsam …

Ich komme mit
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Für den 20jährigen Studenten Lazar Laval, den alle nur Lazy nennen, ist das Leben wie ein einziges Fest - er ist verliebt, alles dreht sich nur noch um Elsie. Doch dann, nach einem Kurzurlaub in den Bergen, ...

Für den 20jährigen Studenten Lazar Laval, den alle nur Lazy nennen, ist das Leben wie ein einziges Fest - er ist verliebt, alles dreht sich nur noch um Elsie. Doch dann, nach einem Kurzurlaub in den Bergen, überfällt ihn plötzlich eine seltsame Müdigkeit. Im selben Haus wie Lazar wohnt auch die alleinstehende 72jährige Witwe Vita Maier. Sie kennt Lazar, seit er als Achtjähriger mit seinem Vater hier eingezogen ist. Kontakt hatten sie nie, außer einigen zufälligen Begegnungen im Treppenhaus. Nun sieht sie ihn nach langer Zeit wieder und merkt sofort, dass er krank ist. Lazy hat Leukämie, er kann sich nicht mehr selbst versorgen. Freundin Elsie hat ihn schon lange verlassen, jetzt ist Vita sein rettender Engel. Erst ist er nur zum Frühstück bei ihr, später bezieht er das leer stehende Zimmer ihres Sohnes, der vor vielen Jahren nach Australien ausgewandert ist. Sie philosophieren viel miteinander über das Leben, das sich für beide dem Ende zu neigt, und über den Tod, der sie bald erwarten wird - und werden dabei zu Freunden. Dann beschließen alte Vita und der kranke Lazy gemeinsam auf eine letzte Reise zu gehen …

Die Autorin Angelika Waldis, geb. 1940, wuchs in Luzern auf, studierte Anglistik und Germanistik in Zürich und arbeitete dann als Journalistin. Sie ist verheiratet, hat zwei Kinder und drei Enkel. Bereits ihr Roman „Aufräumen“ aus dem Jahr 2013 war in der Schweiz ein Bestseller, ihr neuer Roman „Ich komme mit“ ist auf dem besten Weg dahin.

Mit viel Gefühl, aber ohne Rührseligkeit, beschreibt die Autorin das allmähliche Annähern und die wechselseitigen Empfindungen der beiden Protagonisten. Sie lässt sie über Leben und Tod philosophieren, lässt sie um die Wette Zitate und Sprüche aufsagen - und verwendet dabei einen Schreibstil, der erstaunlich gut dem jeweiligen Geschehen angepasst ist. Klar, präzise und schnörkellos, gewürzt mit einem Hauch Humor, schildert sie die einzelnen Situationen und Gegebenheiten, um dann gekonnt wieder zu philosophischen Betrachtungen überzugehen. »Das Leben ist ein Geschenk. Man kann's nur einmal auspacken« ist eines dieser klugen Zitate, von denen die Geschichte lebt, und die dem Leser noch lange in Erinnerung bleiben werden. Angelika Waldis lässt abwechselnd Vita und Lazy zu Wort kommen, so dass man intensiv an deren Gefühlswelt teilhaben kann und das langsame gegenseitige Annähern und Vertrauen besser versteht. Herrlich, ihre Dialoge und Wortspiele über das Leben und den Tod. »Ja, das Leben ist gefährlich. Keiner kommt lebend raus«. Trotz der Schwere der Thematik (es geht schließlich um Probleme, denen man sich früher oder später eventuell selbst stellen muss) und des relativ offenen Endes ist dies doch ein hoffnungsvolles Buch, aus dem man Kraft und Zuversicht schöpfen kann. »Leben ist Sich-umdrehen-wollen, nachdem man an etwas Schönem vorbeigegangen ist«.

Fazit: Ein großartiger Roman, schonungslos ehrlich und tragisch berührend - der zum Nachdenken über die große Frage anregt: was ist eigentlich Leben?