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Veröffentlicht am 18.01.2019

Eine Klasse für sich

Das Lied des Blutes
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Vaelin Al Sorna begegnet dem Leser als der berühmteste Gefangene seiner Zeit: In weit ausholenden Rückblicken erzählt der Historiker Vernier das Leben dieses ungewöhnlichen Mannes, der als „Rabenschatten“ ...

Vaelin Al Sorna begegnet dem Leser als der berühmteste Gefangene seiner Zeit: In weit ausholenden Rückblicken erzählt der Historiker Vernier das Leben dieses ungewöhnlichen Mannes, der als „Rabenschatten“ Namensgeber für die ganze Trilogie ist, die mit dem „Lied des Blutes“ eröffnet. Chronologisch nähert sich die Lebensgeschichte der Gegenwart Verniers, beginnt aber bei dem Jüngling, der von seinem hochstehenden Vater beim Sechsten Orden abgegeben wird, um dort zum Ordenskrieger ausgebildet zu werden.

Es ist diese Handlung des Heranwachsenden und seiner Mitstreiter, die in derselben Klasse das Noviziat durchleben, die dem Roman sein taufrisches Fluidum verleiht: Al Sorna ist jung, sein Potenzial entfaltet sich erst, das Schicksal legt seine Vorausdeutungen auf sein Leben, aber noch wachsen und lernen wir Leser mit ihm und seinen Gefährten. Bald ist auch klar, dass diese Gefährten aus seiner Schulklasse selbst „eine Klasse für sich“ sind und in das große Schicksal des Kontinentes eingewoben wurden.

Spannend wird es, als die Gegner Al Sornas das Schicksal in die eigene Hand nehmen wollen und dem meisterlichen Schwerteleven ans Blut wollen. Das Ganze wird zu einem abenteuerlichen Entwicklungsroman, einer tollen Ableitung des Harry-Potter-Faszinosums einer bedrohten Schule/Ordensbrug und schließlich zu einem epischen Schlachtengemälde.

Al Sorna bewegt sich in den höchsten Sphären des Königreichs, sollte gar einmal die Prinzessin heiraten, und so ist es folgerichtig, dass die Protagonisten der Handlung ganz vorne mit dabei sind.

Ein großartiger Auftakt einer Trilogie, die anschließend leider abflacht und ihren Tiefpunkt im dritten Band finden wird. Das tut aber diesem Band keinen Abbruch, der auch „eine Klasse für sich“ ist: intelligente, lesenswerte Fantasy.

Veröffentlicht am 18.01.2019

Der unbekannte Vater einer ganzen Generation

Im Frühling sterben
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Rothmann erzählt die Geschichte zweier junger Männer – Fiete und Walter –, die in den letzten Monaten des Zweiten Weltkrieges noch in die Waffen-SS gezwungen und an die Front in Ungarn geschickt werden. ...

Rothmann erzählt die Geschichte zweier junger Männer – Fiete und Walter –, die in den letzten Monaten des Zweiten Weltkrieges noch in die Waffen-SS gezwungen und an die Front in Ungarn geschickt werden. Rothmann versteht es, in diesem kurzen Roman die Coming-of-Age-Geschichte Walters zu erzählen und dabei gleichzeitig tiefe Freundschaft, große Liebe und Nachdenken über den Tod im Angesicht des Granatenhagels zu den Themen von Walters Generation zu machen. Walter will überleben und Fete einfach nur raus. Der eine ist pragmatisch und kommt aus dem Krieg, um nicht gerade das Leben eines Siegers zu führen, der andere zu freigeistig, um sich zu beugen.

Mir hat vor allem gefallen, wie es „Im Frühling sterben“ schafft, eine Geschichte zu erzählen, die gleichzeitig so gewöhnlich wirkt, wie sie außergewöhnlich ist, so dass sie auch als Geschichte einer ganzen Altersgruppe gehört, nämlich jener Flakhelfergeneration, von der die Bundesrepublik nach dem Krieg so geprägt wurde. Es erscheint folgerichtig, dass die in der Rahmenhandlung Walters Sohn zum Erzähler wird und die ahnungslose Fragehaltung der Nachgeborenen einnimmt, die ratlos vor der Kriegserfahrung der Väter stehen.

Überdies ist der Roman ganz unaufgeregt und nachdenklich geschrieben und hätte auch das Etikett Liebesgeschichte verdient.

Eine echte Leseempfehlung.

Veröffentlicht am 18.01.2019

Der dreifache Roth - ein Widerspruch in sich

Operation Shylock
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„Operation Shylock“ ist ein ‚Bekenntnis‘, kein Roman, betont Philip Roth schon im Untertitel. der Textberuhe auf genauesten Aufzeichnungen seiner Tätigkeit für den israelischen Geheimdienst Anfang 1988 ...

„Operation Shylock“ ist ein ‚Bekenntnis‘, kein Roman, betont Philip Roth schon im Untertitel. der Textberuhe auf genauesten Aufzeichnungen seiner Tätigkeit für den israelischen Geheimdienst Anfang 1988 in Athen. Und in der Tat geben sich ganze Abschnitte den Anschein, Aufzeichnungen, Zusammenfassungen, Ideensplitter zu sein. Der Clou aber ist, dass Philip Roth nach Isreal reist, um dort einen Doppelgänger zustellen, der als ‚Philip Roth‘ dem Prozess gegen den SS-Wachmann John „Ivan den Schrecklichen“ Demjanjuk beiwohnt und gleichzeitig wie ein wiedergeborener Anti-Herzl die Rückkehr der Juden nach Europa (Diasporismus) propagiert. Roth trifft Roth, erzählt von Roth - das ist keine leichte Kost, auch wenn sie sich gefällig lesen lässt.

Warum das Ganze? „Wegen Israel.“ (S. 88) Roth lässt sich und seine Figuren nicht nur über die Identität des Staates Israel (und die Identität der Palästinenser) monologisieren, sondern auch - und dies wie in allen seinen Romanen - über die jüdische Identität. Seine eigene und die eines jeden Juden, der in sich die Zerrissenheit einer jüdischen und womöglich einer nationalen Identität trägt, beispielsweise als US-Amerikaner. Innere Zerrissenheit ergibt sich in der inneren Suche nach sich selbst - und bei Roth kommen zwei Roth heraus, die miteinander diskutieren. Schon die dem Text vorangestellten Mottos leiten auf die Zwiegespaltenheit des Selbst hin: „Der ganze Inhalt meines Daseins schreit im Widerspruch gegen sich selbst“ (Kierkegaard) und „Also blieb Jakob allein. Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach“ (Genesis 32,25).

Die Fragen: Bin ich ich? Leide ich an „Ichtis“? Ist Roth Roth? Ist Demjanjuk wirklich „Ivan der Schreckliche“ aus dem Lager Treblinka? sind komplex und bleiben offen. Die Wahheit lasse sich oft nur in der Lüge erkennen, werde sichtbar sozusagen in der gespiegelten Antithese. Insofern ist das Nicht-Gesagte oft dem Gesagten beigesellt - und deshalb der gleichwohl lockere Text oft schwer und satt. Auch wenn Roth, „Roth“ oder sein palästinensischer Freund Zee über den Staat Israel sprechen, schwingen Kritik und Imperativ gleichzeitig und dennoch gegeneinander. Was ist „jüdischer Geist“ und wo ist er zuhause (S. 137), ist kaum zu beantworten - oder immer anders. Vor der Welt als Shakespeares „Shylock“ seit 400 Jahren zur polemischen Figur gezeichnet, sucht ein Jude stets sein eigenes Bild (als spezielle Form der Sinnsuche eines jeden Menschen) und wundert sich, sofern er glaubt: „Wo war Gott zwischen 1939 und 1945? ich bin sicher, daß er bei der Schöpfung dabei war.“ (S. 239)

Zwiegespaltenheit als Merkmal des Menschen schreibt Roth auch den Tätern zu: „Die Deutschen haben der ganzen Welt endgültig bewiesen, daß die Aufrechterhaltung zweier radikal divergenter Persönlichkeiten, einer sehr netten und einer nicht gar so netten, nicht länger das Vorrecht von Psychopathen ist.“ (S. 68) Roths ganzer Text steckt voller Wahnsinnigkeiten, Klarsichtigkeiten, Bedeutsam- und Nichtigkeiten, seinen Zentralthemen Frauen, Judentum und Ich und ist deshalb ein Füllhorn kluger, nachdenklicher, auch absurder Gedanken, die so genial sind, wie sie bisweilen langatmig geraten.

Eine Schlusspointe ist, dass Roth die titelgebende Geheimdienstoperation „Shylock“ schlicht weglässt und im letzten Satz noch einen doppelten Boden einzieht: „Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen oderSchauplätzen oder Personen, seien sie lebendig oder tot, ist reiner Zufall. Dieses Bekenntnis ist falsch.“(S. 457)

Und der dritte Roth? Ist der Verfasser der „Operation Shylock“, von dem nicht klar ist, wie viel Roth in den beiden Roth-Figuren steckt.

Eine großartige Lektüre!

Veröffentlicht am 18.01.2019

„Glauben Sie etwa, jede Geschichte müßte einen Anfang und ein Ende haben?“ (S. 275)

Wenn ein Reisender in einer Winternacht
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‚Du schickst dich an, eine Rezension zu „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“ von Italo Calvino zu lesen.‘ So müsste eine Rezension zu diesem Roman beginne, weil er selbst so beginnt: Der Text tut ...

‚Du schickst dich an, eine Rezension zu „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“ von Italo Calvino zu lesen.‘ So müsste eine Rezension zu diesem Roman beginne, weil er selbst so beginnt: Der Text tut so, als begänne er mit der Lektüre durch den Leser – und er wird auch so enden: „Und du: ‚Moment noch. Ich beende grad ‚Wenn ein Reisender in einer Winternacht‘ von Italo Calvino.‘“ (S. 277) Und so ist es ja auch: Als Calvinos Roman entstand, diskutierte man gerade, was eigentlich ein Text ist und ob er unabhängig vom Autor eigentlich erst durch die Rezeption entstehe, ob also der Leser nicht eigentlich Teil des Komplexes ‚Literatur‘ sei.

Bei Calvino ist er es: Der Roman ist in der zweiten Person Singular geschrieben und richtet sich fortwährend an den Leser: du. Du suchst nach der Fortsetzung des falsch gebundenen Romans der Winternacht, du liest im folgenden zehn weitere Romaneingänge – alle stilistisch verschieden – bis zu einem Punkt, da sie abbrechen; nämlich genau da, wo man weiterlesen möchte; du lernst die Leserin Ludmilla kennen, der es so geht wie dir. Ja – du wirst zur Leserin Ludmilla, um schließlich zum Paar geworden den Roman zu beschließen.

Das ist mehr als nur eine Spielerei mit der Auflösung des Lesers in einer Romanfigur oder umgekehrt, das ist klug und hervorragend erzählt, ist ein praktischer Beitrag zur Debatte darüber, was Sprache und Text vermögen, wie Intentionen zwischen den Rost der Zeilen durchrutschen, wie Produktion, Rezeption und Verstehen im Dialog der Literatur funktionieren; auch darüber, wo die Grenzen des Textes liegen – nämlich etwa nur exakt Stimmung, Raumgefühl und Situation zu beschreiben, wenn ein Mensch einen Telefonhörer abnimmt (S. 141). Oder was bei jeder Kommunikation verloren geht – oder bei der Suche nach einer Wahrhaftigkeit der Geschichte außerhalb der Subjektivität (S. 271).

Aber das Beste an diesem Meta-Roman ist, dass er sich vergnüglich liest. Humorvoll und pointenreich unterhält Calvino den Leser (und den ‚Leser‘). Schon eingangs ist die Klassifikation der Bücher, „Die Du Schon Seit Langem Mal Lesen Wolltest“ gegenüber den Büchern, „Von Deren Lektüre Du Absehen Kannst“ oder denen, „Die Du Irgendwann Mal Zu Lesen Gedenkst Aber Vorher Mußt Du Noch Andere Lesen“ und viele mehr (S. 9). Da fühlt man sich als Leser gleich ertappt.

Calvinos „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“ gehört nicht in die Kategorie Bücher „Die Du Bestimmt Gern Lesen Würdest Wenn Du Mehrere Leben Hättest Aber Leider Sind Deine Tage Eben Was Sie Sind“. Vielmehr empfehle ich, das Buch unbedingt aus dem Regal der Bücher „Die Du Nicht Gelesen Hast“ herauszuholen, selbst wenn das Wiederholungspiel abbrechender Romaneinfälle im Seriellen ein wenig verliert.

Du beendest gerade die Leseempfehlung zu Italo Calvinos „Wenn ein Reisender in einer Winternacht.“

Veröffentlicht am 19.10.2018

Der Gott der Barbaren ist der Gott des Krieges

Gott der Barbaren
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„Gott der Barbaren“ von Stefan Thome wurde im letzten Literarischen Quartett von der Frankfurter Buchmesse besprochen und als schwieriger Text und anspruchsvolle Lektüre vorgestellt. Das hat mich ehrlich ...

„Gott der Barbaren“ von Stefan Thome wurde im letzten Literarischen Quartett von der Frankfurter Buchmesse besprochen und als schwieriger Text und anspruchsvolle Lektüre vorgestellt. Das hat mich ehrlich gewundert, denn ich fand die Lektüre dieses dicken Wälzers ausgesprochen unterhaltsam, geradezu schmökerhaft.

Natürlich steckt viel Anspruch drin: mehr als 700 Seiten, zig chinesische Namen mit X und Y, fingierte historische Quellen zwischen den Kapiteln und nicht zuletzt das Thema, nämlich ein religiös motivierter Bürgerkrieg in China an der Schwelle zur Moderne und der „Clash of Zivilisations“ zwischen dem chinesischen Kaiserreich und den europäischen Mächten unter der Führung des Britischen Königreichs.

Das ist schon ein Berg, aber diesen zu erklimmen war für mich genauso anstrengend und gleichzeitig vergnüglich wie die abenteuerliche Besteigung eines Voralpengipfels: Macht man nicht alle Tage, ist auch schweißtreibend, aber bringt einen nicht an die Grenze zur Überforderung.

Was die Namen betrifft: Die Namensvielfalt schwindet nach den ersten Kapiteln rasch dahin, weil eta die Hälfte der Personen aus dem Namensregister bis dahin das Zeitliche segnet.

Gefallen hat mir der dreifache Blickwinkel: Einmal erlebt der Leser das Geschehen aus der Sicht des britischen Campagnenführers Lord Elgin, zum zweiten aus dem Blickwinkel des kaiserlich-chinesischen Heerführers Zeng Guofan und zum dritten in Gestalt des geflüchteten deutschen Ex-Revolutionärs Philipp Johann Neukamp, der als Missionar kläglich scheitert.

Dass die Kritik den Roman als so überladen, überfrachtet, überambitioniert und dergleichen findet, liegt meines Erachtens darin, dass die Kritiker dem Text mehr Fracht aufladen wollen, als die Geschichte selbst tragen will. Stefan Thome ist Sinologe und erzählt bildreich von einem der schlimmsten Bürgerkriege, den die Welt je gesehen hat, auch um davor zu warnen, wie schnell der Gott des Krieges alle zu Barbaren werden lässt.

Mehr als dies – und dass mir die Lektüre sehr gefallen hat, braucht es nicht für meine 4,5 Sterne.